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Die marktradikale Ampel. Zur Kritik der fiskalpolitischen Pläne der neuen Regierung

Von Thomas Sablowski, Eva Völpel und Moritz Warnke

Eine Umverteilung zugunsten der Lohnabhängigen wird es nicht geben, stattdessen “Superabschreibungen“ für Unternehmen. Die Schuldenbremse bleibt erhalten, auch wenn sie für Investitionen in Klimaschutz und Infrastruktur umgangen werden kann – in welcher Höhe, bleibt jedoch unklar. 

Die FDP hatte vor den Wahlen klare Bedingungen für eine Regierungsbeteiligung formuliert: keine Steuererhöhungen und die Schuldenbremse muss in Kraft bleiben. Damit hat sie erfolgreich die Leitplanken für die Finanzpolitik der Ampelkoalition gesetzt. Bereits Ende Oktober verkündete Olaf Scholz bei Anne Will, sekundiert von Robert Habeck, dass die im Wahlkampf in Aussicht gestellte Entlastung von kleinen Einkommen doch nicht [1] stattfinden werde, da sowohl auf eine stärkere Besteuerung von hohen Einkommen als auch auf die Wiedererhebung der Vermögenssteuer auf Wunsch der FDP verzichtet werden müsse. Damit fehle die nötige Gegenfinanzierung. Eine Umverteilung zugunsten kleiner Einkommen war damit ausgeschlossen. Mit Spannung konnte man dann erwarten, wie die Ampel das Problem lösen würde, einerseits die Schuldenbremse unangetastet zu lassen und andererseits die enormen Investitionen zu stemmen, die seit langem überfällig sind. Zur Einordnung: Der Deutsche Gewerkschaftsbund und der Bundesverband der deutschen Industrie hatten 2019 in einer viel beachteten Allianz [2] vorgeschlagen, in zehn Jahren bis 2029 457 Mrd. Euro zu investieren – also rund 45 Mrd. pro Jahr. Diese Rechnung stützte sich auf die wissenschaftliche Expertise des gewerkschaftsnahen Instituts für Makroökonomie und Konjunkturforschung und auf die des unternehmernahen Instituts der deutschen Wirtschaft. Auch Annalena Baerbock hatte zuletzt immer wieder betont, man benötige rund 50 Milliarden Euro pro Jahr an zusätzlichen Investitionen.

Die Lösung der Ampel: die Schuldenbremse bleibt in Kraft, wird aber umgangen. Hierzu werden die Instrumente benannt, die Höhe der Investitionen aber nicht festgelegt. Man liest also in diesem Koalitionsvertrag auf vielen, vielen Seiten über die Notwendigkeit von vermehrten Investitionen in Klimaschutz, Digitalisierung und andere Dinge, eine Festlegung, wie hoch die staatlichen Investitionen sein sollen, fehlt jedoch. Genau das bedeutet jedoch noch größere Macht für die kleinste Partei, die FDP. Sie besetzt das Finanzministerium, kann dadurch in allen Fachressorts mitreden und bei jedem sozialen oder ökologischen Vorhaben der beiden anderen Parteien auf die Bremse treten. Oder anders gesagt: Christian Lindner bekommt viel Gewicht bei allen entscheidenden Fragen der nächsten vier Jahre.

Geht es nach der FDP, soll vor allem privates Kapital, auch aus Lebensversicherungen und Pensionskassen, für Investitionen mobilisiert werden. Der Staat solle solche privaten Initiativen lediglich absichern. Entsprechende Formulierungen finden sich auch im Koalitionsvertrag. Dazu passt auch, dass für einzelne Projekte und Beschaffungen Öffentlich-Private Partnerschaften anvisiert werden.

Umgehung der Schuldenbremse

Mit unterschiedlichen Instrumenten will die Ampel die Schuldenbremse umgehen.

Erstens sollen öffentliche Banken wie die Kreditanstalt für Wiederaufbau (KfW) oder die Europäische Investitionsbank (EIB) genutzt werden, um kreditfinanzierte Investitionen zu organisieren. Die KfW soll als „Innovations- und Investitionsagentur“ wirken und Investitionen von Unternehmen in neue Technologien und Klimaschutzmaßnahmen ebenso fördern wie die Hochwasser- und Starkregenvorsorge privater Haushalte, das altersgerechte Wohnen, den Barriereabbau oder die energetische Sanierung von Gebäuden. Sie kann sich an den internationalen Finanzmärkten zu zinsgünstigen Konditionen Geld verschaffen, weil sie als staatseigene Bank Anleihen mit der Bestnote Triple A ausgeben kann. Im vergangenen Jahr lag ihr Anleihevolumen [3] bei rund 65 Milliarden Euro, für 2021 rechnete die KfW mit 70-80 Milliarden Euro. Dieser Wert könnte sich nun deutlich erhöhen. Die KfW-Anleihen zählen nicht als Staatsschulden, so dass auf diesem Weg Mittel für Investitionen bereitgestellt und die Bedingungen der Schuldenbremse sowie die EU-Fiskalregeln formell eingehalten werden können.

Zweitens könnte sich die Koalition im Jahr 2022 sozusagen „auf Vorrat“ für die gesamte Legislatur verschulden, da die Schuldenbremse wegen der Pandemie bis Anfang 2023 ausgesetzt ist. Für 2022 hatte die alte Regierung neue Kredite in Höhe von 100 Milliarden Euro eingeplant. Einige Ökonomen, etwa DIW-Chef Marcel Fratzscher und ifo-Chef Clemens Fuest [4], haben dafür plädiert, 2022 eine kreditfinanzierte Rücklage in Höhe von 500 Milliarden Euro zu bilden, um damit – streng kontrolliert – die notwendigen Investitionen der kommenden Jahre in Klimaschutz und Digitalisierung zu stemmen. Parteichef Lindner [5] hatte dieses Vorgehen während der Sondierungen im ZDF noch als „nicht seriös“ bezeichnet. Auch die Union oder marktliberal orientierte Medienvertreter*innen machten Stimmung gegen solch ein angeblich grundgesetzwidriges Vorhaben. Sie beziehen sich dabei unter anderem auf ein aktuelles Urteil des Hessischen Staatsgerichtshofs [6], demzufolge das im hessischen Landeshaushalt gebildete „Corona-Sondervermögen“ verfassungswidrig ist. Allerdings zeigt der Staatsrechtler Joachim Wieland mit Blick auf das Urteil Wege auf, wie eine Rücklagenbildung durchaus verfassungskonform ausgestaltet [7] werden könnte. Wie immer sind solche Maßnahmen politisch und damit auch rechtlich umkämpft. Im Koalitionsvertrag ist diese Möglichkeit nun, wenn auch etwas verklausuliert, unter dem Stichwort “Sondervermögen” festgehalten . Demnach soll die Haushaltsbilanzierung  so angepasst werden, dass eine spätere Entnahme aus einer  2022 gebildeten Rücklage mit der Schuldenbremse kompatibel wäre. Kurz gesagt sollen die dazu nötigen Buchvorgänge nur im kommenden Jahr anfallen, wenn die Schuldenbremse noch notlagenbedingt ausgesetzt ist. Angesichts der Tatsache, dass die Ampel an der Schuldenbremse festhält, wäre die Bildung von großzügigen Rücklagen der beste aller schlechten Wege, um große Kreditsummen für überfällige Investitionen zu mobilisieren, denn er ist transparenter und hat weniger mögliche Nebenwirkungen, von denen weiter unten noch die Rede ist.

Das dritte Instrument, um die Schuldenbremse zu umgehen, bieten öffentliche Unternehmen oder Infrastrukturgesellschaften. Auch hier gilt wie bei der KfW: Die Kreditaufnahme öffentlicher Unternehmen wird nicht als Staatsverschuldung im Sinne der Schuldenbremse und des Stabilitätspaktes der EU gewertet. Diese Möglichkeit zur Umgehung der Schuldenbremse wurde auf Landesebene bereits durch die rot-rot-grüne Koalition in Berlin genutzt. Sie wollte in die landeseigene Infrastruktur investieren, konnte aber die Einnahmesituation des Bundeslandes nicht nennenswert verbessern, da die Steuergesetzgebung im Wesentlichen Sache des Bundes ist. Eigenkapitalzuführungen an öffentliche Unternehmen tauchen im Staatshaushalt zwar einerseits als Ausgaben auf, andererseits in gleichem Umfang aber auch als zugewonnener Sachwert. Daher ist eine Eigenkapitalzuführung an öffentliche Unternehmen in der Haushaltsbilanz neutral. Mit mehr Eigenkapital können die Unternehmen dann mehr Schulden aufnehmen. Auf Bundesebene könnten also Investitionen im Bereich Mobilität von der Deutschen Bahn theoretisch in gigantischem Ausmaß vorgenommen werden, ohne dass es Probleme mit der Schuldenbremse gibt. Im Koalitionsvertrag werden konkret die Deutsche Bahn und die Bundesanstalt für Immobilienaufgaben (BImA) genannt – letztere soll verstärkt Wohnungsbau betreiben.

Jenseits der Umgehung der Schuldenbremse hält sich die Ampel weitere Möglichkeiten offen, Mittel für Investitionen zu mobilisieren. So will sie Gelder, die noch nicht ausgegeben wurden, sowie schon genehmigte Kreditermächtigungen für 2021 per Nachtragshaushalt in den bereits existierenden Energie- und Klimafonds überführen und diesen zu einem Klima- und Transformationsfonds umbauen. Dieser wird beim Klima- und Wirtschaftsministerium unter Führung von Robert Habeck angesiedelt werden. Die Kreditermächtigungen für 2021 beliefen sich auf 240 Milliarden Euro, davon werden nach jetzigem Stand 150 Milliarden Euro in Anspruch genommen. Es könnten also bis zu 90 Milliarden Euro an den Klima- und Transformationsfonds fließen.[1] [8] Des Weiteren sollen die Berechnungsgrundlagen zur konjunktur- und nicht notlagenbedingten Nettokreditaufnahme der Schuldenbremse evaluiert und verändert werden. Auch das könnte – in fernerer Zukunft – eine etwas höhere Kreditaufnahme ermöglichen.[2] [9] Und schließlich will die Koalition absehbar harte Ausgabenkürzungen zeitlich etwas strecken, indem die Tilgungsfristen für die bisher aufgenommenen Coronakredite des Bundes an die Fristen der EU-Coronahilfen angepasst und damit bis in das Jahr 2058 (statt 2042) verlängert werden.

Probleme bei der Umgehung der Schuldenbremse

Dass sich die Verfechter der Schuldenbremse in der Ampel durchsetzen konnten, wiegt schwer. Versuche, die Schuldenbremse durch eine Verlagerung von Investitionen auf öffentliche Unternehmen zu umgehen, bergen drei Probleme in sich. Erstens müssen etwas höhere Zinssätze von den öffentlichen Unternehmen auf die Kredite gezahlt werden, als wenn diese Investitionen unmittelbar im Bundeshaushalt abgebildet würden. Zweitens gibt es erheblich weniger demokratische Kontrolle, denn die parlamentarischen Kontrollrechte greifen nicht, wenn es sich um privatrechtlich gefasste Institutionen handelt (etwa Aktiengesellschaften wie im Falle der Bahn). Daher wäre zu fordern, dass diese als Anstalten öffentlichen Rechts durch ein entsprechendes Gesetz so organisiert werden, dass ausreichende öffentliche, demokratische Kontroll- und Steuerungsmöglichkeiten und Transparenzpflichten auch tatsächlich existieren. Drittens ist mit den Infrastrukturgesellschaften schon viel Vorarbeit geleistet, um später ausgewählte Bereiche zu privatisieren, sollte es politische Mehrheiten dafür geben. In diesem Zusammenhang muss erwähnt werden, dass die Ampelkoalition eine Vermögenserfassung des Bundes einführen will, vorgeblich um Investitionen und Instandhaltungen besser planen zu können. Das wäre an sich sinnvoll, allerdings erleichtert es spätere Privatisierungen. Grundsätzlich sollten Privatisierungsverbote für öffentliche Gesellschaften gesetzlich festgeschrieben werden. Ein Beispiel dafür gibt es bereits mit dem Privatisierungsverbot für die 2018 gegründete Autobahn GmbH des Bundes, auch wenn dieses offenbar nicht an allen Stellen wasserdicht ist.

Auf Landesebene war diese Umgehung der Schuldenbremse in den letzten Jahren das kleinere Übel, um Teile der Infrastruktur nicht verfallen zu lassen. Insofern war es richtig, dass die LINKE auf Landesebene diesen Weg beschritten hat. Nun verändert sich aber die Situation. Durch die neue Regierung im Bund wird die Umgehung der Schuldenbremse „normalisiert“. Entsprechend wird es deutlich wichtiger, auf ihre Nachteile aufmerksam zu machen, um die Schuldenbremse selbst als unsinnige Regel zu Fall zu bringen.

Umverteilung zugunsten der Unternehmen

Statt einer Umverteilung nach unten plant die Ampel das Gegenteil, etwa durch höhere Abschreibungen für die Wohnungswirtschaft bei Neubauprojekten und „Superabschreibungen“ für Unternehmen, die in Klimaschutz und Digitalisierung investieren. Sie kommt damit einer Forderung der Wirtschaftsverbände entgegen. Wenn die Unternehmen einen größeren Teil ihrer Einnahmen für Abschreibungen verwenden dürfen, sinken entsprechend ihre zu versteuernden Gewinne. In welcher Höhe, hängt von der konkreten Ausgestaltung ab, die noch offen ist. Das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung [10] hat berechnet, dass der Staat durch eine Verkürzung der Abschreibungsdauer von zehn auf vier Jahre kurz- bis mittelfristig 40 Milliarden Euro weniger Steuern einnehmen würde. Die Forscher*innen plädierten im Gegenzug für eine Erhöhung der Körperschafts- und Gewerbesteuer. Dies wiederum hatte die Ampel auf Druck der FDP im Sondierungspapier ausgeschlossen. Im Koalitionsvertrag findet sich eine solche Einschränkung nicht wieder, jedoch sind Steuererhöhungen kaum zu erwarten. Stattdessen winken den Unternehmen weitere Erleichterungen: Sie können ihre Steuerzahlungen bis Ende 2023 auch durch die im Zuge der Pandemie „erweiterte Verlustverrechnung“ bzw. die Ausweitung des Verlustvortrags reduzieren. Die Abschreibungen gehen auch zu Lasten von Ländern und Kommunen, weil durch die verringerten Gewinne weniger Gewerbesteuer anfallen wird. Zudem deutet der Koalitionsvertrag an, dass Personengesellschaften, und damit vor allem mittelständische Unternehmen, unter dem Stichwort “steuerliches Optionsmodell” auf weitere Steuererleichterungen hoffen dürften.[3] [11]  Offen bleibt hingegen, wie die Regierung ihre an etlichen Stellen angekündigte härtere Gangart mit Blick auf Steuerschlupflöcher und Steuerhinterziehung konkret umsetzen wird. Da ist häufig viel versprochen und wenig getan worden. Zumindest sollen Schlupflöcher beim Immobilienerwerb von Konzernen (Share Deals) geschlossen werden.

Unklare Entlastung der Kommunen

Geschätzt ein Viertel der Bevölkerung Deutschlands lebt in einer Kommune, die aufgrund ihrer prekären Finanzlage unter einem Haushaltssicherungskonzept arbeitet, also kaum noch Handlungsspielräume hat (so genannte Pleitekommunen). Viele von ihnen können ihren Aufgaben kaum mehr nachkommen. Weil sie selbst kaum Möglichkeiten besitzen, ihre Einnahmesituation zu verbessern, wird seit langem ein Schuldenschnitt gefordert, unter anderem vom Deutschen Städtetag. Der kommunale Investitionsstau belief sich 2020 insgesamt auf 149 Milliarden Euro. Und der Druck steigt: Trotz der etwas günstiger ausgefallenen Steuerschätzung aus diesem November müssen die Kommunen bis 2024 mit fast 20 Milliarden Euro weniger an Steuern auskommen [12], als vor Ausbruch der Pandemie erwartet. Und die derzeit weiterhin rasant steigenden Infektionszahlen verschlechtern bereits die Konjunkturaussichten und damit die zu erwartenden Steuereinnahmen. Die Koalition bleibt hier vage. Sie stellt zwar „Kommunen mit hohen Altschulden, die sich nicht mehr aus eigener Kraft aus dieser Situation befreien können“, eine Entlastung mittels einer „gemeinsamen, einmaligen Kraftanstrengung des Bundes und der Länder“ in Aussicht. Gespräche hierzu sollen im nächsten Jahr beginnen. Aber es ist davon auszugehen, dass die Länder einer Beteiligung an den Kosten wie in der Vergangenheit aufgrund ihrer unterschiedlichen Finanzsituation nicht zustimmen werden. Zudem bedürfte es nicht nur einer einmaligen Entlastung, sondern einer strukturellen Neuordnung des Steuersystems zugunsten der Kommunen. Davon ist die Ampelkoalition jedoch weit entfernt.

Kaum Abbau von klimaschädlichen Subventionen

Groß fielen die Ankündigungen während der Koalitionsverhandlungen aus, klimaschädliche Subventionen deutlich zurückzufahren und die eingesparten Gelder für notwendige Investitionen in Klimaschutz und Infrastruktur einzusetzen. Auch das Bundesumweltamt hatte dies gefordert und die möglichen Einsparungen bzw. Umschichtungen allein im Verkehrssektor auf etwas über 30 Milliarden Euro jährlich geschätzt. Doch außer einem allgemeinen, unverbindlichen Bekenntnis gibt der Koalitionsvertrag dazu nicht viel her. So will die Koalition etwa die Diesel-Subventionen nur „überprüfen“. Die steuerliche Begünstigung von Dienstwagen bleibt in modifizierter Form bestehen. Auch die angekündigten Maßnahmen im nationalen und europäischen Luftverkehr fallen mehr als zahm aus. Dass die Autoliebhaber-Partei FDP das Verkehrsministerium übernimmt, wird sicher nicht dazu führen, dass der Koalitionsvertrag an dieser Stelle forsch ausgelegt wird.

Europäische Illusionen

Während die Europapolitik im letzten Koalitionsvertrag der Großen Koalition an erster Stelle stand, ist sie bei der Ampelkoalition weit nach hinten gerutscht. Wie an der Schuldenbremse, so will die Ampelkoalition auch am Stabilitäts- und Wachstumspakt der EU festhalten. Demnach müsste die Staatsverschuldung in allen EU-Staaten auf 60 Prozent ihres Bruttoinlandsprodukts zurückgeführt werden. Das ist ein vollkommen illusionäres Ziel. In einer Reihe von Ländern ist die Staatsverschuldung doppelt oder dreimal so hoch wie nach dem Stabilitäts- und Wachstumspakt erlaubt. Tatsächlich steigt die Staatsverschuldung mit jeder neuen Krise in den meisten EU-Staaten auf ein immer höheres Niveau. Selbst Ökonom*innen beim Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM) gehen davon aus, dass die EU-Fiskalregeln nicht mehr einzuhalten sind und gelockert werden müssen (vgl. Francová u.a. 2021). Davon will die kommende Bundesregierung anscheinend nichts wissen. Sie will die Wirtschafts- und Währungsunion stärken und vertiefen, sagt aber nicht wie. Das infolge der Corona-Krise verabschiedete Programm Next Generation EU, mit dem Schulden auf der Ebene der EU in großem Umfang  vergemeinschaftet wurden, sieht die Ampelkoalition ausdrücklich als „zeitlich und in der Höhe begrenztes Instrument“. Damit positioniert sie sich wie auch die früheren Bundesregierungen gegen eine dauerhafte Kreditschöpfung durch die Europäische Kommission bzw. gegen Eurobonds. Immerhin will die Ampelkoalition vermeiden, dass die Tilgung der Kredite des Next Generation EU-Programms zu Kürzungen bei EU-Programmen führt. Dies könnte bedeuten, dass der EU-Haushalt entsprechend ausgeweitet werden muss und die Europäische Kommission mehr Eigenmittel bekommt. Wie in anderen Bereichen bleibt der Koalitionsvertrag aber auch hier vage und verklausuliert.

Aufgaben der Linken

Die Pläne der Ampel machen deutlich: Eine Umverteilung von oben nach unten wird unter der neuen Regierung nicht stattfinden. De facto soll die breite Masse der Lohnabhängigen die Modernisierung des Produktionsapparats bezahlen, damit die deutsche Volkswirtschaft in der verschärften Weltmarktkonkurrenz gegenüber den Produzenten in Ländern wie den USA, China und Japan bestehen kann.

Angesichts dessen sollte die gesellschaftliche Linke weiterhin für eine Umverteilung von oben nach unten kämpfen. Es gilt, die Kapitalisten beim sozial-ökologischen Umbau durch ordnungsrechtliche Vorgaben zur Drosselung des CO2-Ausstosses und des Ressourcenverbrauchs in die Pflicht zu nehmen. Die daraus entstehenden Kosten müssen aus den Kapitaleinkommen bezahlt werden. Ordnungsrechtliche Vorgaben sind auch deshalb dringend notwendig, weil eine erste Studie [13] bereits zeigt, dass die neue Regierung entgegen ihrer Ankündigungen mit ihren marktbasierten Ansätzen das 1,5-Grad-Ziel nicht erreichen wird.

Auch geht es darum, Forderungen etwa nach einer Millionärssteuer zu verstärken, und weitere Kosten des anstehenden gesellschaftlichen Umbaus anders zu verteilen, als bisher vorgesehen. Das betrifft sehr unterschiedliche Felder, etwa Belastungen für Mieter*innen bei der energetischen Gebäudesanierung, Belastungen durch höhere Energie- oder Treibstoffkosten, Kompensationen, wenn Arbeitsplätze aufgrund von Umbrüchen in der Produktion wegfallen oder Dequalifizierung droht, aber auch die absehbare Umverteilung zulasten niedriger Einkommen, wenn die angedrohte stärkere Kapitalmarktfinanzierung des Rentensystems kommt. Wenn überhaupt, könnte nur durch die Verbindung dieser Einzelthemen ein hegemoniefähiges Projekt entstehen. Fiskalpolitische Themen an sich sind meist zu abstrakt, um mobilisieren zu können. Umso wichtiger ist es, diese in Kampagnen, die sich auf konkretere Politikfelder beziehen, etwa in der Wohnungspolitik, in der Pflege oder allgemein im Bereich der sozialen Infrastrukturen, mitzubedenken. Die Frage der Finanzierung und Verteilung müsste in solchen Kampagnen und Auseinandersetzungen eine größere Rolle spielen. Das reicht aber nicht. Im Zusammenspiel mit Gewerkschaften, Sozialverbänden, Umwelt- und anderen Bewegungen müsste es gelingen, aus den unterschiedlichen Feldern heraus immer wieder auch allgemeinere fiskalpolitische Forderungen zu entwickeln und die Bündnisarbeit dazu zu vertiefen. Das wird eine Herausforderung, zeigt sich doch bereits, dass sich bei der Einschätzung der Ampelkoalition neue Differenzen im progressiven Feld auftun: für manche Teile der Mosaiklinken wiegen die gesellschaftspolitischen ‚Fortschritte’ der neuen Regierung mehr als der Stillstand bzw. die Rückschritte bei der Steuerpolitik oder auch neue Probleme mit Blick auf die angekündigten Finanzierungsmodelle. Hier müsste es auch Aufgabe der LINKEN sein, gezielte Aufklärung über die zahlreichen fundamentalen Schwachstellen des Regierungsprojekts zu betreiben ohne die tatsächlichen Errungenschaften, die für viele Bevölkerungsgruppen entstehen, (erneut) geringzuschätzen. Das ist eine wichtige Herausforderung verbindender Klassenpolitik.

Des Weiteren sollte die LINKE sich abzeichnende Risse innerhalb des Koalitionskonsenses gründlich im Blick behalten: Die fehlenden Festlegungen in der Finanz- und Haushaltspolitik werden in absehbarer Zeit zu Streit in der Koalition führen. Nicht umsonst hatte FDP-Chef Christian Lindner noch vor der Bundestagswahl angekündigt, ein Bundesfinanzminister müsse künftig öfter „Nein“ sagen. Vor diesem Hintergrund – und den erwähnten Nachteilen bei den geplanten Umgehungen der Schuldenbremse – gilt weiterhin, dass das disziplinarische Regime der Schuldenbremse und des Europäischen Stabilitäts- und Wachstumspaktes beseitigt werden muss. Die Linke kann sich nicht damit begnügen, dass nun über Umwege irgendwie Milliarden bereit gestellt werden, und die Schuldenbremse als Druckmittel für künftige Ausgabenkürzungen, Privatisierungen oder das Mobilisieren von privatem Kapital mit entsprechenden Renditeversprechen à la FDP bestehen bleibt.

Mit der Ausgestaltung von Investitionsprojekten zum klimagerechten Umbau von Wirtschaft und Gesellschaft ist schließlich die Eigentumsfrage verbunden. Bei der Verhinderung von Privatisierungen oder beim Kampf um eine bessere demokratische Kontrolle öffentlicher Unternehmen wären vermutlich Bündnisse der Linken mit Gewerkschaften, Sozial- und Umweltverbänden sowie Bewegungen wie Fridays for future möglich. Wenn Unternehmen nicht in der Lage sind, sich an politisch gesetzte Regeln zu halten und die notwendigen Investitionen selbst zu finanzieren und wenn der Staat einspringt, so muss sich die LINKE dafür einsetzen, diese Unternehmen in öffentliches Eigentum zu überführen. Auch hier müsste in der entsprechenden Bündnisarbeit die begonnene und durchaus dynamische Debatte um Vergesellschaftung und die Schaffung eines gemeinwirtschaftlichen Sektors weitergerieben werden.

Literatur

Olga Francová u.a., 2021: EU fiscal rules: reform considerations. ESM discussion paper series, Nr. 17, Oktober 2021.

Anmerkungen

[1] [14] Vgl. Albert Funk: Bündnis der Nebenetats, in: Der Tagesspiegel, 26.11.2021, S. 3.

[2] [15] Das Stichwort zu diesem komplizierten Vorgang lautet Konjunkturbereinigungsverfahren. Kritiker*innen monieren schon länger, dass darin konjunkturelle Krisen und Aufschwünge nicht angemessen erfasst werden, so dass unter anderem in einer Stagnation oder Rezession der Spielraum für neue Kredite zu niedrig ausfällt.

[3] [16] Laut Netzwerk Steuergerechtigkeit bedeutet schon die bisherige Praxis ein Steuergeschenk für Unternehmen in Höhe von 700 Millionen Euro. www.netzwerk-steuergerechtigkeit.de/koalitionsvertrag2021/?cn-reloaded=1 [17]