| Die Arbeitskräfte von morgen. Berufliche Bildung in der sozial-ökologischen Transformation

September 2021  Druckansicht
Von Hans-Jürgen Urban

Um Azubis geht es in der Debatte um eine sozial-ökologische Transformation fast nie, dabei sind sie die Arbeitskräfte von morgen. Warum ist das so?

Die gute Nachricht ist: Auch in linken Diskursen wächst ein gewisses Interesse an der beruflichen Bildung. Das ist nicht selbstverständlich, das Thema wird doch vielfach mit spitzen Fingern angepackt. Die Prozeduren der beruflichen Bildung gelten häufig als Paradebeispiel einer unkritischen Sozialpartnerschaft. Zweitens wird vermutet, dass sich Fragen der beruflichen Bildung in erster Linie um die Steigerung der betrieblichen Wettbewerbsfähigkeit drehen. Und drittens gibt es da den eher akademischen Vorbehalt, dass berufliche Bildung als ökonomische Zweckbildung um ein verkürztes, wenn nicht verstümmeltes Bildungsverständnis kreist, also um das, was man in Anlehnung an Max Horkheimer als »instrumentelle Vernunft« bezeichnen könnte.

Das sind alles ernst zu nehmende Aspekte. Aber die Linke muss auch die Tatsache zur Kenntnis nehmen, dass sehr viele Jugendliche den Arbeitsmarkt über die duale Berufsausbildung betreten. Auch viele Abiturient*innen. Angesagt ist: das Thema ernst nehmen, ohne in die thematisierten Fallen zu tappen.

Wie steht es denn um die berufliche Bildung?

Nun ja, in diesem Feld treffen wir auf eine paradoxe Situation: Einerseits gehört die Dauerklage über den aktuellen und kommenden Fachkräftemangel für Personaler*innen in den Unternehmen und Verbänden zum Standardrepertoire. Andererseits verzeichnen wir einen kontinuierlichen Rückgang an Ausbildungsverträgen, Ausbildungsplatzangeboten und Ausbildungsbetrieben. Nur noch etwa ein Fünftel der Betriebe bildet überhaupt aus, und die Negativ-Tendenz ist deutlich: Wurden 2008 noch 616 700 Ausbildungsverträge abgeschlossen, waren es 2020 nur noch 452 600.

Woran liegt das?

Durch den verschärften Wettbewerbsdruck haben sich in fast allen Betriebsgrößenklassen Rationalisierungsstrategien durchgesetzt, die auf die Reduzierung von Arbeitskosten zielen. Und zu diesen gehören auch die Ausbildungskosten. Aus einer kurzfristigen betriebswirtschaftlichen Perspektive kann diese Vernachlässigung der Zukunftsvorsorge durchaus rational sein, weil weniger Kosten mehr Profite und mehr Wettbewerbsfähigkeit bedeuten können. Mittel- und langfristig sieht die Sache natürlich anders aus. Vor allem auf anspruchsvollen Märkten sind strategische Investitionen in Produktivität und Innovationskraft überlegene Strategien. Und das gilt auch für das sogenannte Humankapital, um einmal die kalte Sprache des Managements zu sprechen.

Das Gleiche gilt für die Gesamtwirtschaft. Auch hier sinkt mit der Produktivität des »Humankapitals« die Konkurrenzfähigkeit der Volkswirtschaft. Mit der schleichenden Dequalifizierung der Arbeitskraft agiert der Kapitalismus gegen seine eigenen Interessen. Ein klassisches Beispiel für den Konflikt zwischen betriebswirtschaftlicher und gesamtwirtschaftlicher Rationalität, der der kapitalistischen Produktionsweise bekanntlich immanent ist.

Ist das der Grund für den Anstieg an dualen Studiengängen? Übernimmt der Staat jetzt die Aufgaben, die die Unternehmen nicht übernehmen wollen?

Beim dualen Studium handelt es sich um einen Ausbildungsweg mit wachsender Beliebtheit. Praxis- und theoriegeprägte Ausbildungsabschnitte greifen ineinander. Die Studierenden können früh Kontakte zu Betrieben aufbauen. Und die Unternehmen können auf Kompetenzen zurückgreifen, die außerbetrieblich erworben wurden und die sie nicht bezahlen mussten. Was hier ansteht, ist Tarifschutz für Studierende und inhaltliche Qualitätssicherung bei der Akkreditierung der Studiengänge, um ökonomistischen Einflüssen Einhalt zu gebieten.

Das heißt aber, den Unternehmen ist eine Bachelorabsolvent*in mittlerweile lieber als ein Azubi mit dualer Ausbildung?

Nicht unbedingt, manchmal sind auch betriebliche und Praxiserfahrungen der dualen Ausbildungsgänge gefragt. Aber insgesamt ist eine Tendenz der gesellschaftlichen Abwertung beruflicher Bildungswege unverkennbar. Das liegt auch daran, dass auf dem Arbeitsmarkt eine beinharte Verdrängungskonkurrenz entlang von Qualifikationsniveaus stattfindet. Da gilt: Ober sticht Unter. Junge Menschen mit Abitur verdrängen Real- oder Hauptschüler*innen und nicht selten drängen Menschen mit akademischen Abschlüssen in Sektoren und Berufe, die früher mit einer dualen Erstausbildung zugänglich waren. Und die ohne Berufsabschluss befinden sich am Ende der Konkurrenzkette. Sie landen oft in prekären Arbeits- und Lebenslagen.

Liegt der Rückgang bei den dualen Ausbildungen auch in der Sache? Gibt es komplexere Anforderungen im Berufsleben, die an den Fachhochschulen vermeintlich besser vermittelt werden können? Erfordert das moderne Berufsleben mehr Flexibilität, daher weniger Bindung an ein Unternehmen?

In der Frage schwingt zunächst die problematische Annahme mit, der dual-berufliche Bildungsweg sei für die einfache, der akademisch-universitäre für die komplexe Kompetenzvermittlung zuständig. Das trifft die Sache nicht. In der Tat werden die Anforderungsstrukturen der kapitalistischen Lohnarbeit immer komplexer, und das berufliche Wissen muss mithalten. Aber der duale Bildungsweg mit seinen Aufstiegsoptionen bereitet keineswegs pauschal schlechter darauf vor als ein akademisches Studium an einer Universität oder Hochschule.

Im »Deutschen Qualifizierungsrahmen«, dem DQR, werden fachliche und personale Kompetenzen auf acht Niveaus beschrieben, die in der allgemeinen, der Hochschulbildung und der beruflichen Bildung erworben werden und für die Erlangung einer Qualifikation erforderlich sind. Der DQR hilft bei dem aufschlussreichen Vergleich der Kompetenzen, die über die einzelnen Wege angeeignet werden können.

Jenseits von Rationalisierung und Wettbewerb ist der Bereich der beruflichen Bildung von der Klimakrise betroffen. Wenn ich heute Mechatronikerin lerne, was passiert mit mir morgen?

Das hängt davon ab, ob die Inhalte deines Berufsbildes dich auch auf die Nachverbrenner-
zeit und auf Tätigkeiten vorbereiten, die in einer ökologisch nachhaltigen Gesellschaft gebraucht werden. Der Kfz-Mechatroniker etwa wurde bereits an die E-Mobilität angepasst.

Wer bestimmt denn die Lehrpläne in der beruflichen Bildung?

Ob Ausbildungsberufe modernisiert werden sollten, wird in einem hoch regulierten Prozess beantwortet. An diesem nehmen der Bund, die Länder, die Fachwissenschaft in Form des Berufsinstituts für Berufsbildung sowie die Arbeitgeber und die Gewerkschaften teil. In der Tendenz werden konsensuale Lösungen zumindest angestrebt. In der Metall- und Elektroindustrie ist das sogenannte Sozialpartner-Monitoring bedeutsam. Gewerkschaften und Arbeitgeber prüfen Berufsbilder auf Modernisierungsbedarfe. Dass die sozial-ökologische Transformation unterschiedliche Sichtweisen und damit auch Konflikte hervorbringt, versteht sich von selbst.

Wie zeigt sich der Interessenskonflikt in der Berufsbildung?

Eine gute Berufsbildung muss die Arbeitsmarktposition der Auszubildenden stärken. Aber nicht nur – berufliche Bildung muss junge Menschen auch als politische Individuen adressieren. Sie soll auch befähigen, selbstbewusst für eigene Interessen als abhängig Beschäftigte einzutreten. Die Unternehmen gehen mit anderen Interessen in diesen Prozess. Für sie zählt die funktionale Verwertung der Arbeitskraft. Selbstbewusstsein sowie individuelle Kritik und kollektive Handlungsfähigkeit stehen bei ihnen – vorsichtig formuliert – nicht hoch im Kurs. Was am Ende im Lehrplan steht, ist nicht zuletzt Resultat eines Aushandlungsprozesses von Kapital und Arbeit.

Wenn die Inhalte der Ausbildung eine Frage der Kräfteverhältnisse sind, was bedeutet das insbesondere für die berufliche Bildung in der Konversion?

Ab August dieses Jahres enthalten alle Ausbildungsordnungen Nachhaltigkeitsaspekte. Dabei sind diese Regelungen ein großer Fortschritt, aber auch ambivalent. Weder sind sie nur »Greenwashing« und überflüssig, noch werden sie den Erfordernissen der sozial-ökologischen Transformation umfassend gerecht. Vor allem dürfte sich ihre Umsetzung in die Praxis als eine konfliktreiche Angelegenheit erweisen.

Für welche Fähigkeiten streitest du mit Blick auf die sozial-ökologische Transformation?

Natürlich geht es bei beruflicher Bildung auch immer um Fachbildung auf der Höhe der Zeit. Aber das reicht nicht. Nicht minder wichtig sind für mich Reflexions- und Interventionskompetenzen. Ersteres meint die Fähigkeit, den eigenen sozialen Ort im Transformationsprozess bestimmen und zugleich erkennen zu können, was das eigene Tun für die Gesellschaft und die Umwelt bedeutet. Durch diese Ortsbestimmung kann ich dann Interessen definieren, aus denen sich Handlungsfähigkeit entwickeln lässt. Das ist mit Interventionskompetenz gemeint. In die Verhältnisse eingreifen, betrieblich wie gesellschaftlich, sie interessengeleitet verändern und begreifen, warum die kollektive Intervention erfolgversprechender ist als die individuelle.

Im besten Fall beinhaltet der Stundenplan an der Berufsschule das Fach »Kritik der politischen Ökonomie in der Klimakrise« und »How to organize«. Haben Mechatroniker GeWi?

Das wäre prima, es würde helfen, Interventions- und Reflexionskompetenzen aufzubauen. Ich befürchte allerdings, mit den Routinen des »Sozialpartner-Monitorings« werden wir hier schnell an Grenzen stoßen. An den Unis sieht es allerdings auch nicht besser aus. Da stehen Kapital-Arbeitskreise, Ökologie-Seminare und Organizing-Workshops auch nicht gerade auf der Tagesordnung.

Umso stärker der gewerkschaftliche Organisationsgrad, desto besser der Lehrplan?

Schön wär‘s, aber so direkt ist der Zusammenhang nicht. Auch institutio­nelle Eigenlogiken sowie fachliche und Kommunikationsfragen spielen eine gewichtige Rolle.

Wie geht ihr als Gewerkschaft mit dem Bedürfnis nach Sicherheit um, wenn sich alles im Umbruch befindet, und jetzt auch noch die Berufsbildung?

Wenn junge Menschen sich auf unübersichtliche Berufswege begeben müssen, brauchen sie Rückfalloptionen bei der Berufswahl, auch eine zweite oder dritte Chance. Berufsbiografien sind heute viel weniger vorbestimmt als noch vor drei oder vier Jahrzehnten. Das eröffnet Freiheitsräume, erzeugt aber auch permanente Entscheidungszwänge für die Jugendlichen: mit Blick auf die Schulform, den Abschluss, die Berufswahl. Und das alles, ohne zu wissen, wohin die Reise letztlich geht. Daher kommt wohl auch die weit verbreitete Sehnsucht nach Sicherheit, etwa durch ein geschütztes Beschäftigungsverhältnis im öffentlichen Dienst.

Schwelt da ein Generationenkonflikt innerhalb der Belegschaften oder innerhalb eurer Mitgliedschaft? Azubis auf der einen Seite, die sich im Sinne der eigenen Zukunft auf Transformationsprozesse einlassen, daher auch offener für den Klimadiskurs sind, und ältere Generationen auf der anderen Seite, die in Ruhe und Sicherheit ihre letzten Berufsjahre erleben wollen?

Diesen Konflikt sehe ich in der IG Metall nicht. Das Ziel der sozial-ökologischen Transformation ist weder in den Betrieben noch in der Gesellschaft ein Jugend- oder ein Senior*innenthema. Es ist kein Generationenthema, sondern eines, das alle betrifft, unabhängig vom Alter. Dass für ältere Beschäftigte, deren Arbeitsmarktchancen eher deprimierend gering sind, Beschäftigungssicherung einen hohen Stellenwert besitzt, ist durchaus richtig. Aber dass sie sich genauso um die ökologische Zukunft ihrer Kinder und Enkel sorgen, ist ebenfalls richtig.

Die Erzählung von den egoistischen Alten, denen die Zukunft der Nachwachsenden egal ist, hat doch eine eher neoliberale Schlagseite. Nicht selten soll hier ein Kapitalismusproblem zu einem Generationenproblem umgedeutet werden. Die Wachstums- und Profitzwänge der kapitalistischen Produktionsweise sind es, die die Nachhaltigkeitsrevolution blockieren, nicht die Alten.

Das Versprechen einer grünen Modernisierung scheint momentan leichter vermittelbar.

Ein grüner Kapitalismus, der vor allem neue Märkte mit ökologischen Produkten eröffnet, der aber Wachstums-, Profit- und Verteilungszwänge unberührt lässt, vermittelt allen, auch den Jugendlichen, eine Scheinsicherheit. Die ist nicht belastbar. Die Botschaft, dass das meiste doch mehr oder weniger beim Alten bleiben kann, geht an der Realität vorbei. Die Gewerkschaften dürfen diese Illusion nicht bedienen.

Wie wäre es dann mit der Ansprache »Ihr Azubis seid die Klimaretter*innen der Zukunft«? So ginge es nicht nur um die soziale Absicherung im Hier und Jetzt, sondern um einen kollektiven Auftrag in der Zukunft.

Das Thema berufliche Bildung wird auch zukünftig mit Widersprüchen und Spannungen behaftet sein, die die gesellschaftliche Linke aushalten muss. Berufsbildung wird immer auch zweckrationale Ausbildung bleiben. Sie muss die Arbeitskraft junger Menschen so ausbilden, dass sie auf dem Arbeitsmarkt zu möglichst guten Bedingungen verkäuflich ist. Das erfordert die Sozialform der Lohnarbeitsexistenz im Kapitalismus. Aber es gibt heute schon viele Azubis, die sich damit nicht zufriedengeben, die ihre Ausbildung transformativ denken. Sie orientieren vor allem auf die Kompetenzen, die für eine sozial-ökologische Transformation unverzichtbar sind.

Wenn die Linke sich dieses Themas stärker als bisher annehmen will, muss sie beide Dimensionen ernst nehmen, die ökonomische und die transformative. Und sie muss die Spannungen zwischen beiden aushalten.

Kann es funktionieren, wenn sich Jugendliche für eine gute Ausbildung in einem traditionellen Beruf und zugleich als Aktivist*innen für eine bessere Zukunft engagieren wollen? Hast du da ein Beispiel?

Ja, etwa in der Stahlindustrie. Stahl wird auch in einer ökologisch nachhaltigen Ökonomie gebraucht, für Windkraft, Schienen, Bahnen, Schiffe und vieles mehr. Zugleich gilt: Die Stahlindustrie emittiert viele Treibhausgase, und deshalb würde die Umstellung auf wasserstoffbasierte Verfahren viel zur Emissionsreduzierung beitragen. Mit jedem Euro, der hier in die CO2-Reduzierung investiert wird, kann ein überdurchschnittlicher Effekt erzielt werden.

Zugespitzt formuliert: Da der Grenznutzen von ökologischen Investitionen besonders hoch ist, also jede zusätzliche Investition in emissionsintensive Sektoren überdurchschnittliche Wirkung erzielt, dürften die Beschäftigten dieser Sektoren eigentlich nicht kritisch beäugt oder gar bekämpft werden. Stattdessen sollten ihre transformativen Anstrengungen von links unterstützt und – zugespitzt formuliert – sie als »Pioniere der Transformation« anerkannt werden.

Ist es das, was du gelegentlich als radikalen Reformismus bezeichnest?

Ich spreche lieber von einem »komprimierten«, will sagen: »beschleunigten Reformismus«. Bis 2030 müssen die Treibhausemissionen um 65 Prozent und bis 2050 um 100 Prozent gesenkt werden. Wenn das nicht gelingt, wird die Begrenzung der Erderwärmung auf 1,5 Prozent oder besser noch darunter scheitern. Wie wir alle wissen, hätte das katastrophale Folgen. Das ist aber eine verdammt kurze Zeitspanne. Alle unsere Strategien müssen diesem Zeitdruck Rechnung tragen.

Weder können wir warten, bis der berühmte »subversive Gedanke« flächendeckend die kapitalistische Hegemonie zersetzt hat, um radikale Systembrüche zu ermöglichen. Noch reichen zarte kleine Schritte, die nicht anecken wollen und auf einen Modernisierungsreformismus hoffen.

Mit aller Entschiedenheit müssen die Spielräume innerhalb der kapitalistischen Strukturen ausgeschöpft werden, ohne sich der Illusion hinzugeben, eine dauerhaft sozial und ökologisch nachhaltige Entwicklung sei unter diesen Bedingungen realisierbar. Der von mir gemeinte beschleunigte Reformismus will also die Systemtransformation keineswegs verabschieden, aber eben nicht darauf warten. Letzeres hielte der Globus nicht aus.

Das Gespräch führte Rhonda Koch.