| Die Chancen der Corona-Krise

April 2020  Druckansicht
Von Ingar Solty

In der Kapitalismuskrise von 2008 wurden linke Beobachter*innen nicht müde darauf hinzuweisen, dass die zwei chinesischen Symbole für das Wort „Krise“ ins Deutsche übersetzt „Gefahr“ und „Chance“ bedeuten. Krise meine im Medizinischen eben jenen kritischen Moment, in dem sich entscheidet, ob der Patient stirbt oder – gar mit neuen Abwehrkräften ausgerüstet – überlebt.

Die „Coronakrise“ ist sowohl eine ökonomische wie eine medizinische Krise. Genauer: Sie ist auch ein Belastungstest für die Gesundheitssysteme in den OECD-Ländern, wo seit den 1970er Jahren trotz alternder Bevölkerungen die Zahl der Krankenhausbetten von durchschnittlich 8,7 pro 1000 Einwohner*innen um mehr als die Hälfte reduziert wurde. Dies sind die Spuren von viereinhalb Jahrzehnten Neoliberalismus und der letzten zehn Jahre der Austeritätspolitik.

Auch die Krise von 2008 war Gefahr und Chance zugleich. Am Ende blieb für die arbeitende Bevölkerung nur die Gefahr: Kürzungen von Renten und im Gesundheitssystem, öffentliche Einstellungstopps, Absenkung von Mindestlöhnen und Schleifung von Flächentarifverträgen in Südeuropa – alles im Namen der Wettbewerbsfähigkeit. Und im Namen der Reduzierung der Staatsschulden, die durch die Bankenrettungen erst zum Problem geworden waren.

Die Frage ist: Was ist in dieser Krise Gefahr, was Chance? Die Gefahren liegen auf der Hand. Der Neoliberalismus ist nicht tot, bloß weil temporär die „Schwarze Null“ ausgesetzt wird, Regierungen im Westen nun fiskalisch massiv expandieren und Wirtschaftsminister Peter Altmaier sogar Verstaatlichungen ins Spiel bringt. Beides taten die Regierungen schon 2008; zwei Jahre später wurde der Bevölkerung eben die Rechnung für die Bankenrettungen und staatlichen Unternehmenssanierungen präsentiert. Auch jetzt sprechen die Machthaber es offen aus. Donald Trump sagt: „Die Staatsintervention ist keine Verstaatlichung der Wirtschaft. Ihr Zweck ist nicht die Schwächung des freien Marktes, sondern der Erhalt des freien Marktes.“ Wenn Gewerkschaften und Linke nicht massiv darauf drängen, den Schutzschirm für Unternehmen an die Übertragung von Unternehmensanteilen in die öffentliche Hand zu koppeln und mit Maßnahmen wie der Wiedereinführung der Vermögenssteuer auch die Staatsfinanzierung zu sichern, wird dieselbe Austeritätspolitik die Folge der in der jetzigen Krise vorgenommenen Sozialisierungen von Unternehmensschulden sein.

Es soll hier indes um die Chancen gehen. Chancen gibt es mindestens in fünf Bereichen.

Erstens: In der COVID-19-Krise zeigt sich, welche gesellschaftlichen Bereiche systemrelevant sind. Die Politik beklatscht auf einmal die Arbeiterklasse: Pflegekräfte, Supermarktkassiere*innnen, Lagerarbeiter*innen, Lieferant*innen, Müllabfuhr. Die Arbeiter*innen sind an der Hauptkampflinie dieser Krise, versorgen die Gesellschaft und gefährden sich und ihre Angehörigen mit Infektion und Tod. Die Familien der Mittelklassen erleben am eigenen Leib, was es bedeutet, in Kitas, Kindergärten und Grundschulen eine Horde Kinder zu betreuen. Niemand vermisst Anzugträger an den Börsen, in Consulting-Firmen oder in Anwaltskanzleien von Großkonzernen. Diejenigen, die jahrelang unsichtbar gemacht wurden, deren Kündigungsschutz angeblich zu strikt, deren Löhne zu hoch und deren Rentenansprüche zu gierig waren, sind auf einmal Held*innen.

Dieser Diskurswechsel ist bedeutsam. Es ist richtig: Applaus bezahlt nicht die Miete. Es ist richtig, dass die internationale Politik gerade Schutzschirme vor allem für Konzerne und weniger für Arbeiter spannt. Aber es gibt das Potenzial für ein neues Selbstbewusstsein der lohnabhängigen Massen: Wer systemrelevant ist, sollte besser bezahlt werden! In Deutschland heißt das: Der Mindestlohn gehört flächendeckend auf 13 Euro heraufgeschraubt und die Tarifbindung im Einzelhandel und der Logistik muss auch bei der öffentlichen Vergabe von Aufträgen etwa an private Pflegeanbieter garantiert sein.

Das neue Selbstbewusstsein ist auch vor dem Hintergrund der historischen Defensivposition der Arbeiterbewegung seit der neoliberalen Wende höchst relevant. Die klassische Ansprache „Mensch der Arbeit aufgewacht und erkenne deine Macht; alle Räder stehen still, wenn Dein starker Arm es will!“ war auch in der Linken durch einen Opferdiskurs ersetzt worden, der eher Ohnmacht als Gegenmacht hervorbrachte: die armen Hartz-IVler, die armen Leiharbeiter*innen, die armen Werkverträgler*innen usw. Derzeit erleben wir hingegen einen neuen Produzent*innenstolz!

Das neue Selbstbewusstsein der Klasse entsteht aber nicht als Diskurs. Es entwickelt sich durch neue Arbeitskämpfe gegen die Zumutungen von Konzernherren insbesondere in den nicht-systemrelevanten Bereichen. In Deutschland kämpfen die Gewerkschaften für die Anhebung des Kurzarbeitergeldes auf 90 Prozent (statt der von der Regierung zugestandenen 60 Prozent). In anderen Ländern kommt es zu wilden Streiks für Produktionsstopp und Krankengeld: In Italien bei Fiat, in der Stahlindustrie, den Werften, der Rüstungsindustrie und der Luftfahrt, in Spanien bei Mercedes, Iveco und Volkswagen, in den USA bei Fiat-Chrysler in Sterling Heights (Michigan), WholeFoods, General Electric und bei Amazon in Chicago, New York und anderswo. Auch streikten in Detroit die Busfahrer*innen erfolgreich dafür, dass für die Dauer der Coronakrise keine Tickets mehr gelöst werden müssen. In Italien erzwangen Armutsrevolten die Durchsetzung eines Grundeinkommens.

Zweitens: Krisen rufen Angst hervor und verstärken tiefsitzende soziale Ängste. Sie vertiefen erlernte Tendenzen bei der Suche nach Handlungsfähigkeit. Bei manchen Menschen offenbart die Krise die verinnerlichte Entsolidarisierung des Neoliberalismus: Prepper und andere Menschen, die es sich leisten können, horten vermeintlich oder tatsächlich knappe Güter wie Toilettenpapier, Atemschutzmasken und Desinfektionsmittel, manche versuchen, sie gewinnbringend auf dem Schwarzmarkt zu verkaufen, Einzelpersonen wie der 24jährige Timo Klingler aus Sandhausen und der 36jährige Matt Colvin aus Chattanooga (Tennessee) versuchen sogar, mit systematisch gehorteten Sanitätsmitteln Millionäre zu werden, in Neukölln prügeln sich Menschen im Supermarkt um Toilettenpapier und in Würselen wird gar ein Auto aufgebrochen, um zwei Packungen zu stehlen. Ellenbogenverhalten, das, was die Kritische Psychologie restriktive Handlungsfähigkeit nennt, intensiviert sich bei besonders neoliberal angepassten Subjekten.

Zugleich zeigen sich neue Formen der Solidarität und Vergesellschaftung: In Berlin eröffnen solidarische Menschen auf öffentlichen Plätzen Nahrungsmittel-Sammelstellen  für Obdachlose, im kanadischen Montreal verabreden sich Nachbarschaften, um von ihren Balkonen und aus den Fenstern gemeinsam Leonard-Cohen-Lieder zu singen. In Bamberg singt man auf den Dächern gemeinsam das sozialistische Partisanenlied „Bella Ciao“ in Solidarität mit Italien. Auch bieten sich Linke in ihren Wohnhäusern als Einkäufer für ihre vulnerablen Mitbewohner*innen – Alte und Vorerkrankte – an. Plötzlich kennt man seine Nachbarschaft und Solidarität wird erlebbar und greifbar.

Diese neuen Raumzusammensetzungen in der Krise bilden ein enormes Potenzial für zukünftige Nachbarschafts- und Stadtpolitik und die bewegungsorientierte Linke sollte diese Früchte ernten. Teilweise tut sie es schon heute, wenn in Niedersachsen und anderswo LINKE-Mitglieder gerade die geschlossenen Tafeln – die Hälfte ist zu – ersetzen und so Ernährungssicherheit gewährleisten und das vom Staat hinterlassene Vakuum füllen. Sie erinnern damit auch daran, dass die soziale Revolution und die Räterepubliken 1918/19 das Ergebnis von Arbeiterräten waren, die entstanden, um die zusammengebrochene Versorgung der Bevölkerung zu bewerkstelligen. Und wenn die Linke es nicht macht, machen es – so wie auch in Bamberg – die Neonazis.

Diese Krise bietet aber drittens nicht nur Chancen für transformatives Organizing an der Basis, sondern auch für die Veränderung der großen Strukturen der Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung. Das Großbürgertum sorgt sich darum längst. „Es wird [nach dieser Krise] schwieriger werden, zu argumentieren, dass der ‚magische Geldbaum‘ nicht existiert. Wenn die kapitalistischen Staaten grenzenlos Geld ausgeben können, um die Coronavirus-Pandemie zu bekämpfen, dann werden die Menschen fragen, warum Regierungen das nicht unter anderem auch tun können, um in einen Green New Deal zu investieren?“, schrieb kürzlich der „Economist“. Die Welt sei „in einem frühen Stadium einer Revolution in der Wirtschaftspolitik. Der Staat dürfte nicht nur während der Krise, sondern auch lange danach noch eine sehr andere Rolle in der Wirtschaft spielen.“

Die Revolution kommt aber nicht von allein. Die Linke muss diese historische Chance nutzen, ehe sie als Gefahr und neue Austeritätspolitik auf sie zurückschlägt. Noch 2008/2009 hatte der Economist, die „Zeitschrift für britische Millionäre“ (Lenin), die Parole ausgegeben: „keine Pfennigfuchserei während der Krise, aber danach ausgeglichener Staatshaushalt.“

Es geht also um die zukünftigen, notwendigen Billioneninvestitionen für den sozialökologischen Systemwechsel, so wie ihn das Wahlprogramm der britischen Labour-Partei, Bernie Sanders und die LINKE in Deutschland schon lange gefordert haben. Die Forderung nach einem in dieser Richtung intervenierenden Staat wird durch die Krise untermauert: Die Tatsache, dass private Konzerne das kapitalistische Profitmaximierungsprinzip auf die Spitze treiben, indem der Preis für Schutzkleidung in Deutschland um das 19fache stieg und US-Pharmakonzerne die Preise für Corona-Arzneien einfach mal verdoppelten, macht offenkundig, was Linke im Anschluss an Karl Marx oder Karl Polanyi schon immer sagten: dass der Markt im Kapitalismus kein effizienter Verteilungsmechanismus ist, sondern ein Mittel zur Bereicherung privater Konzerne auf Kosten der Gesellschaft und ihrer Umwelt.

Die Krise zeigt die Hilflosigkeit des neoliberalen Staates auf. Wenn die EU-Kommission sich schon genötigt sieht, Einzelpersonen mit 3-D-Druckern daheim aufzufordern, medizinische Hilfsmittel beizusteuern, dann zeigt sich die innere Fäule des Systems. Die COVID-19-Krise zwingt die Staaten in ihrem Krisenmanagement darum zum Teil auch zu ungewöhnlichen Maßnahmen, wie etwa die Verstaatlichung der Krankenhäuser durch die Mitte-links-Regierung in Spanien. Offensichtlich hat ein durchökonomisiertes Gesundheitssystem mit privatisierten und aus Rentabilitätsgründen geschlossenen Krankenhäusern, Fallkostenpauschalen usw. nicht der Gesundheit gedient, sondern allein der Profitmaximierung und Einsparung von öffentlichen Mitteln, die dann in Steuersenkungen für Konzerne und Reiche fließen konnten. Die Notwendigkeit der Rekommunalisierung und Ausfinanzierung der Krankenhäuser zur Gewährleistung von öffentlicher Gesundheit und Profit zeigt sich in dieser Krise deutlich (vgl. Dück im LuX-Corona-Dossier). Da auch schon die Krise am Wohnungsmarkt aufgezeigt hat, dass die großen börsennotierten Immobilienkonzerne in die öffentliche Hand gehören, sollte die Linke nun flächendeckend für ein Programm werben, dass die elementaren Bereiche Gesundheit, Bildung, Wohnen, Mobilität und Kommunikation sofort vom Profitprinzip befreien will. Die Krise ist die Stunde der Sozialisierung. Dazu gehört auch der Finanzsektor, denn nur wenn wir die Kontrolle über die Finanzierung gesellschaftlich notwendiger Produktions- und Lebensbereiche erlangen, ist zu gewährleisten, dass wir als Gesellschaft unsere Zukunft und die Zukunft unseres endlichen Planeten demokratisch planen und so die drohende Klimakatastrophe noch abwenden können. Die Überwindung der gegenwärtigen Sechsdimensionenkrise als einer Zivilisationskrise der Menschheit wird sozialistisch oder gar nicht sein (vgl. LuX 3/2019).

Zu einer ökologisch nachhaltigen und demokratisch geplanten Wirtschaft gehört viertens auch die Relokalisierung von Produktion und eine selektive Deglobalisierung. Auch hier bietet die Krise Chancen. Verschärft durch die Just-in-time-Produktion haben Chinas COVID-19-Krise und die internationalen Grenzschließungen auf einmal essenzielle Güter knapp werden lassen. Die Krise zeigt, wie verletzlich das System der privaten, profitorientierten Produktion öffentliche Gesundheitssysteme macht, wenn aus Kostengründen medizinische Güter aus China importiert werden müssen. Die COVID-19-Krise zwingt den Nationalstaat nun plötzlich, strategisch wichtige Produktionen in einer neuen Form der Kriegswirtschaft anzuweisen. In Deutschland produzieren Volkswagen, die süddeutschen Autoindustriezulieferer Zettl und Sandler, der thüringische Matratzenhersteller Breckle und die Textilkonzerne Trigema, Mey, Eterna und Kunath nun Sanitätsartikel wie Atemschutzmasken, während Jägermeister und Diageo und die Beck’s-Brauerei nun Desinfektionsmittel herstellen. Die Trump-Administration hat angesichts des eklatanten Mangels an Beatmungsgeräten  auf das Kriegsproduktionsgesetz des Koreakriegs zurückgegriffen und zwingt General Motors, Beatmungsgeräte herzustellen. Ähnliches passiert in Großbritannien, wo der konservative Premierminister Boris Johnson die britische Industrie auffordern musste, ihre Fließbänder von Autos, Flugzeugmotoren, Dialysegeräten und Aushub-Equipment auf Beatmungsgeräte umzustellen, da nur noch eine Firma in Großbritannien sie produziert. Die Ironie der Geschichte will es, dass es sich um das Unternehmen Breas in Shakespeares Geburtsstadt Stratford-upon-Avon handelt –  welch moderne Tragödie! Aber nach Aristoteles‘ Dramentheorie ist Sinn und Zweck der Tragödie eben, dass aus (Selbst-)Mitleid und Angst Katharsis, also seelische Reinigung entsteht!

Diese Krise bietet damit nun die Chance auf eine langfristige Relokalisierung von Produktion, die auch aus klimapolitischen Gründen erforderlich ist. Die Aufgabe für die Linke ist es, die Chance zu nutzen und aufzuzeigen, wie irre ein kapitalistisches System ist und schon immer war, in dem es sich lohnt, Fisch in der Nordsee zu fangen, in Südostasien zu verarbeiten und ihn dann in europäischen Supermärkten zu veräußern.

Der neue Staatsinterventionismus und die kriegswirtschaftliche Umstellung der Produktion der Konzerne zeigen darüber hinaus fünftens, welche Formen von Industriekonversion in sozialökologischer Richtung möglich wären, wenn die Staaten sie nur wollen würden. Sie zeigen, was eine ökosozialistische Regierung an der Macht alles tun könnte. Sie zeigen, was gesellschaftlich möglich wäre, wenn wir unsere Gesellschaften langfristig planen, anstatt ihre Entwicklung den sehr kurzfristigen Profitinteressen von Konzernen zu überlassen, die mit der Zerstörung unseres Planeten und unserer Gesellschaften ihr Geld verdienen. Die gegenwärtigen Planungen lassen eine Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung aufschimmern, in der nicht mehr Profitmaximierung auf dem Rücken von Mensch und Natur, sondern der Gebrauchswert der Produktion für unsere gesellschaftlichen Bedürfnisse im Mittelpunkt steht.

Die Krise ist also eine historische Öffnung und Chance. Fiskalische Expansion, Wirtschaftsplanung und Industriekonversion werden aber nicht anhaltend sein und nicht dauerhaft in eine Wirtschaft umfunktioniert werden, die den Interessen der Vielen und nicht der Wenigen sowie dem Schutz des Planeten und nicht der Profite dient – wenn die Linke nicht jetzt darauf drängt. Wie Walter Benjamin in seinem Passagenwerk schrieb: „Dialektiker sein heißt den Wind der Geschichte in den Segeln haben. Die Segel sind die Begriffe. Es genügt aber nicht, über die Segel zu verfügen. Die Kunst, sie setzen zu können, ist das Entscheidende.“

Dies ist die erweiterte Fassung des Beitrags, der am 4. April 2020 in der Tageszeitung neues deutschland erschien.