| »Die bislang radikalste wirtschaftliche Umgestaltung Großbritanniens«

Oktober 2019  Druckansicht
Interview mit Callum Cant

Manchen von uns mag es so vorkommen, als sei es erst gestern gewesen, doch es ist nun über vier Jahre her, dass Jeremy Corbyn – ein einfacher Linksabgeordneter aus Islington North und Urgestein der britischen Antikriegsbewegung – zum Vorsitzenden der Labour Party und damit zum britischen Oppositionsführer gewählt wurde. Obwohl geschmäht von weiten Kreisen der Mainstreammedien und des politischen Establishments, hat es Corbyn geschafft, seinen Einfluss innerhalb der Partei zu wahren und zu festigen. Das gelang ihm nicht zuletzt, weil er es verstand, auf die beispiellose Begeisterung der Jugend und den mittlerweile wiederbelebten demokratisch-sozialistischen Flügel der Labour Party zu bauen. Letzterer war seit dem Aufstieg von New Labour unter Tony Blair in den 1990er Jahren in der Bedeutungslosigkeit versunken.

Mit Corbyn an der Spitze hat die Labour Party Hunderttausende neuer Mitglieder gewonnen und ist – auch wenn die Mehrheit der gewählten Labour-Abgeordneten weiter dem moderaten Lager angehört – zu einem Sammelbecken progressiver Kräfte aus der gesamten politischen Landschaft Großbritanniens geworden. So gesehen ist Labour innerhalb der europäischen Linken einzigartig – während linke Kräfte auf dem ganzen Kontinent gegen ihre drohende Bedeutungslosigkeit ankämpfen, scheint Labour, ungeachtet der Probleme und Zerwürfnisse über den Brexit, auf dem Vormarsch. 

Dem Wiedererstarken des linken Labour-Flügels folgte auch ein Revival inner- und außerparteilicher Kampagnenprojekte, darunter vor allem Momentum – eine Organisation, die mit dem Slogan »Let’s build a Britain for the many« (»Lasst uns ein Großbritannien der Vielen aufbauen«) die Labour-Linke dazu ermutigt hat, das Parteigeschehen vielerorts in die Hand zu nehmen. Zudem organisiert und sponsert Momentum politische Veranstaltungen und Podiumsdiskussionen und hat wesentlich dazu beigetragen, eine linke sozialdemokratische Plattform zu stärken, sowohl innerhalb der Partei als auch quer durch die britische Gesellschaft. Dieses Revival wurde bisher wohl am eindrucksvollsten beim viertägigen Politikfestival The World Transformed (TWT) unter Beweis gestellt. Parallel zur Labour-Parteikonferenz kamen dort Tausende von Kampaigner*innen, Aktivist*innen und Akademiker*innen zusammen, um in Diskussionen und Gesprächen Pläne und Strategien zu entwickeln, die zum angestrebten Ziel einer sozialistischen Welt führen – ein Ziel, dem man mit einer Labour-Regierung näherkäme.

Das diesjährige Festival fand vom 21. bis 24. September in Brighton statt.  Während des TWT-Festivals sprach Loren Balhorn mit Labour-Aktivist und Bewegungsforscher Callum Cant über das Revival der Labour-Linken und das Verhältnis von Momentum zu breiteren Parteikreisen sowie darüber, welche Aussichten er mit einem demokratisch-sozialistischen Wandel Großbritanniens unter Jeremy Corbyn verbindet.

Loren Balhorn: Eine hier bei TWT unübersehbare Gruppe ist Momentum, die vorwiegend als Pro-Corbyn-Bewegung innerhalb der Labour Party bekannt ist. Momentum ist noch recht jung, die Organisation wurde erst 2015 gegründet und ist auch nicht unumstritten. Wie würdest du die Organisation beschreiben?

Callum Cant: Momentum lässt sich am besten als konkretes Resultat von Corbyns Erstkampagne für den Parteivorsitz verstehen. Nach Corbyns überraschendem Sieg im Jahr 2015 sind die Leute scharenweise in die Partei eingetreten. Momentum war dann der einzige Weg, diese diffuse Masse dauerhaft zusammenzuschweißen. Dort trafen Leute mit institutioneller Erfahrung wie etwa Jon Lansman und Leute aus dem schon länger bestehenden Parteiflügel, der um Tony Benn herum entstanden war, auf Neumitglieder, die viel Schwung in die noch junge Bewegung brachten. Doch der eigentliche Anspruch von Momentum, hatte sich damals noch nicht so klar herausgestellt. War es eine parteipolitische Gruppierung, um Corbyns Führung zu unterstützen, oder war es eine breiter aufgestellte Organisation mit größeren Zielen?

Diese Debatte ist nicht mehr so akut, denn aktuell agiert Momentum in erster Linie als parteinahe Bewegung – ihre Rolle ist es, Einfluss auf parteiinterne Wahlen und demokratische Vorgänge zu nehmen und eine neue Linke innerhalb der Labour Party zu stärken. Darin ist sie bisher sehr erfolgreich – der Linksflügel gibt derzeit im Grunde in allen Parteiausschüssen den Ton an. Überall dort, wo es zu freien und demokratischen Wahlen kommt, fahren wir Siege ein.

Dem konservativen Flügel bleibt als letzte Bastion nur die parlamentarische Fraktion der Labour Party, denn dort gibt es keine offenen Auswahlverfahren und daher ist es uns nicht möglich, unsere eigenen Vertreter*innen selbst zu wählen.

Kannst du uns etwas mehr zur Debatte über das offene Auswahlverfahren in der Partei sagen? Es klingt, als ob das ein heikles Thema bei der diesjährigen Parteikonferenz war.

Derzeit ist es so, dass, wenn du einmal ins Parlament gewählt worden bist, du auch automatisch wieder als Labour-Kandidat für denselben Wahlkreis nominiert wirst – es sei denn, du verlierst deinen Sitz, trittst zurück oder verlierst bei einem parteiinternen Abstimmungsprozess (»trigger ballot«), der es den Parteimitgliedern vor Ort ermöglicht, eine Neuwahl zu erzwingen, in der du gegen andere Kandidat*innen antreten musst.

Aktuell vertritt eine relativ konservativ aufgestellte Labour-Parlamentsfraktion die eher linke Parteibasis, weshalb sich viele Mitglieder andere Kandidat*innen wünschen. Doch der einzige Weg dahin sind Kampagnen gegen amtierende Kandidat*innen, was natürlich eine sehr parteischädigende Option ist – im Grunde musst du bereit sein, der Führung deines Ortverbands eine Pistole an den Kopf zu halten, und im Endeffekt hetzt du zwei Mitgliedergruppen aufeinander los. Die meisten Abgeordneten bleiben von parteiinternen Abstimmungen also verschont, außer sie bauen wirklich großen Mist. Daher bekommen sie auch kaum etwas von den Veränderungen an der Mitgliederbasis mit und sind vor demokratischen Vorgängen sicher, die zu ihrer Ablösung durch linksorientierte Kandidat*innen führen könnten. Also vertreten sie auch weiterhin Positionen, die viel konservativer sind, als es dem Parteitenor entspricht.

Bei den letzten Parteikonferenzen wurde zwar beschlossen, die Bestimmungen für parteiinterne Abstimmungen zu lockern, aber ein wirklich demokratischer Nominierungsprozess ist weiterhin nicht die Norm. Darin liegt eine große Schwäche des gesamten Projekts. Begründet wird das Ganze damit, dass die aktuelle Kräftekonstellation es nicht zulässt. Man ist besorgt, die parlamentarische Fraktion zu brüskieren und damit einen massenhaften Exodus von Abgeordneten auszulösen. Keiner will eine Neuauflage der Social Democratic Party, die mit ihrer Abspaltung von Labour die Partei in den 1980er Jahren dermaßen geschwächt hat, dass sie Margaret Thatcher nicht mehr die Stirn bieten konnte.

Kann man also sagen, dass Momentum an der Basis zwar ein großes «Momentum» hat, die parlamentarischen Zentrist*innen aber weiter das Heft in der Hand haben?

Na ja, die vier Jahre, seit denen das Projekt besteht, waren sehr erfolgreich. Nehmen wir nur das Maßnahmenpaket, das wir diese Woche durchgebracht haben: eine 32-Stunden-Arbeitswoche; CO2-Emissionen auf Netto-Null bis 2030; Schließung von Privatschulen und Streichung der bisher für sie bereitgestellten Mittel! Wir haben in fast allen Bereichen wichtige Fortschritte erreicht. Ein konkretes Problem besteht aber weiterhin darin, dass das stärkste Bollwerk der Partei an sich, also die parlamentarische Vertretung, nicht von der Parteibasis bestimmt wird.

Denkst du, dass Momentum jungen Leuten den Weg in die Partei bereitet? Und gibt es eine klare Trennlinie zwischen Momentum und Labour Party?

Die meisten Leute sind in erster Linie bei Labour aktiv und nicht bei Momentum. Als engagiertes Parteimitglied gehst du wahrscheinlich zu den Treffen der Ortsverbände und bringst dich vor allem über die dort gegebenen Entscheidungsverfahren ein. Bei Momentum gibt es zwar auch einzelne Ortsgruppen, doch dort geht es längst nicht so zur Sache. Die Mehrheit unserer 40 000 Mitglieder identifiziert sich politisch also klar mit Labour – bei Momentum machen sie mit, weil sie den Einfluss gutheißen, den die Organisation auf die Partei hat, und weil sie wollen, dass es in diese Richtung weitergeht, aber als Teil der Labour Party.

Ganz unumstritten war das jedoch nicht. Manche forderten, dass die Momentum-Ortsgruppen mehr Mitspracherecht und mehr Macht erhalten, um eigene politische Strukturen aufzubauen – doch mit der Zeit haben sich die Dinge so entwickelt, wie sie jetzt sind. Derzeit ist es meist so, dass eine Momentum-Gruppe in einer bestimmten Stadt – sagen wir mal in Brighton – politische Diskussionsveranstaltungen vor Ort organisiert oder Demos unterstützt; oder wir agieren innerhalb der Partei und unterstützen bestimmte Kandidat*innen für den Parteirat, doch wir sind kein Ersatz für bestehende Parteistrukturen. Diese Strukturen haben weiter Vorrang.

Du sagtest, dein Fokus liegt primär auf dem Verhältnis von Wahlpolitik und sozialen Bewegungen und dass dich die Studierendenbewegung 2010 geprägt hat. Hier als Besucher von TWT ist mir aufgefallen, dass sich das Revival der Linken in diesem Land, mehr als anderswo in Europa, vor allem auch in der Wahlpolitik zeigt. Wo siehst du, angesichts deines persönlichen Hintergrunds, die Stärken und Grenzen dieser Verschiebung?

Wenn du mir 2014 gesagt hättest, dass ich in fünf Jahren hier sein werde, wäre ich entsetzt gewesen. Doch ich muss auch sagen, dass sich die Dinge seitdem positiv entwickelt haben, denn die britische Linke hat sich komplett neu aufgestellt. Das ist das Erstaunliche an TWT – hier triffst du auf Leute aus der Gewerkschaftspolitik und der Wohnungspolitik und auf Leute, die in politischen Bewegungen aktiv sind, und alle sind sie jetzt hier und Teil der Labour Party. Es ist ein riesengroßer Nährboden für politische Neukonstellationen – erfahrene Leute aus allen möglichen Bewegungen können sich hier austauschen und die Labour Party dabei als Sprachrohr nutzen.

Ich denke, in dieser Art von Einigkeit liegt die wahre Stärke des Corbynismus, allerdings birgt sie auch Schwierigkeiten. Die Kritik an der Wahlpolitik, auf die wir gesetzt haben, ist nicht ganz unberechtigt; doch ich glaube, uns stehen nur begrenzte strategische Optionen zur Verfügung und daher müssen wir die Teilhabe im Rahmen klassischer, bürgerlicher Politik so weit wie möglich ausreizen.

Mir scheint, die heutige Schlüsselstrategie in weiten Teilen der Linken besteht praktisch darin, die Labour Party als Mittel zu nutzen, um bestimmte Konfliktpunkte anzugehen. Sie dient als eine Art Instrument, um unsere Kräfte zu bündeln, Dinge anzustoßen und die aktuelle Krise anzupacken. So ein Projekt kann natürlich auch unter derzeitigen Bedingungen aufgehen – ich glaube ernsthaft, dass eine reformorientierte Corbyn-Regierung zu echten Erfolgen führen kann –, das wahre Potenzial sehe ich aber darin, was passiert, wenn man erstmal über diese Bedingungen hinausgeht und sich in grundlegenden Konfrontationen wiederfindet. In unserem Kontext, in dem es keinen Handlungsspielraum gibt und Kompromisse unmöglich sind, kann selbst ein bescheidener Reformismus zu einer direkten Konfrontation mit dem Kapital führen – und genau darauf bereitet sich unsere Bewegung aktiv vor und sieht das Ganze als Entwicklungsprozess.

Hier beim Festival haben wir ein Spiel namens »Die ersten 100 Tage« gespielt. Bei diesem Rollenspiel wird zusammen mit anderen Genoss*innen erprobt, wie die ersten 100 Regierungstage aussehen würden. Dabei wird auch ein zweites Problem des Projekts deutlich, und zwar wie schwach ausgeprägt die außerparlamentarische Klassenmacht ist. Die Zahl der Streiks ist auf historischem Tiefstand, die Mobilisierungskraft sozialer Bewegungen schwindet nachweislich, und die Parteibasis hat nicht unbedingt die für die Ausübung von Staatsgewalt nötige Erfahrung und Ausbildung.

Es gibt diesen großartigen Spruch von Schattenkanzler John McDonnell: »Wenn wir an die Regierung kommen, dann kommen wir zusammen an die Regierung.« Das ganze Projekt knüpft an diesen Gedanken an – dass eine Bewegung der Arbeiterklasse die Partei herausfordert und über sie hinausgeht, dass sie den Staat herausfordert und über ihn hinausgeht, dass sie Forderungen stellt und uns dazu motiviert, für diese Forderungen zu kämpfen. Die Idee dahinter ist, dass diese Bewegung die Triebfeder ist, die uns über die altbewährte Wahlpolitik hinauswachsen lässt. Aber gibt es diese Bewegung bereits wirklich? Wie können wir ein Fundament für sie schaffen? Diese Frage treibt derzeit alle um, die sich ernsthaft mit dem Corbynismus beschäftigen. Die Partei darf nicht nur ein Sammelbecken sein, wo wir uns neu aufstellen, sondern muss auch eine Ausgangsbasis für unsere weitere Expansion sein.

Kannst du uns etwas mehr zur eigentlichen Labour-Parteikonferenz sagen? Wie bewertest du sie und welche politischen Maßnahmen findest du besonders vielversprechend?

Es wird immer deutlicher, dass linke Kräfte nicht mehr nur interne Foren bestimmen, sondern auch daran mitwirken, ein ernstzunehmendes Parteiprogramm auf die Beine zu stellen. Aus dieser Konferenz konnte man also vor allem die Erkenntnis mitnehmen: Wir wollen ein beeindruckendes Programm umsetzen! Eine 32-Stunden-Woche ohne Lohnminderung – das ist weltweit bahnbrechend in puncto progressiver »Post-Work«-Politik. CO2-Neutralität bis 2030 – nur Norwegen verfolgt ein ähnlich hochgestecktes Ziel. Und es geht dabei um mehr als ein CO2-Ziel: Das Ganze ist Teil eines Green New Deals, und der Übergang dahin ist eine Chance, die Wirtschaft umzugestalten. Die Abschaffung von Privatschulen! Wenn man Großbritannien verstehen will, muss man sich vor Augen halten, dass sich die herrschende Klasse dieser Nation eigentlich seit einem Jahrtausend aus denselben Institutionen speist. Und nun nimmt man diese Klasse endlich dafür in die Verantwortung, dass sie ein Motor sozialer Ungleichheit ist.

Das sind die guten Nachrichten. Die schlechte ist: Man hätte bereits vor der Konferenz versuchen sollen, den konservativen stellvertretenden Parteivorsitzenden Tom Watson loszuwerden. Ein entsprechender Antrag wurde zwar eingereicht, doch der Landesvorstand hat es vermasselt. Das ist symptomatisch für die politische Feigheit der Linken – dass wir uns weigern, unsere Feinde so zu behandeln, wie sie uns behandeln; dass wir uns weigern, unsere Stärke zu nutzen, um innerparteilichen Wandel durchzusetzen, sei es in Watsons Fall oder in Hinblick auf demokratische Auswahlverfahren. Diese Feigheit wurzelt übrigens nicht in der Parteibasis oder den Gewerkschaften.

Die Ergebnisse an der Parteibasis machen aber klar, dass wir die dominierende Kraft sind. So bemüht die Zentrist*innen auch sind, eine Krisenerzählung zu konstruieren, besteht keine Gefahr, dass der Corbynismus in naher Zukunft ein Ende nimmt.

Hier beim Festival sprechen alle vom Green New Deal. Kannst du uns etwas dazu sagen, welche Bedeutung er für Labour hat?   

Der Green New Deal ist der bislang radikalste Prozess wirtschaftlicher Umgestaltung Großbritanniens. Dieses Vorhaben ist sogar noch ambitionierter als die Verstaatlichungen der Nachkriegszeit – hier geht es um eine Umstrukturierung der gesamten Wirtschaft über einen Zeitraum von zehn Jahren. Wir reden davon, jeden einzelnen Industriezweig und unsere gesamte Lebensweise in der Stadt und auf dem Land umzukrempeln. Um zu sehen, wie wir uns den Weg zum Sozialismus durch einen systematischen Gesellschaftswandel vorstellen, muss man verstehen, wie der Green New Deal dabei als Leitbild funktioniert. Der Wunsch danach, Wirtschaft und Gesellschaft zu transformieren, wird alles andere in Bewegung setzen und den Weg zum sozialistischen Ziel ebnen. Beim Green New Deal geht es nicht nur um Umweltpolitik – er steht vom Anspruch her für eine ganz und gar sozialistische Politik, für einen übergreifenden politischen Rahmen, in den sich alles andere einfügt.

Der Green New Deal berührt die Substanz dessen, was am Corbynismus wirklich revolutionär ist: Man nutzt den Reformismus und beansprucht dieses Feld für sich, um grundvernünftige, sinnvolle und überzeugende Forderungen an die herrschende Klasse stellen zu können – und wenn sie abgelehnt werden, dann ist man in der Lage, eine breite Unterstützung zu gewinnen, um wirkungsvoll zurückschlagen zu können.

Aus dem Englischen von Utku Mogultay & Charlotte Thießen für Gegensatz Translation Collective