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Die LINKE: Mehr als Arbeit und Sozialstaat!

Von Jan Schlemermeyer

Selbst linke Parteipolitik muss heute auf gesellschaftliche Veränderung statt auf staatliche Verwaltung setzen

Im Parteientwicklungspapier von Katja Kipping und Bernd Riexinger werden zur strategischen Neuausrichtung der LINKEN eine Menge richtiger Vorschläge gemacht und wichtige Ansatzpunkte benannt. Zusammen gefasst laufen diese auf das Konzept einer »verbindenden Partei« (Kipping/Riexinger 2013, 10) hinaus. Das meint, dass sich die Partei jenseits von traditionalistischen Alleinvertretungsansprüchen praktisch als ein Teil der Mosaiklinken begreift und inhaltlich für einen sozial-ökologischen Politikwechsel mit Transformationsperspektive einsteht. Damit unterscheidet sich diese Entwicklungsperspektive von allen – im Kontext der Partei leider immer noch oft als besonders links apostrophierten – romantischen Avantgardevorstellungen, die in sozialen Auseinandersetzungen »die politische Führung« (marx21-Netzwerk 2013) übernehmen wollen. Sie setzt sich aber auch wohltuend von neosozialdemokratischen Konzepten ab, die ihre Aufmerksamkeit vor allem der »Regierungsteilhabe« (Nitz/Liebich 2010) widmen. Zugleich bleiben die Transformationsperspektiven im Papier jedoch sowohl programmatisch wie in Bezug auf ihren praktischen Modus etwas farblos. Jenseits des allgemeinen Slogans vom »demokratischen Sozialismus« und den bekannten Vorschlägen für einen »Plan B«, der auf »öffentlicher Beschäftigung, Wirtschaftsdemokratie und Umverteilung« (Kipping/Riexinger 2013, 5) beruhen soll, scheint das Ziel offen. Diese strategische Unbestimmtheit kann man dabei kaum den AutorInnen ankreiden, schließlich hat aktuell weder die Partei, noch die gesellschaftliche Linke einen Masterplan zur gesellschaftlichen Veränderung – und wahrscheinlich ist das auch ganz gut so. Insofern spiegelt dieser Mangel des Papiers nur den Zustand der pluralen Linken wieder. Bei der Frage nach der langfristigen Perspektive handelt es sich gleichwohl nicht um eine intellektuelle Spielerei. Vielmehr stellt sie eine wesentliche Voraussetzung nachhaltigen strategischen Handelns dar, da sie über die politische Wahrnehmung von Chancen und Risiken entscheidet. An diesem Punkt bedarf es also der weiteren Diskussion und wenn möglich der Konkretisierung.

Zudem liegen vielversprechende Ansätze zu einer strategischen Rekonfiguration des Selbstverständnisses linker Parteien auf der Höhe des neoliberalen Kapitalismus bereits auf dem Tisch: In Bezug auf den Modus linker Politik ist das z.B. eine neue Konzeption der »Doppelstrategie« im Verhältnis von Partei und Bewegungen, die von einem strategischen Primat sozialer Bewegung ausgeht (Demokratie AG ISM 2013); programmatisch meint das die Neufassung linker Sozialpolitik als Bereitstellung einer »sozialen Infrastruktur« (AG links-netz 2013) auf der Grundlage von Gemeingütern (Commons) und jenseits der klassischen Erwerbsarbeitszentrierung. Um diese Ansätze wahrnehmen zu können, braucht es in der Partei aber eine genauere Debatte über die politischen Konsequenzen der aktuellen historischen Situation – und mithin eine Überwindung der nach wie vor weithin virulenten, fordistischen Konzeptionen linker Politik. Nur dann kann eine »linke Erzählung« skizziert werden, die auch in der fragmentierten, postfordistischen Gesellschaft wirkmächtig werden kann.

VERANKERN, VERBEITERN, VERBINDEN – VERÄNDERN?

Das Papier wirkt unentschieden – es changiert zwischen einer Transformationsperspektive auf Höhe des globalen Kapitalismus einerseits und traditionellen Vorstellungen linker Reformpolitik andererseits. Auf der einen Seite findet sich eine ganze Reihe von progressiven Vorschlägen, die das Freiheitsversprechen des Neoliberalismus kritisch gewendet aufgreifen. Das ist zum Beispiel die Betonung der Notwendigkeit einer Verankerung in sozialen Bewegungen und der Veränderung der Kräfteverhältnisse von Unten, sowie die klare Positionierung gegen eine Kultur der Angst und für Arbeitszeitverkürzung. Die Offenheit gegenüber Organizing-Methoden zur Organisationsentwicklung sowie der Vorschlag für eine transnationale Kampagne gegen Troikapolitik und nationalistische Europaskepsis weisen ebenfalls in diese Richtung. Auf der anderen Seite stehen all diese Vorschläge etwas unvermittelt neben einer deutlichen Überbetonung der Bedeutung der Gewerkschaften (Kipping/Riexinger 2013, 2) und dem inhaltlichen Fokus auf eine staatlich vermittelte Umverteilung des gesellschaftlichen Reichtums. Um Missverständnisse zu vermeiden: Für eine linke Partei sind die Gewerkschaften selbstverständlich ein zentraler Bezugspunkt – jedoch bei weitem nicht der einzige. Andere wichtige Bewegungen, die für eine Perspektive jenseits des erwerbsarbeitszentrierten Sozialstaates im nationalen Rahmen einstehen, kommen neben ihnen aber kaum vor. Das meint insbesondere die antirassistischen Kämpfe für globale Bewegungsfreiheit. Ähnliches gilt für die zentrale Bedeutung staatlicher Umverteilung im Papier. Eine emanzipatorische Transformation ist nicht ohne Umverteilung über Steuern vorstellbar. Allerdings kann sich linke (Partei-)Politik heute nicht darin erschöpfen, die Umverteilung von Oben nach Unten einfach wieder umzudrehen – wie es zumindest in der Außendarstellung der LINKEN bisher häufig erscheint. Dieser Fokus auf staatliche Umverteilung ist nicht nur mit dem Problem der neoliberalen Hegemonie auf medialer Ebene konfrontiert. Vielmehr sind es die aktuellen Bedingungen der intensivierten Konkurrenz auf dem kapitalistischen Weltmarkt, die den Versuchen einer Herstellung »sozialer Gerechtigkeit« mit den Mitteln des Staates absehbare Grenzen setzen. Selbst an der Regierung zu sein, bedeutet vor dem Hintergrund eines inzwischen sogar konstitutionell abgesicherten, »autoritären Wettbewerbsstaates« (Hirsch 2005) – Stichworte: Schuldenbremse und Europäischer Fiskalpakt – daher keineswegs auch die Macht zur Veränderung zu haben. Insofern bräuchte es dringend eine Veränderungsperspektive, die eine inhaltliche Orientierung jenseits der staats- und erwerbsarbeitszentrierten Konzepte des Fordismus bieten und auch einen praktischen Modus ihrer Umsetzung skizzieren kann. Die Situation der letzten Jahre, in denen eine sozial-ökologische Politik maßgeblich von der öffentlichen Hand erwartet wurde, hat linke Parteien europaweit auf eine defensive Positionierung »gegen Sozialabbau« festgelegt. Das hat sie in gewisser Weise tatsächlich zu wenig attraktiven »Jammerparteien« degradiert und den Veränderungsbegriff letztlich der politischen Rechten überlassen (Hardt/Negri 2013, 99).

Man gerät so in eine unangenehme Diskursposition – einerseits weil die alternativen Vorschläge linker Parteien unter den Bedingungen des globalen Kapitalismus langfristig nicht »finanzierbar« scheinen, andererseits durch die Kritik an einer paternalistischen Sozialstaatsbürokratie. Auch das klassische Normalarbeitsverhältnis erscheint vielen Menschen im Alter zwischen 20 und 40 heute aus guten Gründen eher als eine Drohung. Denn der Neoliberalismus ist nicht einfach das historische Ergebnis einer reaktionären Elitenverschwörung. Er ist vielmehr als Resultat der Inkorporierung von sozialen Kämpfen und Bedürfnissen in die Regulation einer neuen Stufe des kapitalistischen Verwertungsprozesses zu verstehen. Damit ging ein Versprechen kultureller Befreiung und sozialer Selbstermächtigung einher, das in der linken Fokussierung auf eine bessere öffentliche Verwaltung, »gute Arbeit« oder gar die Verteidigung des Nationalstaates kaum aufgehoben ist. Anstelle des »Plan B«, der wesentlich eine ökologisch wie kulturell modernisierte Version keynsianistischer Krisenlösungsversuche darstellt, ist daher ein Konzept gesamtgesellschaftlicher Veränderung nötig. Mit anderen Worten: Es braucht erst einmal einen Plan C, der dann »verankert, verbreitert und verbunden« werden kann.

Potenziale für ein transformatives Projekt

Der Aufbruch zu den neuen Ufern einer postfordistisch informierten Parteipolitik ist dabei auch aus wahltaktischen Gründen interessant. Schließlich können gerade die genannten Bewegungen und Bedürfnisse thematische Brücken in das urbane Milieu bauen. Es liegt nicht zuletzt am fordistischen Stallgeruch der LINKEN, dass in Großstädten viele junge Menschen, die von ihren Positionen her eigentlich links sind, dann meistens doch wieder Grüne, Piraten o.ä. wählen. Keinen Grund aber gibt es, dass das so bleiben muss: Die »Generation Erasmus« ist mit einem Bekenntnis zu transnationalen Perspektiven und Lebensqualität (statt etwa »Leistungsgerechtigkeit«) durchaus auch für die LINKE ansprechbar. Nach der Bildung der ersten schwarz-grünen Koalition in einem Flächenland dürfte das urbane Milieu zudem parteipolitisch bald noch etwas heimatloser werden. Darüber hinaus hat die SPD bereits deutlich gemacht, dass sie zwar bereit ist, kleine soziale Korrekturen durchzusetzen; selbst diese sollen aber – siehe Migrationspolitik, Entwicklungshilfe oder Mindestlohn – nur für jene gelten, die bereits »fleißige Ameisen« im Standort Deutschland sind (Rötzer 2013). Hieraus ergibt sich für die LINKE ein weites Feld möglicher Aktivitäten: Nicht nur im Sinne der Vertretung jener Interessen, die vom autoritären Wettbewerbsstaat links liegen gelassen werden, sondern auch in Form einer parteipolitischen Begleitung der gesellschaftlichen Entwicklung von Alternativen. Die Erfahrungen mit Syriza in Griechenland zeigen, dass es grundsätzlich gelingen kann, wenn eine linke Partei versucht sozialen Bewegungen und Basisinitiativen medial, rechtlich und finanziell den Rücken freizuhalten.

Zentraler Ausgangspunkt eines Plan C als sozial-ökologische Transformationsperspektive müsste in diesem Sinne die Überwindung der falschen Alternativen »Anpassung an den neoliberalen Wettbewerbsstaat« oder »Verteidigung fordistischer Errungenschaft« sein. Programmatisch bietet sich dafür eine Orientierung am Ziel des gesellschaftlichen Ausbaus der Commons an. Einerseits könnte der sozial-ökologische Politikwechsel damit langfristig auf eine offensive Perspektive »jenseits von Markt und Staat« orientiert werden (Helfrich 2012). Denn die Gemeingüter verbinden soziale Selbstermächtigung und freien Zugang. Andererseits ergibt sich daraus auf lokaler Ebene eine Vielzahl von praktischen Kooperationsmöglichkeiten zwischen neuen Bewegungen und der Partei, die im Erfolgsfall eine reale Stärkung von sozialen Strukturen außerhalb der Sozialstaatsbürokratie zur Folge haben. Im Hinblick auf die Art und Weise der Politikformulierung ist es vielversprechend, Überlegungen aus dem Umfeld des Institutes solidarische Moderne zu einem »neuen Modus des Politischen« (Demokratie AG ISM 2013) aufzugreifen. Man würde damit anerkennen, dass linke Parteipolitik angesichts der postdemokratischen Entkernung des Parlamentarismus heute auf die Eigendynamik, den Ungehorsam und die Konfliktbereitschaft sozialer Bewegungen angewiesen ist, um den engen Möglichkeitskorridor des parlamentarischen Betriebes selbst politisieren (und überschreiten) zu können. Konkret bedeutet das, den sozialen Bewegungen ein strategisches Primat der Initiative zuzugestehen, obwohl diese sich bekanntermaßen nicht zuletzt durch Diskontinuitäten auszeichnen. Nicht weil es in der Partei keine Leute mit guten Ideen gibt, sondern weil die Autonomie der »Handlungsform soziale Bewegung« notwendig ist, um – siehe die schlechten Erfahrungen mit der Rot-Roten-Regierung in Berlin – das Veränderungspotenzial der Partei durch eine konfliktive Bezugnahme auf sie auch über die Grenzen der eigenen institutionellen Binnenrationalität hinauszutreiben.

In diesem Sinne läuft die vorgeschlagene Orientierung auf einen Prozess gesellschaftlicher Veränderung für die Partei gleich doppelt auf eine reflexive Selbstbeschränkung hinaus: Inhaltlich gilt es dann nämlich über sozial-ökologische Reformprojekte die Bedingungen für den basisdemokratischen Ausbau selbstverwalteter Strukturen und Gemeingüter zu verbessern. Praktisch müsste das strategische Primat der Initiative außerparlamentarischer Bewegungen dahingehend ernst genommen werden, dass die Kommunikation mit ihnen auf allen Ebenen der Partei verstetigt wird. Diese doppelte Selbstbeschränkung auszuhalten, wäre dabei wohl tatsächlich das Kunststück für die Partei. Denn es bedeutet faktisch, innerhalb des Staates Politik zu machen für eine Gesellschaftsveränderung, die aus strukturellen Gründen wesentlich außerhalb davon stattfinden muss. Damit würde die Partei allerdings auch die falschen Alternativen vermeiden, entweder die Rolle einer etwas sozialeren Krisenverwaltung zu übernehmen oder weiterhin nur die Funktion eines ewigen Vetospielers im Parlament festgelegt zu sein – und stattdessen ihre realen Veränderungspotenziale in Bezug auf sich und die postfordistische Gesellschaft ausschöpfen.

Zwar fordert die Offenheit gegenüber einem entsprechenden Projekt der gesamtgesellschaftlichen Veränderung von der Partei eine schwierige Neubestimmung des eigenen Selbstverständnisses. Doch das allein ist noch kein überzeugendes Argument dagegen. Denn der Einstieg in eine umfassende gesellschaftliche Transformation, die diesen Namen verdient, kann selbst parteiintern nicht nur an bestehende Interessenlagen und Deutungsmuster anknüpfen. Kipping und Riexinger haben schließlich Recht, wenn sie schreiben, dass Organisationen nicht einfach existierende Interessen repräsentieren, sondern »das Feld der Repräsentierten aktiv herstellen« (Kipping/Riexinger 2013, 3). Nun wäre es natürlich unsinnig, das Konzept eines gesamtgesellschaftlichen Transformationsprozesses am Reißbrett entwerfen zu wollen. Er muss in konkreten Kooperation – wie z.B. den Blockupy-Protesten – erprobt, verstetigt und entwickelt werden. Zudem lebt gerade eine pluralistische Strömungspartei wie die LINKE von unterschiedlichen thematischen Zugängen und lebensweltlichen Ungleichzeitigkeiten. Insofern ist hier das Muddling through (Charles E. Lindblom) schon aus institutionellem Eigeninteresse der passende Organisationsmodus. Umso entscheidender ist allerdings, wie die verschiedenen Zugänge diskursiv eingerahmt werden – und da Hegemonie heute nicht mehr hauptsächlich in den Verwaltungen und Fabriken entsteht, sondern in der Arbeit in Netzwerken sowie mit verschiedenen Subjektivitäten und Lebensweisen (Mikfeld 2011, 237), muss auch ein gegenhegemoniales Projekt sich um einen postfordistischen Begründungsrahmen bemühen.

Literatur

AG Demokratie des ISM, 2013: Für einen neuen Modus des Politischen, in: Buckel, Sonja et al., Solidarisches EUropa, Hamburg

AG links-netz, 2013: Sozialpolitik anders gedacht: Soziale Infrastruktur, Hamburg

Hardt, Michael und Antonio Negri, 2013: Demokratie – Wofür wir kämpfen, Frankfurt

Helfrich, Silke, 2012: Commons – Für eine neue Politik jenseits von Markt und Staat, Bielefeld

Hirsch, Joachim, 2005: Materialistische Staatstheorie. Transformationsprozesse des kapitalistischen Staatensystems, Hamburg

Kipping, Katja und Bernd Riexinger, 2013: Verankern, verbreitern, verbinden, www.die-linke.de/partei/parteientwicklung/projekt-parteientwicklung/texte/verankern-verbreiten-verbinden/ [1]

Liebich, Stefan und Inga Nitz, 2010: Mut zur Reform!, www.forum-ds.de/de/article/1902.mut_zur_reform.html [2]

marx21-Netzwerk, 2013: Vom Wahlkampf zum Klassenkampf, marx21.de/content/view/1991/32/ [3]

Mikfeld, Benjamin, 2011: Auf der Suche nach dem Gemeinsamen. Überlegungen zur Zukunft der pluralen Linken, in: Blätter für deutsche und interationale Politik 8/2011

Rötzer, Florian, 2013: Die kleinen und fleißigen Leute der SPD, www.heise.de/tp/blogs/8/155405 [4]