| Der Weg in den Krieg – Warum konnte die jüngste Invasion der Türkei in Nordsyrien stattfinden?

November 2019  Druckansicht
Von Axel Gehring

Im Angriff der türkischen Armee auf die Demokratische Konföderation Nord- und Ostsyrien, Rojava, verdichten sich eine ausgeprägte weltanschaulich-ideologische Ablehnung des dortigen Autonomieprojekts, innenpolitische Motive sowie der Versuch, die eigene Niederlage im syrischen Bürger- und internationalen Stellvertreterkrieg vergessen zu machen. Die türkische Invasion Nordsyriens war lange angekündigt, doch als sie am 9. Oktober 2019 begann, war dies für die meisten überraschend. Der Krieg wäre jedoch vermeidbar gewesen, wenn die internationale Diplomatie die Logik des Stellvertreterkrieges durchbrochen hätte. Wie konnte es zu diesem Angriffskrieg kommen? Dieser Beitrag rekonstruiert wichtige Schritte staatlicher Akteure auf dem Weg dorthin.

Das Scheitern der türkischen Ambitionen in Syrien

Der Versuch der Modernisierung der Syrischen Arabischen Republik hatte sich zum Ende der 2000er Jahre in unauflösbare Widersprüche verfangen: Die Rechtfertigungserzählung vom säkularen Staat, der angeblich ein antiimperialistisches Erbe antrat und sich seit Beginn der Dekade anschickte, mit Reformen wirtschaftliche Entwicklung zu dynamisieren, hatte wenig mit den wirklichen sozialen und politischen Verhältnissen zu tun. Während der Hinweis auf die Nutzung konfessioneller Spaltungen zur Ausübung autoritärer staatlicher Macht seit Langem zum Standardrepertoire der Kritik am Regime gehörte, war das Neoliberalisierungsprojekt insbesondere zu Beginn der 2000er Jahre im Westen recht wohlwollend betrachtet worden. Doch es hat nicht etwa die Wirtschaft dynamisiert, sondern primär die sozialen Widersprüche verschärft – auch konfessionsbasierte Wohlfahrtsstrukturen spielten eine immer größere Rolle (vgl. Daher 2011). Unter der Oberfläche des stark restringierten politischen Feldes konnten so nicht zuletzt verschiedene Strömungen des politischen Islam verstärkt die sozioökonomische Legitimität des Regimes herausfordern.

Trotz intensiver ökonomischer Teilhabe am Neoliberalisierungsprozess in Syrien wurde die AKP-geführte türkische Republik damals als eine Art Anti-These zum Status quo in Syrien verstanden: Ein dynamischer Neoliberalisierungsprozess und die Revision des Säkularismus-Begriffs kemalistischer Prägung in Tandem mit der angestrebten EU-Integration schienen ein role model für die gesamte Nahostregion zu begründen (kritisch: Tuğal 2017). Die inneren Grenzen des türkischen Wachstumsmodells zwangen insbesondere seit der globalen Krise von 2007f. zur stärkeren ökonomischen Expansion nach außen – in Form von Exporten und Investitionen. Diesem Trend folgend, versuchten türkische Unternehmen verstärkt am Neoliberalisierungsprozess in Syrien teilzuhaben. Ideologisch flankiert wurde der Prozess von einer Außenpolitik der „strategischen Tiefe“ (Davutoğlu 2001). Diese versuchte das “Softpower-Moment” westlicher Außenpolitik zu imitieren, indem nicht mehr nur staatliche, sondern verstärkt auch türkische substaatliche Akteure in die Außenbeziehungen eingebunden wurden und sich die AKP-Regierung direkt substaatlichen Akteuren fremder Staaten zuwendete. Im Rahmen dieser „Davutoğlu-Doktrin“ wurde der regionalpolitische Führungsanspruch der Türkei mittels eines ausgeprägten Kulturalismus (spöttisch Neo-Osmanismus) gerechtfertigt. Die kulturalistisch begründete Außenpolitik ging mit einer forcierten islamistischen Politik im Inneren einher, denn längst nicht alle Teile der Bevölkerung bezogen sich positiv auf das osmanische Erbe (vgl. Saraçoğlu 2011).  Auch dies trug zu den erheblichen gesellschaftlichen Spannungen in der Türkei bei, die später in eine tiefe Hegemoniekrise mündeten. Im Westen wurde die türkische Außenpolitik zunächst wohlwollend aufgenommen, die verstärkten außenpolitischen Aktivitäten schienen sich komplementär zu den eigenen Interessen zu verhalten.

Als Anfang 2011 die inneren Widersprüche der syrischen Gesellschaftsformation in einem Aufstand kumulierten, hatte dies die türkische Regierung zunächst überrascht. Denn die Türkei hatte sich seit Ende 90er Jahre schrittweise mit der syrischen Regierung arrangiert und damit versucht, türkischen Unternehmen Chancen im Neoliberalisierungsprozess Syriens zu eröffnen. Der Versuch der staatlichen Unterdrückung der Revolte durch die Baath-Diktatur scheiterte jedoch im Verlauf des Jahres 2011 an der Fragilität des Staates insgesamt. Regierung und erhebliche Teile der Aufständischen setzten auf Strategien der Konfessionalisierung und Militarisierung. Insofern letztere längst nicht von allen gesellschaftlichen Gruppen als demokratische Alternative zur Baath-Diktatur erlebt wurden, erschien ein baldiger Umsturz zusehends unwahrscheinlicher und es öffnete sich der Weg in den Bürgerkrieg. Trotz der inneren Widersprüche, die am Anfang der Revolte standen, darf dabei die Rolle der Türkei nicht unterschätzt werden: Nach anfänglichem Zögern begann die Türkei, ihr nahestehende Gruppen nicht nur zivilgesellschaftlich (der oppositionelle Syrische Nationalrat ließ sich in Istanbul nieder), sondern auch militärisch zu unterstützen. Doch die in der Freien Syrischen Armee (FSA) organisierten lokalen Rebellenfraktionen waren zu heterogen, um militärisch effektiv auf einen Sieg hinzuwirken. Gleichwohl war der Druck, den die bewaffnete Opposition ausübte, groß genug, um das Regime aus weiten Teilen des Landes zu verdrängen. Vorwiegend kurdische Gebiete im ökonomisch peripheren Norden des Landes wurden unter dem Druck dieser Entwicklung aufgegeben, um mehr Regierungstruppen im Westen einsetzen zu können. Das Vakuum wurde zielstrebig von der Partei der Demokratischen Union (PYD) und lokalen Räten gefüllt, die Strukturen autonomer Selbstverwaltung bildeten. Eine Herauslösung aus dem Staatsverband stand dabei nicht auf der Agenda, stattdessen wurde mit den wenigen verbliebenen Strukturen der syrischen Zentralregierung pragmatisch die Macht geteilt (vgl. Ayboğa et. al. 2016).

Während die Türkei schrittweise ihr Engagement erhöhte und Syrien insbesondere von arabischen und westlichen Staaten isoliert wurde, unterstützten der Iran und Russland die syrische Zentralregierung von Beginn an im Kampf gegen die Rebellen der FSA. Die Türkei begann sich in einen Stellvertreterkrieg zu verwickeln, der sie überforderte und sie schließlich zur Aufgabe der neo-osmanischen Außenpolitik und zur pragmatischen Annäherung an beide Konkurrenten zwingen sollte.

Analog zum Niedergang der FSA vollzog sich schon früh die Dschihadisierung des syrischen Bürgerkrieges, dazu gehörte nicht nur die Bildung von Gruppen wie Al Nusra, die ein lokales Al-Quaida-Derivat darstellten, sondern auch der Aufstieg des Islamischen Staates (IS). Das rasche Anwachsen des IS schien der Türkei zunächst in die Hände zu spielen: Im Herbst 2014 hatte die Offensive des IS die kurdischen Selbstverwaltungsstrukturen in Nordsyrien/Rojava an den Rand einer Niederlage gebracht. Gleichzeitig hatte dessen genozidale Kriegsführung zu einer großen internationalen zivilgesellschaftlichen Mobilisierung geführt. Vor allem war der IS für fast alle internationalen Akteure – außer der Türkei – aus geopolitischen Interessen heraus nicht tragbar. Ihre anfängliche Unterstützung des IS wurde für die türkische Regierung zum Fiasko: Zu seiner Bekämpfung wurde unter Führung der USA die internationale Anti-IS-Koalition gebildet. Sie konnte den Kampf gegen den IS in Syrien nur im Bündnis mit den kurdischen Einheiten bestreiten, die bereits mit Entschlossenheit den IS bekämpften. Dies waren die YPG Volksverteidigungseinheiten (YPG) und Frauenverteidigungseinheiten (YPJ) als de facto militärische Arme der kurdischen Selbstverwaltungsstrukturen. Die Bildung der Syrischen Demokratischen Kräfte (SDF) im Herbst 2015 half dabei, zahlreiche arabische Milizen, darunter auch solche, die sich zuvor in der FSA organisiert hatten, in das eigene Autonomieprojekt einzubinden und dieses so auf fast ganz Nord- und Ostsyrien auszuweiten. Dies war eine empfindliche Niederlage für die Türkei.

Hinzu kam die direkte russische Intervention ab September 2015. Dank ihr eroberte die syrische Zentralregierung weite Teile des Landes zurück. Im Laufe des Jahres 2017 zeichnete sich im Rest des Landes die Niederlage der von der Türkei unterstützten Rebellen deutlich ab. Nur in Idlib war ein größeres zusammenhängendes Gebiet verblieben. Da es inzwischen fast vollständig von dschihadistischen Gruppen beherrscht wurde, konnte es von der türkischen Regierung international nur schwerlich als demokratischer Gegenentwurf zur Baath-Diktatur propagiert werden. Kurzum: Die Türkei hatte den Krieg militärisch wie politisch-ideologisch weitgehend verloren (vgl. Gehring 2018). Die türkische Außenpolitik wurde nach und nach auf ihr innenpolitisches Minimalziel zurückgeworfen – namentlich die Verhinderung jedweder Form kurdischer Autonomie, die unmittelbar den Gründungsmythos und die ökonomische Ordnung des türkischen Staates und damit die ideologische und materielle Reproduktion des Blocks an der Macht herausfordert. Maßgeblich waren also nicht etwa konkrete „Sicherheitsinteressen“, sondern eine ausgeprägt ideologisch-politische Konkurrenz, die zum „Sicherheitsproblem“ erklärt wurde. Die tiefe Hegemoniekrise der AKP, die sie zudem zum Bündnis mit ultranationalistischen Kräften zwang, reduzierte ihre Toleranz weiter. Zudem diente die Konstruktion des ultimativen Feindes mehr und mehr der lagerübergreifenden innenpolitischen Mobilisierung – auch im Kontext der verlorenen Kommunalwahlen (vgl. Işıkara et. al. 2019). Allerdings können Entscheidungen über Krieg und Frieden nie allein über Fragen der kurzfristigen innenpolitischen Mobilisierung und des langfristigen ideologischen Reproduktion des lokalen Blocks an der Macht erklärt werden. Die Türkei ist als eine Akteurin im internationalen Staatensystem und im syrischen Stellvertreterkrieg seit Jahren mit Interventionsmächten konfrontiert, deren Handlungskapazitäten weit größerer sind als ihre eigenen – namentlich den USA und Russland.

Kräfteverhältnisse und Interessen zum Zeitpunkt des Angriffs auf Afrin

Als die Türkei Ende Januar 2018 in Afrin einfiel, hatten sich die westlichen Regierungen weitgehend mit dem Sieg der syrischen Zentralregierung und ihrer russischen und iranischen Verbündeten abgefunden. Dennoch bedeutete dies nicht, dass sie keine Interessen in Syrien mehr hatten. Denn insbesondere für den Norden und Osten Syriens ist hier folgendes von Relevanz: Mit der Aufnahme des westlichen Anti-IS-Krieges 2014 und verstärkt aufgrund der russischen Militärintervention galt es ab Herbst 2015, die Operationsgebiete der Luftwaffen der konkurrierenden Lager im militärischen Alltag klar voneinander zu unterscheiden. So wurden die Gebiete westlich und südlich des Euphrats stillschweigend der syrischen Regierung und Russland überlassen. Diese De-facto-Demarkationslinie beeinflusste auch die Herausbildung der Einflusszonen am Boden: Nach der Befreiung der kurdischen Gebiete gelang es den SDF im Bündnis mit westlichen Koalitionskräften, den IS aus den Gebieten nördlich und östlich des Euphrats zu vertreiben. Aus zunächst militärtaktischen Erfordernissen und der spezifischen Dynamik des Anti-IS-Krieges heraus war ein großes Gebiet unter weitgehender Selbstverwaltung und US-amerikanischer Protektion entstanden, das gleichwohl keine militärische Konfrontation mit der Zentralregierung in Damaskus suchte, solange seine Autonomie nicht infrage gestellt wurde.

Auch über die Zerschlagung des IS als staatliche Entität hinaus blieb der Osten Syriens geopolitisch relevant für die Eindämmung iranischen Einflusses und für die Kontrolle der dortigen Ölfelder. Für den Weltmarkt waren diese unbedeutend, für die Zentralregierung in Damaskus hatten sie jedoch eine wichtige Einkommens- und Devisenquelle dargestellt. In anderen Worten: Die US-Präsens im ausgedehnten, aber schwach besiedelten Norden und Osten Syriens bot die Möglichkeit, mit vergleichsweise geringem Kräfteeinsatz einen gewissen Einfluss auf die Gestaltung der Nachkriegsordnung in Gesamtsyrien, samt der Finanzierung des Wiederaufbaus, zu behalten, ohne selbst ein politisch riskantes Nationbuilding-Projekt zu betreiben.

Für den westlichsten Teil Rojavas, Afrin, hatten solche Erwägungen nie gegolten. Im Kontext des angespannten NATO-Türkei-Verhältnisses stand eine Protektion daher nicht zur Debatte. De facto betrachteten die meisten NATO-Mitglieder Afrin als Konzession an die Türkei – und ohnehin lag es im russischen Einflussbereich. Um die Türkei enger an sich zu binden, gab Russland den Luftraum über Afrin frei und konnte im Gegenzug Offensiven in Ost-Ghouta und Teilen Idlibs unter vereinfachten Bedingungen durchführen. Zugleich stellte dies ein Machtdemonstration gegenüber der Autonomen Verwaltung Nord- und Ostsyriens, Rojava dar. Infolge der westlich-russischen Konkurrenz um die Türkei hatte diese in einem für sie günstigen Umfeld Afrin unter minimalen diplomatischen Risiken eingenommen. Ihren Krieg konnte sie über zwei Monate bis zum Erreichen all ihrer politischen Ziele führen.

Insofern der größte Teil Rojavas östlich des Euphrats liegt, war für die Türkei eine Invasion dieser Gebiete mit weit höheren politischen Risiken verbunden, da sie unmittelbar die Interessen maßgeblicher westlicher Akteure – allen voran den USA – tangierte. Streit im transatlantischen Bündnis war vorprogrammiert, doch die Türkei war bereit, hohe Risiken einzugehen. Das mehr oder weniger subtile Signalisieren alternativer Bündnisoptionen wurde von der türkischen Regierung nunmehr gezielt eingesetzt, um innerhalb der NATO den Spielraum für eigene regionalpolitische Aggressionen zu erweitern, die einer zumindest widerwilligen Zustimmung ihrer Führungsmacht bedürfen(vgl. Gehring 2019b).

Gespaltene US-Außenpolitik

Seit der Wahl von Donald Trump zum US-Präsidenten Ende 2016 wurde in einem verstärkten Maße der bisherige syrienpolitische Kurs der Obama-Administration infrage gestellt. Das strategische Interesse, die begrenzten militärischen Kapazitäten der USA geopolitisch neu auszurichten, war als Versprechen, „unnötige Kriege“ beenden zu wollen, formuliert worden. Solange aber der IS in Syrien und im Irak noch Territorien kontrollierte, stand ein Abzug der US-Truppen nicht zur Debatte. Dies änderte sich mit der Auflösung des IS als territoriale Entität im Laufe des Jahres 2018. Trump erinnerte nun häufiger an seine Versprechen, derartige Einsätze zu beenden.

Donald Trump mochte mit seiner Haltung innerhalb der US-Staatsapparate-Ensembles eine minoritäre Position vertreten, doch die herausgehobene Funktion des Präsidenten in der Gestaltung der Außenpolitik sowie seine unmittelbare Legitimation über direkte Wahlen ermöglichten ihm, sich über langgediente republikanische Außenpolitiker und etablierte Fachbürokratien hinwegzusetzen. Am 19. Dezember 2018 kündigte er den Abzug des US-Truppenkontingentes aus Syrien an.

Seine Entscheidung traf dennoch von Beginn an auf harten Widerstand innerhalb des Pentagons und des Außenministeriums. Am 20. Dezember trat der damalige Verteidigungsminister Jim Mattis zurück, nachdem er den Präsidenten nicht hatte umstimmen können. Zudem wurde Trump unmittelbar nach seiner Abzugsankündigung mit einer Invasionsdrohung der Türkei sowie der von Russland unterstützten Erklärung der Zentralregierung in Damaskus überrascht, sie habe vor, rasch die volle Kontrolle über den Norden des Landes wiederherzustellen. In den folgenden Wochen revidierte Trump zunächst schrittweise seine Abzugsentscheidung und kündigte schließlich am 13. Januar 2019 in einem Tweet doch den Beginn des US-Abzugs an. Jedoch drohte er der Türkei im gleichen Tweet mit „ökonomischer Zerstörung“ und stellte zudem die Einrichtung einer 20 Meilen tiefen „Sicherheitszone“ in Aussicht.

Um diese wenigen Zeilen US-Außenpolitik entbrannten in den folgenden Monaten Deutungskämpfe, die schließlich ausschlaggebend für den weiteren Gang der Ereignisse wurden: Die Türkei brachte sich als Garantiemacht für diese nicht näher definierte Zone ins Spiel. Dies war der Versuch, sich einen weiteren Invasionsvorwand zu verschaffen. Zudem erklärte die russische Regierung prompt, eine derartige Zone könne es nur unter Zustimmung und in gemeinsamer Abstimmung mit der syrischen Regierung geben. Nach einer Unterredung mit seinem russischen Amtskollegen verwarf der türkische Präsident am 23. Januar zunächst die Idee einer türkischen 20-Meilen-Zone. Notgedrungen akzeptierte die Türkei das über 20 Jahre alte Adana-Abkommen. Beide Seiten, die Türkei und Syrien, hatten sich im Oktober 1998 auf die Ausweisung Abdullah Öcalans aus Syrien und auf die Zerschlagung der PKK-Strukturen in Syrien verständigt. Die Türkei hatte damals im Gegenzug ihre Kriegsdrohung gegen Syrien zurückgenommen.

Für die Anwendung des Adana-Abkommens ist von entscheidender Bedeutung, wer PKK ist und wer nicht. Im Selbstverwaltungssystem der Autonomen Administration Nord- und Ostsyriens spielt die PYD eine führende Rolle. Sie wird von der türkischen Regierung als verlängerter Arm der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) angesehen. Vor dem Hintergrund der mittelfristig zur Disposition gestellten US-Protektion wuchs der Druck auf die Autonome Administration, sich selbst eine Form zu geben, die die Anwendung des Adana-Abkommens gegen sie unmöglicht machte und so der Türkei ihren Invasionsvorwand raubte. Konkret wollte sie dies erreichen, indem sie nun ihre Autonomie innerhalb des syrischen Nationalstaates kodifizierte, das heißt durch Zugeständnisse. Ende Januar machte sie Teile ihres Verhandlungsangebotes an die Zentralregierung in Damaskus öffentlich: Eine zentrale Rolle spielte dabei der «Schutz der Souveränität des Staates Syrien», das heißt die Abwehr drohender und die Revision weiterer Invasionen sowie die Bildung einer «Demokratischen Republik», wobei sich die Autonome Administration als Teil der Nationalversammlung konstituieren wollte.

Insgesamt bemühten die Vorschläge einen Spagat zwischen der Föderalisierung des syrischen Staates und der Integration in denselben: Unter anderem sollten die Syrischen Demokratischen Kräfte (SDF) in das nationale Heer Syriens integriert werden und einen Teil des Grenzschutzes bilden, die internen Sicherheitskräfte sollten unter der Kontrolle der Regionalversammlungen im Autonomen Gebiet stehen. Zudem strebte man eine Regelung zur Aufteilung aller natürlichen Ressourcen an. Und nicht zuletzt forderte die Autonome Administration, weiterhin eigene diplomatische Beziehungen unterhalten zu dürfen, solange sie im Einklang mit den Interessen des Nationalstaats Syriens und der Verfassung stünden. Dies reflektierte nicht zuletzt das Interesse, als Vertragspartei an internationalen Verhandlungen über die Nachkriegsordnung beteiligt zu werden (vgl. Gehring 2019a). Trotz dieser Konzessionen an die Zentralregierung in Damaskus wurden die beiden Seiten nicht vertragseinig. Der Druck, weitere Zugeständnisse zu machen, lastete damit immer schwerer auf der Autonomen Administration.

Doch nicht nur der Druck aus Damaskus und Moskau, sondern auch die mangelnde europäische Unterstützung der Autonomen Administration hatten deren Position geschwächt: Die Staaten der EU mochten auf das Verhalten der großen Interventionsmächte wenig Einfluss haben, doch sie haben es versäumt, die internationale diplomatische Isolation der Autonomen Administration und die Logik des Stellvertreterkrieges an sich diplomatisch zu durchbrechen. Auf Intervention der Türkei hin blieben bedeutsame Kräfte wie das Nationale Koordinationskomitee für Demokratischen Wandel (in welchem sich unter anderem die PYD organisiert) von fast allen internationalen Verhandlungsformaten ausgeschlossen. Als Repräsentanz der syrischen Opposition wurde in der EU weiterhin primär der – stark von der Türkei beeinflusste – Syrische Nationalrat wahrgenommen. Islamistische Kräfte innerhalb seiner Reihen wurden systematisch übersehen, denn sie fügen sich nicht in die binäre Lesart (Regime versus demokratische Opposition) des syrischen Bürgerkrieges, die für die Formulierung der europäischen Außenpolitiken offiziell maßgeblich ist.

In medialen Diskursen wurde die Autonome Administration gar in Verkennung ihrer konflikthaften Beziehungen zu Moskau und Damaskus zuweilen als verlängerter Arm der Baath-Diktatur dargestellt. Diese Delegitimierungspolitik spielte dem türkischen Ansinnen der Isolation der Autonomen Administration in die Hände. deren diplomatische Beziehungen mit den EU-Staaten blieben folglich schwach, der militärisch-fachliche Austausch zwischen den US-Streitkräften und den SDF (als Folge des gemeinsamen Anti-IS-Krieges) bildet das eigentliche Rückgrat der Beziehungen zum Westen.

Verlust der Alternativen, Verengung der Handlungsspielräume

Durch die jahrelange Zusammenarbeit mit den SDF hatten Teile der außenpolitischen Fachbürokratien und vor allem des US-Militärs begonnen, das Engagement von Nord- und Ostsyrien als ein hocheffektives militärisches Projekt zu betrachten, bei dem die USA mit einem überschaubaren Einsatz eigener Mittel weit nachhaltigere Resultate erzielen konnten als bei vielen anderen Interventionen. Die SDF genossen in diesen Kreisen Ansehen, über offenkundige ideologische Unterschiede sahen zahlreiche US-Militärs daher nur allzu gern hinweg (exemplarisch McGurk 2019). Allerdings verschlechterte sich ihre Position im staatsapparativen Gefüge zusehends: In Folge der Trumpschen Abzugsankündigung hatte sich der „realpolitische“ Handlungsspielraum anscheinend auf nur noch zwei konkurrierende Konzepte verengt: a) Konfliktregulierung gemäß des neu interpretierten Ankara-Abkommens, samt Inkaufnahme eines wachsenden russischen Einflusses in Nordsyrien, oder b) die Einrichtung einer grenznahen „Sicherheitszone“ – auch wenn dies einer türkischen Invasion (mit oder ohne US-Beteiligung) gleichkäme.

Innerhalb dieser zusehends binären Konstellation stand die US-Diplomatie damit vor zwei konkurrierenden Herausforderungen: Erstens sah sie sich gezwungen, ein Abkommen zwischen den nordsyrischen Selbstverwaltungsstrukturen und Damaskus zu verhindern, um ihren eigenen Einfluss dort nicht weiter zu reduzieren. Zweitens wollte sie die Beziehungen zur Türkei nicht weiter strapazieren und deren weitere außenpolitische Annäherung an Russland verhindern. Deswegen suchte sie nach Wegen, Ankara Konzessionen zu machen. Die Zone erschien nunmehr als das kleinste „realpolitische“ Übel.

Die diplomatische Isolierung der Autonomen Administration, der fortwährende Druck der Zentralregierung in Damaskus sowie die Veränderungen der Kräfteverhältnisse in den US-Staatsapparaten wirkten immer mehr zugunsten Ankaras. Folglich versuchte die Türkei. wieder verstärkt Einfluss auf die USA zu nehmen, um gemeinsam mit ihr die „Sicherheitszone“ einrichten zu können. Ab Juni bezeichnete sie ihren langsam voranschreitenden Aufmarsch erstmals ganz offiziell als Vorbereitung einer militärischen Intervention. Im Juli und August erhöhte sie die Frequenz ihrer Invasionsdrohungen.

Im US-Außenministerium und dem Pentagon mag es weiterhin Widerstände gegen die türkische Invasionsabsicht gegeben haben, doch der Druck des US-Präsidenten wuchs. In der von der Obama-Administration veranlassten US-Präsenz in Syrien fand er ein symbolisch aufgeladenes Betätigungsfeld vor, das zur Erfüllung von Wahlversprechen geradezu prädestiniert schien.

Appeasement als Schritt in den Krieg

Im August brachen schließlich die letzten Widerstände gegen die Zone. Unter Missachtung des Völkerrechts, das zwei Staaten nicht erlaubt, über die innere Struktur eines dritten Staates zu bestimmen, veröffentlichten die Türkei und die USA schließlich im August ein “Statement on Joint Military Talks Regarding Syria”. In diesem wurden drei Punkte festgehalten: 1) Es sollten Maßnahmen ergriffen werden, um „den türkischen Sicherheitsbedenken gerecht zu werden“. 2) Beide Seiten wollten gemeinsam eine „Sicherheitszone“ einrichten. Und 3) sollte diese Zone zu einem „Friedenskorridor“ werden. Dieser Begriff aus dem Vokabular der türkischen Außenpolitik sah explizit „alle Anstrengungen“ vor, damit „geflüchtete oder vertriebene Syrer wieder in ihr Land zurückkehren können“.

Damit hatte die türkische Außenpolitik ihr wichtigstes Etappenziel erreicht: Die USA hatten einer demografischen Neukomposition Nordsyriens nicht nur im Prinzip zugestimmt, sondern mittels der Konzeption der Zone „konkreten Schritten“ auf dem Weg dorthin ihre Zustimmung erteilt. Es war absehbar, dass diese Politik mittelfristig die Fortexistenz der kurdischen lokalen Verwaltungs- und Repräsentationsstrukturen (Rätesystem) und der Parteien gefährden würde. Schließlich bestand in deren Zerstörung die eigentliche Intention der türkischen Regierung. Garantien, den Willen der lokalen Bevölkerung zu respektieren, fanden sich nicht im Statement.

Zuweilen wurde das US-amerikanisch-türkische Statement als schwammig bezeichnet und als Hinhaltetaktik gegenüber Ankara eingeschätzt. Auch die Autonome Administration, der noch nicht einmal der Status einer Vertragspartei zugestanden wurde, bemühte sich um Zweckoptimismus. Doch was die US-Fachbürokratie ausgehandelt hatte, trug im Kern die Züge einer klassischen Appeasement-Politik. Hier sollten die Ziele militärischer Aggressionspolitik auf politischem Wege zugestanden werden, damit es nicht zum offenen Kampf kommt. Politik wurde hier gleichsam zur Vorwegnahme der politischen Ergebnisse eines Krieges mit diplomatischen Mitteln. Ob ursprünglich intendiert oder nicht, die US-Außenpolitik hatte damit begonnen, Ankaras «Demografie-Politik» zu unterstützen. Die komplizierte Zonenvereinbarung setzte indes weitere Implementierungsschritte voraus – hochrangige Treffen zwischen Vertretern der Türkei und denen der USA unter Einschluss beider Präsidenten waren für November anberaumt. So blieben in den unmittelbaren Wochen nach Abschluss die Folgen des Abkommens zunächst rein militärisch: Während die YPG und die YPJ begannen, sich aus dem grenznahen Raum zurückziehen, und ihre Befestigungen zerstören, starteten im grenznahen Raum im September gemeinsame Patrouillen türkischer und US-amerikanischer Einheiten – begleitet wurden sie von türkischer Luftüberwachung.

Die letzten Schritte in den Krieg

Während die Fachbürokratien im Pentagon und Außenministerium hofften, die türkische Invasionsabsicht eingedämmt zu haben, betrachtete die Türkei die Vereinbarung nur als einen Zwischenschritt. Ihr Aufmarsch lief derweil weiter und konnte sogar von den Ergebnissen der gemeinsamen Patrouillen mit US-Soldaten sowie nunmehr erlaubten Drohnenflügen profitieren. Gleichwohl war ein Angriff noch keineswegs sicher: Solange in den US-Staatsapparaten jene die Oberhand hatten, die eine türkische Invasion für die US-amerikanischen Interessen als schädlich betrachteten, war nicht mit einer Militäroffensive zu rechnen.

Am 6. Oktober öffneten schließlich die seit Jahren andauernden Konflikte innerhalb des US-amerikanischen Machtblocks den Weg in den Krieg: Unter dem intensivierten Druck eines Amtsenthebungsverfahrens versuchte der US-Präsident, seine Anhänger stärker an sich zu binden, um den schwindenden Rückhalt in den Institutionen zu kompensieren. Dies hieß im Kontext seiner populistischen Politik, auf symbolisch wichtigen Feldern kodifizierte Vereinbarungen unter Umgehung der etablierten Verfahrensweisen demonstrativ zu opfern: Das Weiße Haus informierte in einem überraschenden Statement über einen baldigen Abzug der grenznahen US-Truppen und über ein Telefonat mit dem türkischen Präsidenten: Demnach werde die Türkei bald mit ihrer langgeplanten Operation „hinein in Nordsyrien“ beginnen, die USA würden sie weder unterstützen noch daran beteiligt sein. Washington, nicht etwa Ankara hatte somit die Weltöffentlichkeit über einen bevorstehenden türkischen Angriff informiert. Und nur kurz vor der Weltöffentlichkeit waren die Regierungen der EU-Staaten in Kenntnis gesetzt worden (vgl. Gehring 2019c). Mit dieser Entscheidung durchkreuzte Trump freilich den Plan hinter dem US-amerikanisch-türkischen Statement vom August – das eigentlich im November in Gesprächen mit der Türkei weiter ausgearbeitet werden sollte –, der vorsah, die „Sicherheitszone“ auf primär diplomatischen Wege zu errichten.

Ungeachtet aller offiziellen türkischen Rhetorik ist davon auszugehen, dass die Entscheidung des US-Präsidenten auch für die türkische Regierung überraschend kam und intern sehr ambivalent bewertet wurde. Denn mit dem Rückzug der USA aus Nordsyrien fielen diese als Garantiemacht für die Zone aus. Mit dem erneuten Versuch eines Abkommens zwischen der Autonomen Administration und der Zentralregierung in Damaskus war nunmehr zu rechnen – denn das war die einzige verbliebene Alternative zur Zone. In diesem fragilen diplomatischen Umfeld sah sich die türkische Regierung daher gezwungen, hohe außenpolitische Risiken einzugehen und rasch mit ihrer Offensive zu beginnen – bevor sich das Möglichkeitsfenster wieder schließen würde.

Am 9. Oktober begann der türkische Angriff wahrscheinlich früher als geplant, aber dennoch nicht unvorbereitet – denn der Aufmarsch dazu lief offiziell seit Anfang Juli 2019 als Teil jener Drohdiplomatie, die das neokoloniale Kriegsziel der Zone ursprünglich mit einer Mischung aus Verhandlung und unmittelbaren militärischen Zwang hatte erreichen wollen und dabei bereits weit gekommen war.

Literatur

Ayboğa, Ercan; Flach, Anja und Knapp Michael 2016: Revolution in Rojava Frauenbefreiung und Kommunalismus zwischen Krieg und Embargo; VSA, Hamburg.

Daher, Joseph 2018: The political economic context of Syria’s reconstruction:
 a prospective
 in light of a legacy of unequal development; European University Institute/Robert Schuman Center for Adavanced Studies, Badia Fiesola

Davutoğlu, Ahmet 2001: Stratejik Derinlik: Türkiye’nin Uluslararası Konumu. İstanbul: Küre Yayınları

Gehring, Axel 2018: Begrenzung der Niederlage. Die Offensive auf Afrin soll das türkische Versagen kompensieren, in: neues deutschland, 9.2.2018, www.neues-deutschland.de/artikel/1078961.afrin-krieg-begrenzung-der-niederlage.html?sstr=axel%20gehring

Ders., 2019a: Syrien: Türkische Invasion oder Abkommen mit Damaskus?, April 2019, Online-Publikation der Rosa-Luxemburg-Stiftung, Berlin, www.rosalux.de/publikation/id/40359/syrien-tuerkische-invasion-oder-abkommen-mit-damaskus/

Ders., 2019b: NATO-Austritt der Türkei?‚ in: W&F Wissenschaft und Frieden, 01/2019, 33-36

Ders. 2019c: Fragile Kriegsbedingungen, in: neues deutschland, 9.10.2019, www.neues-deutschland.de/artikel/1126836.fragile-kriegsbedingungen.html?sstr=axel|gehring

Işıkara, Güney; Kayserilioğlu, Alp und Zirngast, Max 2019: Turkey’s War in Syria Is a War for Fascism www.jacobinmag.com/2019/10/turkey-syria-war-fascism-rojava-erdogan-isis-kurds

McGurk, Brett 2019: Hard Truths in Syria – America Can’t Do More With Less, and It Shouldn’t Try; in: Foreign Affairs; May/June 2019

Saraçoğlu, Cenk 2011: İslami-Muhafazkar Milliyetçiliğin Tasarımı: AKP Döneminde Kürt Politikası; in: Praksis 26, 31–54

Tuğal, Cihan 2017: Das Scheitern des türkischen Modells. Wie der Arabische Frühling

den islamischen Liberalismus zu Fall brachte; München: Verlag Antje Kunstmann.

US-Botschaft in der Türkei, 2019: Statement on Joint Military Talks Regarding Syria, tr.usembassy.gov/statement-on-joint-military-talks-regarding-syria/