| Die andere Wahl. Zur Ethik der zapatistischen Politik

August 2017  Druckansicht
Von Timo Dorsch

Als sich am letzten Maisonntag María de Jesús Patricio Martínez von ihrem Stuhl erhob, um sich der ungeduldigen Presse zu stellen, standen ihr bescheidener Gesichtsausdruck und ihre wenigen unaufgeregten Worte beispielhaft für eine Politik, die seit über zwei Jahrzehnten Teile der Welt begeistert und nicht selten auch verstört. Die 53-jährige Nahua-Indigene und traditionelle Heilerin, liebevoll Marichuy genannt, gehört seit seiner Gründung dem Nationalen Indigenen Kongress (CNI) an. Und an diesem Nachmittag im Mai, in einem überfüllten Auditorium der autonomen Universität CIDECI-Unitierra im südöstlichen Bundesstaat Chiapas, wurde sie zur Sprecherin eines eigens gegründeten Indigenen Regierungsrates (CIG) bestimmt. Sprecherin für die einen, Kandidatin für die anderen. Denn sowohl die Geburt des CIG als auch die Bestimmung der parteilosen Marichuy erfolgten im Rahmen der nächsten mexikanischen Präsidentschaftswahlen im Juni 2018.

Im Oktober 2016 wurde der CNI 20 Jahre alt. Gegründet wurde er von der indigenen polit-militärischen Massenorganisation Zapatistische Armee der Nationalen Befreiung (EZLN), die mit ihrem ehemaligen Sprecher Subcomandante Insurgente Marcos, seit dem bewaffneten Aufstand gegen die mexikanische Regierung am 1. Januar 1994, weltweit für Begeisterung und Empörung sorgt. Der CNI versteht sich mit dem Motto Nie wieder ein Mexiko ohne uns als Vertretung der in ihm organisierten indigenen Völker, Stämme und Nationen Mexikos aus fast allen 32 Bundesstaaten des Landes[1]. Mit Marichuy tritt er zum ersten Mal bei Präsidentschaftswahlen an.

Kritik der Fetischisierung der Politik

Als das neue Vorhaben der EZLN und des CNI im Herbst erstmals bekannt wurde, reagierte die mexikanische Partei-Linke mit Kritik (bis hin zu rassistischen Einlassungen): Der CNI sei nicht nur fehlgeleitet durch die betörende Rhetorik des Subcommandante Galeano (zuvor Marcos), sondern würde außerdem das linke Votum spalten und damit der politischen Rechten in die Hände spielen.

Männlicher Hoffnungsträger der Partei-Linken ist seit ehedem Andrés Manuel López Obrador, kurz Amlo. Seine persönliche Geschichte ist zugleich die Geschichte der mexikanischen Parteilinken. Denn nachdem die Ende der 1980er Jahre gegründete oppositionelle Partei der Demokratischen Revolution (PRD) in den letzten Jahren Stück für Stück ihres progressiven Inhalts entleert und integraler Bestandteil des restlichen Establishments wurde – was so viel heißt wie: Korruption, politische Repression und Verstrickung mit dem Organisierten Verbrechen – gründete sich 2014 eine neue linke Partei, die Bewegung der Nationalen Regeneration (MORENA). Ihr Präsidentschaftskandidat Amlo, war bereits 2006 und 2012 Kandidat für das höchste Staatsamt für die PRD und verlor. Allerdings gibt es viele Hinweise für Wahlbetrug. Prognosen deuten auf gute Chancen für Amlo für 2018. Damit stellt die Linke seit 1994, wenig originell, fast ausschließlich den gleichen Kandidaten auf.

Ob mit oder ohne Amlo, ist für EZLN und CNI letztlich gleich, stellen sich aus ihrer Perpektive doch drängendere und radikalere Fragen. Denn die EZLN sieht einen „Sturm“, der sich nähert und sechs Bestandteile mit sich bringt:[2]

1.) Eine ökonomische Krise, die sich aus der Unfähigkeit des kapitalistischen Systems speist, zukünftig für zufrieden stellende Gewinnraten zu sorgen, baut sich auf;

2.) Die Legitimität in die klassischen staatlichen Institutionen zerfällt, spürbar in der massiven Wahlenthaltung auf mexikanischer Landes- und Bundesebene;

3.) Die Korruption im politischen System breitet sich weiter aus. Berücksichtigt man, wie viele ehemalige Gouverneure oder Bürgermeister entweder auf ihren Prozess warten oder bereits in Haft sind (der ehemalige Gouverneur von Veracruz, Javier Duarte, wurde gar per Interpol-Fahndung gesucht aufgrund Veruntreuung von Geldern; in seiner sechsjährigen Amtszeit wurden allein in seinem Bundesstaat fast drei Dutzend Journalist*innen ermordet);

4.) Die endemische Gewalt und Ereignisse wie das Verschwindenlassen von 43 Lehramtsstudenten aus Ayotzinapa im September 2014 werden immer häufiger. Die Gewalt zersetzt das überkommene gesellschaftliche Gewebe und webt eine neue Machstruktur in der Staat und organisiertes Verbrechen miteinander und gegeneinander Verbindungen eingehen;

5.) Der Nationalstaat löst sich zunehmend auf und wichtige Entscheidungs- und Kontrollmechanismen werden in den privaten Sektor oder auf supranationale Ebene ausgelagert: das Inkrafttreten des Nordamerikanischen Freihandelsabkommen (NAFTA) zwischen den USA, Kanada und Mexiko am 1. Januar 1994 war der Beginn für eine Reihe weiterer internationaler Handelsverträge und von Verfassungsänderungen, die die Privatisierung breiter Teile des Landes ermöglicht haben (je nach Statistik wurden derzeit zwischen einem Fünftel und einem Viertel der Gesamtfläche Mexikos mittels Konzessionen an in- und (hauptsächlich) ausländische Bergbauunternehmen vergeben);

6.) Der Sturm nähert sich, während die Linke an der Vorstellung festhält, man könne die Gesellschaft über die Eroberung der Staatsmacht verändern,[3] obwohl sich der mexikanische Staat in der gegenwärtigen Konjunktur auf einen korrupten „Apparat zur Konsolidierung der Hegemonie und Hyper-Mächtigkeit des Neoliberalismus, also des Kapitalismus unserer Zeit, reduziert. Damit wird mit neuen Strategien das gleiche Ziel wie immer verfolgt: die uneingeschränkte Akkumulation mittels Vertreibung, Ausbeutung und Spekulation“ (GIAP2016).

Das sind keineswegs neue Einsichten. Doch angesichts der Erfahrungen der Linksregierungen in Lateinamerika und der Schwierigkeit, sich widerständige konstruktive Politikformen außerhalb der gegebenen parlamentarischen und anderen institutionellen Formen vorzustellen, gilt es, sich diese radikale Staatskritik erneut in Erinnerung zu rufen. Diese Auffassung über die strukturellen Begrenzungen und der Fetischisierung staatlicher Politik findet ihre praktische Konsequenz im politischen Handeln des CNI und der EZLN.

Die EZLN hat es geschafft, sich in den letzten zwei Jahrzehnten von den Institutionen nicht korrumpieren oder kooptieren zu lassen (wovon die Radikalität ihres Diskurses genauso wie die Autonomie ihrer Bezirke zeugen). Sie ist zudem dazu fähig, eine reale Alternative zu artikulieren, die sich nicht in der aufgepfropften Entweder-Oder-Logik (Pepsi oder Coke, Trump oder Hillary) bewegt. Wenn die Lehre aus der Syriza-Erfahrung diejenige ist, dass internationale Kreditinstitute sowie supranationale politische Strukturen mitsamt dem Druck einer dominanten ausländischen Regierung das kurzzeitig offene Fenster eines gesellschaftlichen Aufbruchs binnen weniger Monate wieder schließen können; wenn die Lehre aus dem aktuellen Venezuela diejenige ist, dass korrupte Parteistrukturen, die eigene politische Unfähigkeit Maduros sowie eine aggressive Destabilisierungspolitik seitens internationaler und heimischer Akteure die emanzipatorischen Fortschritte der letzten 15 Jahre Stück für Stück zerlegen; wenn die Lehre aus der Regierungsbeteiligung der Grünen in Deutschland diejenige ist, dass eine aufstrebende Partei zunehmend von anti-linken Kräften unterwandert und danach übernommen wird und schlussendlich die minutiöse Entleerung ihres ursprünglichen progressiven Inhalts betreibt: dann lässt sich der Gang der Geschichte nicht einfach dadurch verändern, indem seine Protagonist*innen ausgetauscht werden, weil die vorherigen plötzlich zu Verräter*innen wurden. Die Crux liegt an den Dynamiken und Grenzen des Möglichen innerhalb des Systems – besonders vor dem Hintergrund der konkreten Situation peripherer Gesellschaften, in denen der Kapitalismus immer offener gewaltförmig vorgeht, auf Konsens verzichtet, das politische System korrumpiert ist.

Es scheint, so Sergio Rodríguez Lascano, Direktor der eingestellten prozapatistischen Zeitschrift Rebeldía, dass innerhalb der Linken eine Verwirrung bezüglich der Machtfrage besteht. Ist Macht gleichbedeutend mit einem, zwei, drei Wahlsiegen? Eine Parlamentsfraktion zu gründen? Ein Fünftel aller Stimmen zu bekommen? Die Regierung zu übernehmen? Gedanken, die darauf abzielen, die Staatsbürokratie letzten Endes zu verwalten, das Kräfteverhältnis zu verändern und den notwendigen strukturellen Wandel zu vollziehen, hin zu einem anderen Staat. Ein anderer Staat, der in seiner Vorstellung dennoch nichts anderes zu sein scheint, als die Wiedergeburt des Wohlfahrtsstaates, fortschrittlicher vielleicht, der aber doch eine weitere Affirmation des kapitalistischen Systems darstellt. Wenn die Denk- und Handlungskategorien der Linken die gleichen sind wie die bürgerlichen Parteien, und die ganze Hoffnung auf einer einzigen Person lastet, dann wird unweigerlich die Idee reproduziert, nach der das Regieren und die Politik einer kleinen Gruppe von Expert*innen und Ausgewählten obliegt (vgl. Rodríguez Lascano 2017, 129).

Ein Prinzip der Würde, das die Organisierung und Handlung durchzieht

Vor diesem Hintergrund kann es nun vielleicht widersprüchlich erscheinen, wenn der CNI bei den kommenden Präsidentschaftswahlen mitspielen möchte. Doch für sie sind die Wahlen Anlass und Bühne, nie aber Grund und Ziel. Es ist vielmehr der erneute Versuch, einen landesweiten Organisierungsprozess von unten anzustoßen, welcher dazu befähigt, einen gesellschaftlichen Transformationsprozess zu initiieren. Denn neben der diagnostizierten Akkumulationskrise artikuliert sich ebenso eine Krise der Beziehung Befehl-Gehorsam, die das politische System charakterisiert. Und wenn sich jene ausdrückt, beginnt eine Phase der Instabilität und Fragilität der Macht (vgl. ders. 2010, 11).

María de Jesús Patricio Martínez ist zwar fortan die Kandidatin des CNI, doch in deren Eigenlogik ist sie nichts weiter als eine Sprecherin, die der Kollektivinstanz CIG zu gehorchen hat, die wiederum den Entscheidungen ihrer Gemeinden, Stadtviertel und dergleichen unterliegt. Letzten Endes dreht es sich nicht um die nach außen sichtbare Person, sondern darum, wie das soziale Verhältnis zwischen Repräsentant*innen und Basis transformiert wird. Und genau das ist die große Erfahrung des zapatistischen Projektes. Mit dieser Politikform wird ein Bruch mit den herrschenden Machtmechanismen angestrebt. Schon einige Jahre zuvor sagte Subcomandante Insurgente Marcos in einem Interview: „Denn eine anders gelagerte Bewegung würde nur die politische Klasse in die Krise stürzen, das System würde dagegen daraus lernen.“( Castellanos, Laura, 2009, 63) In diesem Sinne deutet der italienische Soziologe Alessandro Zagato das aktuelle Vorhaben: „Die CIG agiert als vermittelnde Institution, eine hybride Form zwischen dem Staatsapparat und der Gesellschaft, zwischen Regierung und den organisierten Teilen des ‚Volkes’ im Umfeld des CNI. Dahinter steht eine Konzeption der Dezentralisierung politischer Repräsentation, die die Konzentration von Macht in der Hand einer führenden Person (oder Gruppe) zurückweist.“ (Zagato 2017) Nach außen hin versucht dieser Politikansatz, der viel gemein hat mit einer Ethik des Politischen, seinen Platz inmitten den gesellschaftlich Ausgeschlossenen und Unterdrückten zu suchen, um mit ihnen einen Raum der Artikulation zu schaffen. Die Idee dahinter zielt darauf ab, dass in dem gegenseitigen Zuhören des Schmerzes und der Wut des Anderen ein Effekt der Identifizierung erfolgt, ein Prozess der Bewusstseinswerdung und der darauf folgenden Organisierung anschließt.

Wie dieser Politansatz im Konkreten ausschaut, lässt sich am Beispiel des Ersten „Treffens der sexuellen antikapitalistischen Diversität“ sehen, welches Anfang Juli in dem Dorf Huitziltepec im Bundesstaat Puebla stattfand. Organisator Filo Zitlalxochitzin, der dem Indigenen Regierungsrat angehört und nach Eigenangaben dreifach diskriminiert wird, da er „arm, indigen und schwul“ ist, erklärte zuvor in einem Interview mir gegenüber die Rolle und Aufgabe des CIG: „Wir als Ratsmitglieder haben noch viel zu lernen. Konkret geht es an diesem Punkt um die schwule sexuelle Diversität. Die große Arbeit, die wir gerade vor uns haben, ist zuzuhören, voller Respekt. Wie sieht die Einzelne die Situation? Das ist der erste Schritt, uns kennenzulernen, zuzuhören. Von dort aus erfolgt der nächste: Was tun wir zusammen? Wie werden wir es tun?“ In der Abwesenheit der Arroganz mancher Politiker*innen oder Aktivist*innen, die glauben zu wissen ohne zu kennen, was die Anderen brauchen, drückt sich eine Haltung der Achtung und Anerkennung gegenüber der Vielfalt des Menschen aus.

Zeitgleich übt Filo, der niemals ohne sein bunt besticktes Halstuch vor seinem Gesicht zu sehen ist, eine harsche Kritik an bestimmten Aspekten des urbanen homosexuellen Lifestyle – worin der politische Bruch mit den vorherrschenden Formen zum Ausdruck kommt. Mit Blick auf den Kampf um die gleichgeschlechtliche Ehe z.B. formuliert er: „Was passiert einen Tag nach der Hochzeit? Alles bleibt gleich. Der Krieg bleibt der gleiche, die Ausbeutung bleibt die gleiche, die Plünderung bleibt die gleiche. Das schwule Paar muss arbeiten gehen, um ausgebeutet zu werden. Es muss sich vor der Kriminalität in Acht nehmen. Das ist eine illusorische Freiheit. Was ich damit sagen will ist, dass uns aus den urbanen westlichen Zentren aufgedrängt wird, wie unsere Freiheit zu sein hat. Das ist es, was wir hinterfragen.“ Bevor Filo im Jahr 2001 aus Protest all seine amtlichen persönlichen Dokumente verbrannte, lebte er genau jenen Lebensstil den er heute kritisiert. In Toronto, London, Frankfurt und Berlin ging er auf die Gay Paraden, feierte in Diskos, und konnte sich seine eigene homosexuelle Identität nicht anders vorstellen. Ein Besuch in Israel und Palästina änderte dies schlagartig. Er näherte sich der zapatistischen Bewegung an, dem Nationalen Indigenen Kongress, und war beeindruckt von den Erzählungen indigener Frauen aus dem heutigen Kanada während eines amerikaweiten Treffens indigener Völker im Jahr 2007 im Norden Mexikos, wozu die EZLN einlud: „Es war wundervoll, als die Frauen aus dem Norden erzählten: ‘Vor Jahrhunderten kamen die weißen Männer und sagten uns, das Heilige sei da ‚Oben‘. Und wir glaubten ihnen und schauten nach oben. Derweilen eigneten sie sich alles an, was es hier ‚unten‘ gab: unseren Fluss, unseren Wald, unsere Tiere.’ Also machten diese Frauen einen verzweifelten Aufruf und sagten: ‘Compañeros, man muss den Blick nach unten senken. Das Heilige ist nicht dort oben. Es ist hier. Es ist unser See. Es ist unser Land. Die Natur. Das ist das Heilige.’“

Hier zeigt sich deutlich, was ich oben als politische Ethik der zapatistischen Politik bezeichnet habe. Diese speist sich aus subjektiven Charaktereigenschaften und kollektiven Handlungen, die unserer eigenen Politik oftmals so fern scheinen. Güte, Zärtlichkeit, Bescheidenheit, Empathie sind keine zu verachtenden Wesenszüge; sie sind notwendiger Pfeiler einer rebellischen Politik, die zum Ziel hat, neue Beziehungen zwischen den Menschen aufzubauen. Nur wer die Welt und das menschliche Leid auch spürt, kann einen Zugang zu beiden aufbauen und entgeht der Gefahr, sich eines Tages dem Schrecken resignierend hinzugeben oder gar durch das Besteigen der individuellen Karriereleiter in ihm aufzugehen. In seinem Roman schrieb Robert Cohen (2009, 341): „Nach einer Weile sagte er, er glaube, es komme bei der Empörung auf die Dauer an. Wer die Zustände ändern wolle, bei dem müssten Wut und Trauer lange anhalten. Darin, dass der Hass auf die Unterdrücker nicht nachlasse, zeige sich der wahre Humanismus.“ In diesem Sinne laden die zapatistische Bewegung sowie der CNI dazu ein, miteinander einen Dialog zu führen, sich gegenseitig zuzuhören. Denn aus der Sicht der Zapatistas bedarf es vor allem des Zuhörens: „Und wer nicht versteht, der richtet, und wer richtet, der verurteilt“, kommentierte Subcomandante Insurgente Marcos kurz vor seinem symbolisch inszenierten Tod in seinem Abschiedskommuniqué.[4]

Es gibt keinen Masterplan, lediglich die Überzeugung, dass die Menschen sich selbst regieren müssen. Die Zapatistas sind überzeugt, dass angesichts des Sturms oder der Krise es lediglich Kollektivitäten schaffen werden, die Zeit zu überstehen – auch wenn sie dafür „keine wissenschaftlichen Beweise“ haben. Doch 500 Jahre des Überlebens als indigene Kollektive und 23 Jahre des Widerstands als EZLN haben ihnen Gewissheit verliehen. Daher auch, und nicht nur deswegen, die Ablehnung des alten Wohlfahrtsstaates, der durch seine Sozialprogramme auf individueller Basis lediglich zur Atomisierung der Menschen beiträgt und kollektive Strukturen verhindert. Darum wusste auch der großartige Peter Weiss (2005, 807), als dieser festhielt: „Seitdem die Arbeitenden ihre Massenpartei zur Regierung gebracht hatten, erreichten sie nichts mehr durch den Klassenkampf, alles wurde ihnen jetzt gegeben von oben, von der Partei, vom Staat, und auch die Niederlagen wurden nicht mehr getragen nach großen, solidarischen Aktionen, sondern nach fehlgeschlagenen Verhandlungen oben, im Parlament, oder zwischen Gewerkschaftsleitung und Arbeitgeberverband.“

Während des eingangs erwähnten Treffens des CNI gab Carlos González, Teil der Koordination des CNI und seit über zwei Jahrzehnten in dieser Struktur aktiv, mir gegenüber zu verstehen, worauf die Beteiligung an der Wahl eigentlich abzielt: „Um der mexikanischen Gesellschaft eine andere Form, wie wir uns regieren können, vorzuschlagen. Dass die kollektiven Prinzipien der indigenen Völker, die auf eine harmonische Beziehung untereinander und dem Respekt gegenüber der Natur basieren, die Basis liefern können für eine andere Regierungsform als die, die der Kapitalismus vorschlägt.“ Heraus aus der Alternativlosigkeit bedeutet, mit den Menschen in Kontakt zu kommen und gemeinsam etwas Neues entstehen zu lassen. Denn an sich ist es schon etwas abstrus, oder wie es der spanische Soziologe César Rendueles (2015, 19) formulierte: „Wir haben panische Angst vor den Menschenmassen, weil die einzig uns bekannte Alternative zum liberalen Individualismus der Absturz in die Megaslums oder in den Fundamentalismus ist. Als gäbe es nichts zwischen dem Unternehmenssitz von Goldman Sachs und dem Elendsviertel Villa 31 in Buenos Aires.“

Die Zurückhaltung von Marichuy, der Blick eher nach unten als nach oben gerichtet, die ruhige und besonnene Art, wie sie ihre Sätze formulierte; all dies ist Ausdruck einer politischen Ethik der Bescheidenheit, des eigenen Unwohlseins, wenn die Aufmerksamkeit aller auf eine gerichtet ist. Denn es dreht sich nicht um die individuelle Repräsentation, diese ist lediglich Symbolik und dienend. Was zählt, ist die Organisierung und die Arbeit an der Basis. Auf was es ankommt, ist ein Leben in Würde. Alle Rebellionen der Geschichte, die entscheidenden Einfluss auf sie ausüben können, fingen mit einem Aufschrei der Würde an. Der jetzige Versuch der Veränderung, die der CNI und die EZLN anstoßen, ist solch ein Aufschrei. Ein Aufschrei, der vielleicht bedeutender werden könnte als der bewaffnete Aufstand von 1994, wie es die Zapatistas selbst anmerkten. Die internationale Resonanz mag weniger laut und breit sein als vor 23 Jahren. Doch der nach innen gerichtete Blick, auf den Organisierungsprozess, nicht mehr allein auf Chiapas sondern Mexiko insgesamt zielend, zeigt die mögliche Bedeutung an. Es ist ein großer „Tag unserer Geschichte, denn vor der Eroberung gab es keinen Indigenen Regierungsrat. Vielleicht kannten sich Yaui und Maya nicht. Vielleicht wussten sie nicht einmal, dass es den anderen gab. Aber jetzt, an diesem Tag des 28. Mai, saßen der Yaqui, der Wixárika, der Zapoteco, der Nahua, der Maya nebeneinander. Das ist historisch“, schließt Filo Zitlalxochitzin.

 

Literatur

Castellanos, Laura, 2009: Subcomandante Marcos. Kassensturz. Edition Nautilus, Hamburg, 63

Cohen, Robert, 2009: Das Exil der frechen Frauen, Berlin

EZLN, 2016: Das kritische Denken angesichts der kapitalistischen Hydra, Münster

GIAP, 2016: Vorwärts Genossen!, in: amerika21.de/dokument/162474/congreso-indigena-mexiko; Original unter: elblogdegiap.wordpress.com/2016/10/15/adelante-companeros/

Rendueles, César, 2015: Soziophobie. Politischer Wandel im Zeitalter der digitalen Utopie, Suhrkamp, Berlin

Rodríguez Lascano, Sergio, 2017: Una necesaria reorganización del pensamiento emancipatorio, in: Viento Sur, Nr. 150, 129ff

Ders., 2010: La crisis del Poder y Nosotr@s, Ediciones Rebeldía, Mexiko-Stadt

Weiss, Peter, 2005 (1975): Die Ästhetik des Widerstands, Frankfurt

Zagato, Alessandro, 2017: “Spokesperson for the people and candidate for the media”: An indigenous woman for the 2018 presidential elections in Mexico, in: www.focaalblog.com/2017/06/19/alessandro-zagato-spokesperson-for-the-people-and-candidate-for-the-media-an-indigenous-woman-for-the-2018-presidential-elections-in-mexico/

Anmerkungen

[1] Zum besagten Treffen im Mai  erschienen über 1800 indigene Delegierte des CNI sowie Eingeladene aus indigenen Gemeinden, die (noch) nicht dem CNI angehören, aus ganz Mexiko in Chiapas. Hinzu kamen ungefähr 700 extern Angereiste, darunter auch nationale und internationale Presse. Seitens der EZLN nahmen 200 Basis-Zapatistas teil, etliche Kommandantinnen und Kommandanten sowie die beiden Subcomandantes Moisés und Galeano.

[2]              Dabei ist zu beachten, aus welcher sozialen und geographischen Position sie sprechen. Wenn aus dem Zentrum auf globale Veränderungen, nationale Konfigurationen und deren Auswirkungen aufs Lokale geschaut wird, ergibt sich logischerweise ein anderes Bild, als wenn Beobachtungen aus Gebieten der zapatistischen Selbstverwaltung artikuliert werden. Macht funktioniert an den Rändern eines Systems anders als in deren Zentren. Dies kann entscheidende Hinweise auf die eigentliche Logik und Dynamik dieser Macht liefern.

[3]              vgl. Comisión Sexta del EZLN (o.J.): El Pensamiento Crítico Frente a la Hidra Capitalista I, o.O., 215-219. Die übersetzte deutsche Fassung ist im Unrast-Verlag unter dem Titel „Das kritische Denken angesichts der kapitalistischen Hydra“ erschienen. Zum Teil sind die Beiträge auch online verfügbar.

[4]          „Zwischen Licht und Schatten“, so lautet der Name des letzten Kommuniqués von Subcomandante Insurgente Marcos am 25. Mai 2014. Bis heute ist er der meist gelesene Text der letzten Jahre auf der Homepage der EZLN. Die damals kurz nach Mitternacht verlesenen Worte sind nicht nur eine Abrechnung mit all jenen, die in den 20 Jahren davor Marcos verehrt oder verteufelt hatten, sondern eine zusammengefasste Reise durch die zapatistische Politik mitsamt ihren Errungenschaften nach dem bewaffneten Aufstand. Eine politische Pflichtlektüre, deren Wert über die geographischen Grenzen Chiapas und Mexikos hinausgeht. enlacezapatista.ezln.org.mx/2014/06/05/zwischen-licht-und-schatten/