| Die Linke: Ungenutzte Potenziale

Juni 2011  Druckansicht
Von Cornelia Hildebrandt

Die ersten Wahlergebnisse im Jahr 2011 deuten darauf hin, dass die Aufstiegsphase der Partei Die Linke vorbei ist. Die Konsolidierung in der Krisenzeit seit 2008/9 hat sich in keine neue Dynamik umgesetzt. Wie ist das zu erklären?

Im Verlauf des letzten Jahrzehnts – verstärkt seit der Agenda 2010 – steigt die Arbeitslosigkeit, Prekarität, Leiharbeit und Umverteilung nach oben nehmen zu. Gleichzeitig steigen die Kosten: seit 2005 in Form von Mehrwertsteuer- und anderen Steuererhöhungen, Praxisgebühren und Medikamentenzuzahlungen, Erhöhung von Beiträgen für Kranken- und Pflegeversicherungen, für Strom, Gas und Benzin, für Lebensmittel. In der Krise wurde eine Explosion von Arbeitslosigkeit durch die massive Ausweitung der Kurzarbeit verhindert: Die Zahl der Leiharbeiter stieg von 321000 im Jahr 2003 auf über 700000 2007. Sie sank zwischen 2008 und 2009 und stieg im November 2010 auf über 900000. Die Reallohnentwicklung ging zwischen 2000 und 2010, v.a. zwischen 2004 bis 2009, um vier Prozent zurück. Seit 2005 liegt die Armutsgefährdungsquote aber stabil bei ca. 14 Prozent1. Die Einkommensungleichheit setzte sich ungebrochen fort, doch die Tariflöhne stiegen 2010 erstmals wieder um 1,6 Prozent gegenüber dem Vorjahr, ebenso der Reallohnindex auf 1,5 Prozent – Zahlen, die offenbar beruhigen. 66 Prozent der Bevölkerung betrachten 2011 die allgemeine wirtschaftliche Lage und 75 Prozent die persönliche Situation als gut oder sehr gut. Nur noch 53 Prozent der Deutschen meinen, dass es im Lande ungerecht zuginge – 2009 waren es noch 62 Prozent 2. Es erscheint paradox: Die dramatischen Einbrüche vollziehen sich in den Zeiten der »Nichtkrise«, während in den finanzmarktgetriebenen Krisenzeiten 2008 und 2009 soziale Stabilisierung möglich scheint und die Verhinderung sozialer Zuspitzungen erfahrbar wird.

Die beschlossenen Sparprogramme und die Auswirkungen der Schuldenbremse wirken in Deutschland nicht unmittelbar, sondern zeitverzögert zwischen 2011 und 2014. Anders als in Griechenland, Spanien, Portugal, Irland usw. wurde hier 2010 gegen Rechtsextremismus, die Atompolitik der Bundesregierung, Castortransporte und Großprojekte protestiert. Proteste entzündeten sich kaum an der sozialen Frage. Sie richteten sich gegen den konservativ-liberalen Machtblock und orientierten auf moderate Alternativen als Weg aus der Krise. Die Grünen und ihr Projekt eines ökologisch modernisierten Kapitalismus kamen dem am nächsten (verstärkt durch Fukushima). Ihr Green New Deal stützt sich auf grünes Klientel (15 bis 30 Prozent) und ihr libertäres Potenzial. Den Richtungswechsel zu einer ökologischen Ausrichtung der Wirtschaft und eine nachhaltigen Energiewende traut man am ehesten den Grünen zu, trotz des rot-grünen »Atomkompromisses«. Der Machtverlust des marktradikalen Flügels des schwarzgelben Machtblocks (vor allem der FDP) drohte in einen nachhaltigen Zerfall der Hegemonie des bürgerlichen Lagers überzugehen. Dagegen versuchte die Regierung mit der »Wende zur Energiewende« die Option für ein schwarzgrünes Bündnis zu erschließen und sich damit eine dominante Position auf dem Kampffeld des Übergangs zu einem post-nuklearfossilen Akkumulationsmodell zu sichern. Ein solcher Entwicklungspfad ist keineswegs identisch mit einem postneoliberalen Krisenausweg oder einer »große Transformation« (FAZ vom 3. Mai 2011) und einem stofflich revolutionierten Akkumulationsmodell, das nicht mehr von den Finanzmärkten getrieben würde. Ob ein Green New Deal mit einer postneoliberalen Variante des Kapitalismus verbunden wird – oder mit einer liberalen oder autoritären –, ist offen. Das umreißt zugleich das Kampffeld von Linken: zu ihrem Kernprojekt eines sozialökologischen Umbaus müssen gleiche und freie Zugänge zu grundlegenden Ressourcen gehören: selbstbestimmte Lebenszeit, Arbeit, soziale Sicherheit, Bildung und gesunde Umwelt.

Konsequenzen für Die Linke?

Funktion und Image einer Partei sind nicht beliebig austauschbar. Die Linke verstand sich von Anbeginn als Partei sozialer Gerechtigkeit. Das muss sie bleiben – und ihre Profilierung einer ökologisch-sozialistischen Transformationspolitik entwickeln. Bereits in den ­»programmatischen Eckpunkten« 2007 forderte sie den ökologischen Umbau von Wirtschaft und Lebensweisen, eine Wirtschaftsdemokratie, die sich an wirtschaftlichen und ökologischen Kriterien misst. Soziale und ökologische Fragen wurden verbunden. Aber dieser Ansatz ist noch schwach. Er wurde zwar im Bundestagswahlprogramm 2009 mit der »Vielfachkrise« aufgegriffen. Im innerparteilichen Diskurs jedoch ist weitgehend von der Finanz- und Wirtschaftskrise die Rede. Klima-, Umwelt- und Energiekrise (und andere) werden mitunter genannt, insbesondere in den Strategiepapieren der Parteiführung von 2010 jedoch kaum bearbeitet. Wirtschaftsdemokratische Vorschläge sind ohne sozialökologischer Dimension aber nicht zukunftstauglich.

Die Wiederaneignung von Lebenszeit, von gesellschaftlichem Reichtum, öffentlichen Gütern wie auch Bildung, Kultur, Umwelt und des globalen öffentlichen Raumes werden kaum diskutiert. Die Debatten in Die Linke spiegeln nicht die Vielfalt von Alltagskulturen und Lebensweisen ihrer Mitglieder.

In den Wahlprogrammen einiger Landesparteien wird die Mehrdimensionalität der Krise stärker reflektiert. Das Bremer Wahlprogramm übersetzt die Krisendiskurse 2009 in landespolitische Fragestellungen eines radikal ökologischen Umbaus. Die Berliner verbinden Stadt- und klimapolitische Fragen und diskutieren den Aufbau kommunaler Stadtwerke, in Rheinland Pfalz fragt man nach den Zugängen zu grundlegenden Ressourcen wie Bildung und Umwelt. Die Linke BadenWürttemberg bearbeitet neben wirtschafts- und bildungspolitischen Fragen eine ganze Palette von Umweltfragen als Frage von Grundrechten, dem Auftrag öffentlicher Dienste, Gesundheit, Bildung. Die Energiefrage wird mit Eigentumsfragen verbunden. Doch nur ein Teil dieser Fragen kann landespolisch untersetzt werden. In Diskussionen auf Bundesebene scheinen soziale Gerechtigkeit und ökologische Fragen oftmals gegeneinander zu stehen. Verbunden mit dem Ausbleiben einer strategischen Diskussionen führt das Die Linke in eine Krise. Diese wird eher als machtpolitische Strömungsdiskurse bearbeitet – das erinnert an die Krise der PDS 2002/2003. Damals hatte die PDS den Einzug in den Bundestag verpasst, sie war programmatisch, strategisch und in Bezug auf ihr Führungspersonal in der Krise. In den Bundestagswahlkampf zog sie zerstritten, mit zwei konträren Strategien, und verlor. Handlungsfähig wurde sie erst, mit der Verabschiedung ihres Parteiprogramms Ende 2003 und dem Versuch, alternative Politik, Widerstands- und Gestaltungsansprüche der Partei in einem strategischen Dreieck zusammenzubringen. Sie war Teil der Hartz-IV-Proteste, gewann gesellschaftliche Akzeptanz und Stärke.

Aktuell liegt Die Linke in Umfragen deutlich unter den Ergebnissen der letzten Bundestagswahl. Von der der Schwäche der Sozialdemokratie profitiert sie kaum noch. Das hängt auch mit ihren Schwächen im Bereich der politischen Kultur, der Nutzung ihrer Potenziale zusammen, die sich in den Studien zu Wählerentscheidungen abzeichnen.

Die ungenutzten Potenziale der Partei

Die Linke erreicht mit ihren Forderungen vor allem Arbeiter, Arbeitslose, auch Angestellte, Rentner, zunehmend Selbständige. In den sozialen Selbstverortungen ihrer Mitglieder zählen sich 74 Prozent zu den unteren oder mittleren sozialen Schichten, lediglich sechs Prozent zu den oberen. 19 Prozent der Mitglieder sind Arbeiter, acht Prozent Arbeitslose; Die Linke ist die einzige Partei, in welcher der Anteil beider Gruppen steigt. Und doch wählten bei den Landtagswahlen in Baden-Württemberg 2011 doppelt so viele Erwerbslose die Grünen wie Die Linke.3

Die Linke ist stark, wo der Anteil an Arbeitslosen hoch ist und soziale Spannungen zum Alltag gehören. Sie erfährt Zuspruch in Innenstadtbezirken der Großstädte. Doch in den Bundestagswahlen nahm sie in ihren früheren »Hochburgen« der alten Bundesländer, den Universitätsstädten (z.B. Marburg) nur unterproportional zu.

Potenziale der Mitglieder, die im öffentlichen Dienst tätig sind, spielen kaum eine Rolle – im Unterschied zu anderen Linksparteien in Europa wie der SP in den Niederlanden oder der Sozialistischen Linkspartie Norwegens. Dies ist eine zentrale, unterbewertete strategische Ressource der Linken: eine Basis im öffentlichen Dienst zu verknüpfen mit einer offensiven und transformatorischen Politik der Stärkung des Öffentlichen.

Eine zweite liegt in ihrer Chance, libertäre und v.a. sich über kulturelle Selbstverständnisse positionierende Gruppen zu gewinnen, die für eine Verbindung der libertären und sozialen Linken stehen. Bei der Asylfrage, der Forderung nach einer im Grundgesetz verankerten Volksabstimmung oder die Forderung einer weniger strengen Regelung bei Schwangerschaftsabbrüchen z.B. beschreiben die Mitglieder von Die Linke sich in stärkerem Maße libertär als die Mitglieder der SPD. Dieses Potenzial wird in der Selbst- und Außenwahrnehmung der Partei oftmals übersehen und konnte bisher kaum Wirkungsmacht entfalten. Ähnliches gilt auch für die Wähler der Linken. Bei keiner anderen Partei gehört die Hilfe gegenüber sozial Benachteiligten in gleicher Weise zum Selbstverständnis. Gleichzeitig tolerieren ihre Wähler stärker als die anderer Parteien – mit Ausnahme der Grünen – Meinungen, denen sie nicht zustimmen können. Darüber hinaus sind den potenziellen Wählern der Partei die Entwicklung eigener Phantasie und Kreativität wichtig. Mit diesem Wählerpotenzial kann Die Linke kaum umgehen.

Die Mitglieder der Linken sind weniger in zivilgesellschaftlichen Organisationen verankert als ihre Wählerschaft. Sie sind kaum vertreten in Umweltverbänden, bei der freiwilligen Feuerwehr, Wohlfahrtsverbänden, Frauengruppen oder Jugendorganisationen. Auch ihre Mitwirkung in Bürgerinitiativen ist im Vergleich zu den Grünen schwächer. Stärker ist ihre Mitwirkung in sozialen Bewegungen. Die gewerkschaftliche Bindung ihrer Mitglieder ist ähnlich stark wie bei der SPD.

Eine dritte Ressource Der Linken ist, dass die Erwartungen der Mitglieder stärker als bei anderen Parteien mit der Verbesserung ihrer eigenen Lebenssituation verbunden sind. Es gilt also neben ihren klassischen Milieus auch linkslibertäre Wählerschaften anzusprechen, eine Politik des Öffentlichen und den Kurs einer innovativen Gestaltung der Parteiform zu verfolgen, der für die Anfangsphase der PDS charakteristisch war. Dann hat ein Mitte-untenBündnis eine Chance.

 

Anmerkungen

1 www.amtliche-sozialberichterstattung.de/Tabellen/ tabelleA12.html, 20.4.2011
2 www.infratest-dimap.de/de/umfragen-analysen/bundesweit/ard-deutschlandtrend/2011/april/
3 Zu diesen und folgenden Zahlen vgl. Klein, Markus und Tim Spier: Die Linke und ihre Mitglieder im Vergleich. Ergebnisse der deutschen Parteimitgliederstudie 2009, bisher unveröffentlichtes Vortragsmanuskript