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»Die Fragen des Alltags sind Klassenfragen«

Gespräch mit Rhonda Koch

Wie linke Studierendenpolitik 50 Jahre nach 1968 aussehen kann

Im Dezember ladet ihr zu einem Kongress unter dem Titel »50 Jahre 1968« ein. Viele Großeltern heutiger Studierender gingen damals auf die Straße. Warum ist das Thema für euch wichtig?
Um es ganz grundsätzlich zu sagen: 1968 ist ein Beweis, dass die Geschichte von Menschen gemacht wird. Es war weltweit die Zeit einer kollektiv gelebten, geforderten und vor allem gefühlten konkreten Utopie: Die verschiedensten sozialen Bewegungen und Kämpfe konnten zeigen, dass eine andere Gesellschaft jenseits der kapitalistischen Herrschaft denkbar ist, dass unser Leben anders und freier gestaltet werden kann, dass Nazis kein Recht auf Posten haben, dass die koloniale Unterdrückung des globalen Südens durch den Westen und die rassistische Herrschaft in den USA durch den Zusammenschluss der Unterdrückten infrage gestellt werden können.
Diese Kultur des Aufbegehrens lehrt uns 1968, und genau das brauchen wir heute wieder. Herbert Marcuse hat dieses Gefühl in »Versuch über die Befreiung« sehr gut beschrieben: »Die jungen Rebellen wissen oder fühlen, dass es dabei um ihr Leben geht, um das von Menschen, das zum Spielball in den Händen von Politikern, Managern und Generälen wurde.« Und vielleicht noch entscheidender: Er hat auch beschrieben, dass dieses Gefühl verbunden war mit der Einsicht in die Möglichkeit von Veränderung durch Auseinandersetzung und Konflikt.
Zugleich wissen wir, dass sich die Hoffnung der 68er auf grundlegende Veränderung nicht verwirklicht hat. Uns interessiert daher auch die Frage nach dem Scheitern. Was können wir aus der Geschichte lernen, um sie nicht das zweite Mal als Farce zu erleben? Wir müssen dieses Mal feministisch sein! Und wir müssen konsequenter die Machtfrage stellen. Das bedeutet auch, das Verhältnis von Studis und Arbeiterklasse neu in den Blick zu nehmen. Dafür ist der Mai 1968 bis heute ein wichtiger Ausgangspunkt.

Nach dem Generalstreik des Pariser Mai 1968 wandten sich viele Studierende der Arbeiterklasse zu, manche gingen in die Fabriken, um Arbeiter*innen zu agitieren. Was bedeutet sozialistische Klassenpolitik für dich heute?
Die in den 1960ern beginnende Öffnung der Hochschulen hat dazu geführt, dass sie ihren exklusiven Charakter als Orte der Elitenreproduktion teilweise verloren haben. Heute macht bereits die Hälfte eines Jahrgangs Abitur. Wir müssen also anders als in den 1970ern die Uni gar nicht verlassen, um uns auf die Suche nach der Arbeiterklasse zu machen. Viele der heutigen Studierenden sind selbst Teil von ihr. Die Öffnung der Hochschulen hat entscheidend zur Veränderung der Arbeiterklasse und zu einer tendenziellen Annäherung proletarischer und akademischer Milieus beigetragen.
Trotzdem gibt es natürlich weiterhin politische und kulturelle Unterschiede und verschiedene Arten und Weisen, wie gesellschaftliche Widersprüche alltäglich erfahren und verarbeitet werden. Es geht uns darum, einen »solidarischen Ethos« (Vivek Chibber) zu organisieren: Gesellschaft wird ausgehend von unterschiedlichen Positionierungen – etwa einer Studentin oder einer Sicherheitskraft am Flughafen Schönefeld – anders empfunden, muss deswegen aber nicht weniger solidarisch gelebt werden. Nur muss diese Solidarität eben organisiert werden, wenn die Verhältnisse tagtäglich Konkurrenz und Spaltung befördern.

Die Frage, wie und mit wem eine solidarische und verbindende Praxis entwickelt werden kann, wird ja gerade an vielen Orten der gesellschaftlichen Linken diskutiert.
Ja, allerdings stört mich die häufige Gegenüberstellung von Identitätspolitik und sozialer Frage, so als gäbe es da keinen engen Zusammenhang. So bleibt die Debatte oftmals abstrakt, anstatt nach konkreten Verbindungen zu fragen. Wer Klassenpolitik ausschließlich mit Arbeitskämpfen in der Fabrik und die soziale Frage mit Lohnforderungen gleichsetzt, macht es sich zu leicht. Unser Alltag jenseits der Lohnarbeit ist ja nicht frei von der Akkumulationslogik des Kapitals. Das Drumherum »der Fabrik«, die Reproduktionssphäre, die von marxistischen Feministinnen in den 1970er und 1980er Jahren ins Zentrum der Analyse gestellt wurde, ist mit dieser Logik eng verwoben. Und dadurch werden Widersprüche produziert: Dem Kapitalismus geht es um eine möglichst kostengünstige Reproduktion der Ware Arbeitskraft. Hierfür notwendige Tätigkeiten wie Pflege, Erziehung oder Betreuung brauchen aber Zeit, lassen sich kaum rationalisieren, sind wenig profitabel. Sie stehen sogar oft im Konflikt mit der Mehrwertschöpfung.
Es waren schon immer Frauen und Migrant*innen, die den Widerspruch zwischen einem an Profitmaximierung orien­tierten Herrschaftssystem und einem langf­ristigen Bedürfnis nach gesellschaftlicher Reproduk­tion tragen mussten. Dass die Klasse nicht vom Himmel fällt, sondern auch jenseits der Lohnarbeit konstituiert werden kann und muss, sollten wir langsam mal verstanden haben.
Die Fragen des Alltags sind Klassenfragen. Sozialistische Klassenpolitik muss also davon ausgehen, dass wir es mit Menschen zu tun haben, die denken und fühlen, zur Arbeit gehen, Wohnungen mieten, Kinder haben, in Beziehungen leben, Essen gehen, füreinander sorgen, in die Moschee oder Synagoge gehen, fernsehen und vieles mehr. Die Konflikte, in denen sich die Klasse als solche konstituieren kann, sind deshalb sehr vielfältig. Das können Kämpfe um höhere Löhne, aber auch um niedrige Mieten, öffentliche Räume oder Zeitkämpfe sein. Wir haben etwa den Streik von Beschäftigten einer H&M-Filiale in Berlin unterstützt. Deren Organisierung begann nicht mit der Lohnfrage, sondern mit dem Kampf für einen arbeitsfreien Sonntag. Für uns kommt es darauf an, diese Konflikte von links aufzugreifen. Dass die Linke bei den Erwerbslosen oder den »klassischen« Arbeiter*innen an Stimmen verloren hat, liegt meines Erachtens auch daran, dass wir nicht vor Ort waren, um gemeinsam mit ihnen eine an ihren Bedürfnissen ansetzende Politik aufzubauen. Zudem haben wir die Systemfrage nicht konsequent genug gestellt und die materiellen Existenznöte des Prekariats und der Geflüchteten nicht mit der Forderung nach der Enteignung der reichsten Deutschen verknüpft. Das Zentrum für politische Schönheit hat den Begriff des »aggressiven Humanismus« starkgemacht. Ich finde das spannend. Ich gebe die Hoffnung nicht auf, dass Menschen lieber aggressiv die zehn reichsten Deutschen enteignen, bevor sie auf Menschen draufhauen, die vor Not und Elend fliehen.

Die fehlende Kritik an den herrschenden Geschlechterverhältnissen, aber auch männerbündische Strukturen im SDS wurden spätestens mit dem Tomatenwurf von Sigrid Rüger beim Delegiertenkongress 1968 zu einem offenen Konflikt. Welche Rolle spielt diese Auseinandersetzung 1950 Jahre später in eurem Verband?
Unser Studierendenverband ist keine Blase des Antisexismus. Aber wir arbeiten permanent und bewusst, theoretisch wie praktisch, an der Frage von Frauenunterdrückung und Sexismus. Die Tomate flog 1968 auf einen rein männlichen Vorstand. Heute haben wir einen Bundesvorstand, der aus sechs Frauen und vier Männern besteht, außerdem sind zwei Frauen in der Geschäftsführung. Meiner Ansicht nach wäre ein Männerbund wie damals nicht mehr möglich. Das liegt entscheidend an den Kämpfen der zweiten Frauenbewegung, die aus einer Kritik an den patriarchalen Organisationsstrukturen der 1960er Jahre entstanden ist. Viele ihrer Theorien sind auch heute noch für uns zentral, auch wenn sie in der Mainstreamerzählung oft durch den Alice-Schwarzer-Mist erstickt werden. Wir diskutieren im Moment sehr intensiv deren sozialistische Strömung, vertreten etwa durch Frigga Haug, Margaret Benston oder Lise Vogel, die heute wieder durch Gabriele Winker und das Projekt der Care-Revolution an Relevanz gewonnen hat. In Zeiten eines neoliberalen Regimes, das sich nicht zu schade ist, den Feminismus für seine Zwecke auszuschlachten, geht es uns um die ­notwendige Zusammenführung von Feminismus und Marxismus sowie Geschlecht und Klasse.

Der SDS war nach dem Ausschluss durch die SPD 1960 parteiunabhängig und versuchte sich – vergeblich – am Aufbau einer neuen kommunistischen Partei. Während ein großer Teil der 68er schließlich den Gang in die Institutionen antrat, habt ihr euch in starker Nähe zur Partei DIE LINKE gegründet. Wie haben sich die Rahmenbedingungen linker Politik an den Hochschulen dadurch verändert? Inwiefern übt die Partei eine Sogwirkung auf den Verband aus?
Ich sehe die Rolle des SDS darin, auf eine klassen- und bewegungsorientierte Mitgliederpartei hinzuarbeiten, die über verschiedene Milieus hinweg einen solidarischen Ethos produziert. Ich habe die Hoffnung noch nicht aufgegeben, dass DIE LINKE so etwas sein kann. Eine heterogene Organisation ist angesichts einer ausdifferenzierten Gesellschaft notwendig für die Organisierung von linker Hegemonie. Ich würde zwar nicht sagen, dass das Modell der Partei für die Formierung sozialer Macht immer zwingend die beste Organisationsform ist. Aber momentan halte ich die politische Arbeit um die Linkspartei für das hoffnungs- und zugleich anspruchsvollste Projekt, das wir als Sozialist*innen haben.
Als SDS sehen wir unsere Aufgabe darin, eine Art Scharnier zu sein und das aktivistische studentische Milieu mit einer linksreformistischen und langfristig einer aktiven Partei zu verbinden. Letztlich wollen wir als Sozialist*innen den Kapitalismus stürzen. Das geht nur über den Aufbau einer sozialen Macht von unten, nicht über Regierungsbeteiligung. Die Sogwirkung des parlamentarischen Apparats ist uns bewusst, die Sogwirkung einer reinen Bewegungsorientierung aber auch. Mit dem Ziel, uns als sozialistische Studierendenorganisation langfristig an den Universitäten zu verankern, sind wir übrigens durchaus erfolgreich: Nach zehn Jahren SDS haben wir an über 60 Unis Basisgruppen und wachsen weiter. Studierende haben heute – wie vor 50 Jahren – das Potenzial, soziale Auseinandersetzungen zu polarisieren und damit gesamtgesellschaftliche Bewegungen in Gang zu setzen.
Dafür müssen wir aber Kämpfe der Studis mit denen betrieblicher Aktivist*innen zusammenführen, an der Uni, in der Gewerkschaft, im Betrieb und auf der Arbeit darauf hinwirken, diese Lager auf lange Sicht organisatorisch zusammenzubekommen. Das sehe ich als zartes Pflänzchen in der Linken wachsen – und nirgendwo anders.

Das Interview führten Julia Garscha und Florian Wilde.