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Die Geschichte der Geflüchteten nach Europa hat gerade erst begonnen

Von Paul Mason

Die Geschichte der Geflüchteten hat noch kaum begonnen. Konservativen Schätzungen zufolge wird noch dieses Jahr eine weitere Million Menschen über die Türkei einreisen – vielleicht auch mehr. Die von Deutschland vorgeschlagenen Verteilungsquoten, gegen die etliche Staaten Osteuropas Widerstand leisten, sind bereits Fiktion und werden sich mit dem Ankommen der nächsten „Welle“ erübrigen.

Deutschland selbst wird vor kritischen Entscheidungen stehen: Wenn man plötzlich ein Haushaltsdefizit akzeptiert, um die Bedürfnisse von Asylsuchenden abzudecken, wie rechtfertigt man dann, keine Ausgaben für die soziale Infrastruktur zu machen, die eigentlich den BürgerInnen der Bundesrepublik Deutschland dienen sollte, durch mangelnde Investitionen während der Ära Angela Merkel jedoch verfallen ist?

Doch diese Probleme sind Nebenschauplätze im Verhältnis zu den großen, existenziellen Fragen, die ein zweiter Sommer unkontrollierter Migration nach Griechenland mit sich bringen würde.

Zunächst ist da der diplomatische Angriff auf Griechenland. Letzte Woche erwog die Europäische Kommission, Griechenland durch den Bau eines Natodrahtzauns im Inneren der ehemaligen jugoslawischen Republik Mazedonien – die noch nicht einmal Mitglied der EU ist –unter Quarantäne zu stellen. Deutsche Quellen brachten die Idee in Umlauf, Griechenland die Schulden zu streichen, wenn es nur einwilligen würde, 400 000 MigrantInnen einzusperren. Ein belgischer Minister habe während einer EU-Verhandlungsrunde, so sein griechischer Kollege, von Griechenland gefordert, die aus der Türkei kommenden Boote „zurückzuschicken oder zu versenken“, ein klarer Bruch internationalen Rechts. Andere in Europa schlagen vor, jene NGOs zu kriminalisieren, die Geflüchteten bei ihrer Ankunft auf einer der Inseln helfen.

Geschieht auch nur eines davon, wird es die griechische Zivilgesellschaft wahrscheinlich zerreißen. Doch demonstrieren diese Forderungen dem Rest Europas auch, dass seine führenden Kräfte und Institutionen nicht in der Lage sind, die Fakten zu sehen wie sie sind: Die nächste Million von Geflüchteten könnte nur durch eine Politik der Abschottung und Zurückweisung aufgehalten werden, die mit allen Menschenrechten fundamental bricht.

Das Problem Nummer zwei ist die moralische Implosion der türkischen Regierung. Die Armee Recep Tayyip Erdoğans hat die kurdischen Regionen der Südtürkei bereits in ein Kriegsgebiet verwandelt. Nun versucht er, die lebenslange Inhaftierung zweier prominenter Journalisten der säkularen Tageszeitung Cumhuriyet durchzusetzen, weil sie mit einer Recherche versuchten zu belegen, dass seine Regierung den IS mit Waffen beliefert. Hier ist kein eigenbrötlerischer Richter am Werk – die Forderung nach einer 30-jährigen Haftstrafe kam von Erdoğan selbst, dem Oberhaupt eines Landes und einer Regierung, die immer noch denkt, sie könne sich der Europäischen Union anschließen, und das seine NATO-Mitgliedschaft aufrechthält, bisher ohne Einwände aus Brüssel.

Das dritte Problem ist die Paralyse der EU-Institutionen. Deutschland hat einseitig den Vertrag von Dublin suspendiert, welcher MigrantInnen gezwungen hätte, nach Griechenland zurückzukehren, um ihre Anträge bearbeiten zulassen. [1] [1] Die meisten osteuropäischen Länder haben den von Deutschland vorgeschlagenen Verteilungsmechanismus abgelehnt und ziehen ein System vor, das von Natodraht und Polizeikräften mit Mundschutz reguliert wird. Schengen hat sich so gut wie erledigt.

Anders als in der griechischen Schuldenkrise – wo mit Entschlossenheit und Einigkeit die Demokratie ausgesetzt und ein Land unterworfen wurde – ist nun die Unentschiedenheit, der Illusionismus und das Unvermögen, sich den Fakten zu stellen, ein dringliches Problem in Europa.

Griechenland wird nicht Schlauchboote mit Flüchtlingen „zurückschicken oder versenken“. Wie viele Kompromisse die Regierung von Alexis Tsipras auch immer bei der Austeritätspolitik machte – in ihr sitzen lauter MenschenrechtsanwältInnen, KriminologieprofessorInnen und Leute, die ihr Leben damit verbracht haben, gegen Faschismus zu kämpfen. Innerhalb des griechischen politischen Establishments herrscht Wut über Europas Forderungen, weit über die radikale linke Partei Syriza und ihren kleinen nationalistischen Koalitionspartner hinaus.

Osteuropa wird die Flüchtenden im Großen und Ganzen zur Hölle schicken. Jenseits des früheren Eisernen Vorhangs spricht nur sehr wenig Mitgefühl aus der Medienberichterstattung über sie. Polen, Ungarn und die Slowakei haben sich dem populistischen Nationalismus zugewandt. Wiewohl es zehnfache Millionen liberal denkender, vorrangig junger Leute gibt, die bereit sind, Mitgefühl zu zeigen und sich an internationale Vereinbarungen zu halten, so kontrollieren diese doch nicht die Regierungen Osteuropas.

Was die Türkei angeht, so hat diese bisher keine sichtbaren Maßnahmen ergriffen, um syrische Flüchtlinge innerhalb ihrer Landesgrenzen zu halten – ganz zu schweigen von den Bedingungen in den Lagern – und den tödlichen Verkehr über das Meer nach Griechenland zu verhindern. Für einen Staat, der seine eigenen Zeitungsherausgeber willkürlich zu inhaftieren und seine eigenen Städte zu bombardieren in der Lage ist, zeigt dies eine klare Prioritätensetzung.

Es gibt also nur zwei Variablen: was die EU als nächstes tut, und was die Bevölkerungen in Europa tun.

Wenn Deutschland den Versuch aufgegeben hat, die geregelte Verteilung von Geflüchteten innerhalb der EU zu organisieren, dann läuft für die Freizügigkeit selbst die Zeit ab. Jede und jeder versteht dies, ausgenommen der politischen und medialen Klassen. Bis zum Dezember hatte Deutschland nur etwa die Hälfte der 900 000 Asylsuchenden, denen es sich gegenübersieht, überhaupt registriert. Die sich radikalisierende rechte AfD sprang in den Umfragen vom sechsten auf den dritten Platz. Angela Merkel scheint wie festgefroren im Scheinwerferlicht des herannahenden Zuges zu stehen.

Was also bleibt zu tun übrig? Kaum hörbar und ohne Phrasen ist eine der spektakulärsten grenzüberschreitenden Solidaritätsbewegungen, die jemals Form annahmen, entstanden, um den Flüchtenden zu helfen. Kirchen, NGOs, Kommunen, Polizeikräfte und soziale Einrichtungen, und dazu ganz normale Leute ohne große Pläne, aber durchaus mit einer politischen Haltung, begannen einfach und retteten Leute, brachten sie weiter, gaben ihnen Wasser, Nahrungsmittel und Kleidung, und helfen ihnen eben jetzt, sich niederzulassen.

Dagegen stehen natürlich Leute, die offen ihren Rassismus und Hass auf die Straße und in die sozialen Medien tragen, …und auch der Faschismus zeigt wieder Gesicht.

Unsere Großväter zerschlugen den Faschismus – ächteten ihn, exekutierten seine Führung, unterdrückten seine Ideen –, weil sie wussten, wie verführerisch jener steifarmige Gruß für kummervolle Idioten ist, wenn alle Illusionen verrauchen. Die Allierten trieben Deutschland jeden geopolitischen Machtanspruch aus, weil sie wussten, dass es eine Neigung zu unkluger Machtausübung hat, selbst durch „Demokraten“. Sie dankten dem Himmel, dass Osteuropa das Problem anderer war. Und sie stellten eine Armee auf, damit Griechenland prowestlich und demokratisch blieb.

So zeigte die Generation von Churchill und Attlee die Fähigkeit zu größeren strategischen Visionen als die jetzige, etwa in Großbritannien. David Camerons Fixierung darauf, mit Europa um feigenblattartige Zugeständnisse bei den Aufstockungsleistungen für MigrantInnen zu verhandeln, scheint läppisch gegenüber dem Ausmaß der geschichtlichen Herausforderung. Jeremy Corbyns Reise nach Calais warf die schreiende Frage noch nicht einmal auf: Was soll Deutschland tun? Was soll die Kommission tun? Was soll der britische Grenzschutz tun? In ihrem Rückfall zu reinen Gesten signalisieren britische PolitikerInnen bereits eine strategische Abwendung von der Migrationskrise Europas, die ihrerseits der verbreiteten negativen Wahrnehmung der EU weitere Nahrung gibt.

In politischen Kreisen Britanniens kommen Bedenken auf, dass die nächste Million Flüchtlinge die WählerInnen dazu bringen könnten, für einen Brexit zu stimmen. Ich halte das für zu einfach. Die größte Bedrohung für die britische Zustimmung zur EU-Mitgliedschaft wäre es, wenn die Europäische Kommission versuchte, Griechenland zu zwingen, die MigrantInnen zu ertränken, und bei Ablehnung dessen das Land in ein mit Quarantäne belegtes Gefängnislager zu verwandeln. Die Menschen würden sich berechtigt fragen, in wessen Namen dies geschah.

Der Beitrag erschien im Guardian [2] am 1.Februar 2016. Aus dem Englischen von Corinna Trogisch.
Die nächste Ausgabe der LuXemburg, die im April erscheinen wird, wird sich dem Thema Flucht und Migration widmen. Mehr dazu in Kürze.

Anmerkung

[1] [3] Anm. d.Red.: Bereits 2011 hat Deutschland wie die meisten anderen EU-Staaten ein Abschiebestopp nach Griechenland erlassen, um dem Gerichtsurteil des Europäische Menschenrechtsgerichtshof zuvorzukommen. Das ist durchaus Dublin-konform. Grundsätzlich steht es jedem EU-Mitgliedstaat frei, Asylverfahren, die in anderen Ländern begonnen wurden, zu übernehmen.