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Der schwere Weg zu einer Schule für alle. Warum sich keiner vom Gymnasium trennen will

Gespräch mit Sabine Boeddinghaus und Susanne Thurn

Warum sitzt das Gymnasium so fest im Sattel, werden nicht Gemeinschaftsschulen immer beliebter?

Susanne: Eine kurze Antwort wäre an dieser Stelle preisverdächtig. Sicherlich hängt vieles damit zusammen, dass wir immer noch in einer Klassengesellschaft leben. Ich fürchte, das muss man wohl so sagen. Zur 25-Jahr-Feier der Laborschule Bielefeld und des Oberstufenkollegs hat Ludwig von Friedeburg es etwa so ausgeführt: Heute kann man sich sozial nicht mehr zeigen oder abgrenzen durch Statussymbole wie ein eigenes Haus, ein großes Auto oder tolle Fernreisen, nur noch durch den Satz »Mein Kind geht aufs Gymnasium.« Immer noch müssen sich Kinder und Jugendliche, die Gemeinschaftsschulen besuchen, gegenüber Gymnasiast*innen verteidigen, dass sie nicht »nur« aufgrund von mäßigen Leistungen auf eine solche Schule gehen. Die Vorurteile gegenüber reformpädagogisch orientierten Schulen sind in unserer Gesellschaft tief verwurzelt, als könnte nur über Konkurrenz aller gegen alle der soziale Aufstieg oder wenigstens der erreichte soziale Status gesichert werden.

Sabine: Obwohl ich davon überzeugt bin, dass sich in der Bildungspolitik die Klassenfrage am schärfsten stellt und notwendige Debatten über die richtigen pädagogischen Konzepte also von einem hart geführten Klassenkampf überlagert werden, habe ich mich selbst dabei ertappt, wie ich auf die Frage, wo denn meine Kinder zur Schule gingen, geantwortet habe: Sie sind auf einer Gesamtschule trotz Gymnasialempfehlung. Das heißt, selbst ich, die ich zutiefst davon überzeugt bin, dass das Bildungssystem ungerecht ist, bin durch meine Sozialisation in dieser auf Distinktion basierenden Gesellschaft nicht frei von der Erzählung, »dass die Besten aufs Gymnasium gehen«.

Und wenn die Eltern einfach das Beste für ihre Kinder wollen?

Susanne: Zumindest kann ich aus meiner Erfahrung als Leiterin der Laborschule sagen, dass jene Eltern, die eher skeptisch gegenüber der Laborschule waren, häufig selber mit dem Bildungsaufstieg zu kämpfen und Angst vor dem Abstieg hatten und am kritischsten reagierten, wenn es ihren Kindern in der Schule »zu gut« ging. Eltern, die eher aus akademisch geprägten Kreisen kommen, konnten dagegen meist gelassener damit umgehen, dass es beispielsweise keine vergleichenden Leistungsrückmeldungen wie Noten gab.

Dann gibt es doch eine rationale Begründung, die für das Gymnasium spricht?

Sabine: Nein, dass Kinder an den Gymnasien eine bessere Bildung erhalten, ist eine vollkommen irrationale Haltung. Auf dem Gymnasium in Hamburg haben die Kinder sogar ein Jahr weniger Unterricht, also mehr Druck, mehr Stress, mehr psychische Belastungen. Sie brauchen viel Nachhilfe und trotzdem schicken die Eltern ihre Kinder da hin, komme, was wolle!

Susanne: Wenn man sich die Ergebnisse des Abiturs 2020 in Nordrhein-Westfalen anguckt, sieht man, dass die Abwertung der Gesamtschulen absurd ist: Von allen Abiturient*innen, die eine Gesamtschule besucht haben, hatten nur 21 Prozent eine Gymnasialempfehlung. 79 Prozent haben sogar ein durchschnittlich fast ebenso gutes Abitur geschafft, ohne eine solche Empfehlung. An einem Punkt kann ich skeptische Eltern dennoch verstehen: In Gemeinschaftsschulen muss die soziale Mischung stimmen. Eine Schule ist dann stark, wenn sie die Gesellschaft, so wie sie sich zusammensetzt, widerspiegelt. So wie es in unseren Grundschulen im Großen und Ganzen der Fall ist. Wenn dagegen im Alter von zehn Jahren selektiert wird, stimmt die Mischung in der »zweiten« Säule nicht mehr, müssen Gesamtschulen alle Inklusionsaufgaben alleine und auf einmal lösen.

Dabei hat doch jede Schule, auch das Gymnasium, den Auftrag der Inklusion.

Sabine: Ich erinnere mich an eine hitzige Bürgerschaftsdebatte mit einer CDU-Kollegin. Ich fragte sie, wie sie eigentlich darauf käme, ihren Kindern die Erfahrung inklusiven Lernens vorzuenthalten. Sie war außer sich vor Empörung, hatte aber keine überzeugende Antwort darauf. Das zeigt, dass wir die Debatte andersrum führen müssen: Wie kann es sein, dass trotz des gesellschaftlichen Auftrags der Inklusion eine Schule nahezu frei von diesem Auftrag handelt?

Was sind denn die Argumente der politischen Gegner*innen einer »Schule für alle«?

Susanne: Hinter vorgehaltener Hand sagen auch konservative Politiker*innen, dass eine »Schule für alle« vernünftiger wäre. Aber im selben Satz erklären sie, dass sich das eben nicht bei den Wähler*innen durchsetzen lässt.

Sabine: Die Konservativen werfen uns vor, wir würden einen »Einheitsbrei« fordern. Ihr Argument ist perfide: Kinder hätten nun mal unterschiedliche Talente und die Zweigliedrigkeit fördere diese. An den Gesamtschulen werden praktische Talente gefördert, am Gymnasium die akademischen. Dieses Argument ist absurd. Die Zweigliedrigkeit fördert nicht alle jungen Menschen nach ihren jeweiligen Talenten, sondern teilt sie gemäß ihrer Herkunft in Schulbladen und verschärft die soziale Ungleichheit. Ein einheitlicher Rahmen böte erst die Chance auf individuelle Entfaltung und Entwicklung frei von Stigma und Demütigungen sowie Räume für selbstbestimmtes und selbstorganisiertes Lernen.

Sicher wird von konservativer Seite auch eingewendet, dass eine »Schule für alle« in der Fläche viel zu teuer ist, weil sie etwa mehr Personal erfordert.

Susanne: Natürlich brauchen wir sehr viel mehr Geld für gute Bildung in Deutschland. Andere Länder mit wesentlich höheren Bildungsausgaben führen das beschämend deutlich vor. Aber gute Pädagogik in der Schule hängt nicht in erster Linie an einem Mehr an finanziellen Ressourcen. Hier geht es um eine Haltung, um die Überzeugung, dass der pädagogische Auftrag von Schule vor allem darin liegt, auf die natürliche Lernlust und Lernfreude der Kinder zu antworten, ohne sie allzu schnell durch Vergleiche mit anderen zu entmutigen. Ihnen also zu helfen, sich ein Leben lang selbst- und eigenständig immer weiter zu bilden, und das auf der Grundlage ihrer je eigenen mitgebrachten Ressourcen, ihrer Stärken. Wenn die pädagogische Haltung stimmt, Lernen und Leisten in der Schule neu gedacht und anders gestaltet wird, ist das keineswegs teurer als die herkömmliche Schule, die immer noch auf Zielgleichheit und Gleichschritt setzt. Längst beweisen das Schulen in Deutschland, die unter erschwerten, selektionsbedingten Umständen arbeiten. Noch aber sind sie die »Leuchttürme« und lassen sich nirgendwo flächendeckend finden.

Sabine: Die Finanzierung des Bildungssystems ist momentan ineffizient. Wir geben so viel Geld für Zusatzprogramme, Schulbegleitungen oder Nachhilfe aus, weil die Grundausstattung unterfinanziert ist. Anders gesagt: Wir pumpen jetzt zusätzlich Geld ins System, das am Ende noch nicht mal bei den Kindern ankommt. Wenn man das alles auf Reset stellen würde, dann ist das Geld unterm Strich wirklich nicht unser Problem. Was im Übrigen nicht bedeutet, dass eine Umverteilung des gesellschaftlichen Reichtums nicht dringend geboten ist und Deutschland bei der Bildungsfinanzierung kein riesiges Defizit hat.

Sabine, 2008 ist euer Volksbegehren für eine »Schule für alle« in Hamburg gescheitert. Welche Lehren ziehst du daraus?

Sabine: Das gescheiterte Volksbegehren hängt vielen Aktivist*innen als Trauma in der Bildungspolitik nach. Aber wir haben versucht, den Schalter umzulegen: Viele haben damals gegen unser Vorhaben eingewendet, dass es vollkommen unrealistisch und das Gymnasium sakrosankt sei. Wir haben deswegen gemeinsam mit klugen und sehr erfahrenen Lehrer*innen und Bildungsforscher*innen eine gesetzliche Grundlage geschaffen, um das Gegenteil zu beweisen. Wir sind Paragraf für Paragraf des Hamburgischen Schulgesetzes durchgegangen und haben es aus Perspektive der Schüler*innen umgeschrieben. Dieser Gesetzentwurf für ein inklusives Schulgesetz ist nun unsere politische Grundlage, die sagt: Es ist möglich, wir müssen uns nur trauen und es politisch wollen. Dafür müssen wir jetzt in der Stadt werben und Überzeugungsarbeit leisten.

Und was sind eure nächsten Schritte?

Sabine: Wir wollen mithilfe dieser Gesetzesgrundlage in regionalen Bildungskonferenzen, an denen nicht nur die Schulen eines Stadtteils, sondern auch Sportvereine, Kultureinrichtungen oder Jugendhilfen teilnehmen, ins Gespräch kommen. Diese regionale Zusammenarbeit und die gemeinsame Verantwortungsübernahme für die Bildungswege aller jungen Menschen sind essenziell. Damit streben wir einen Kulturwechsel an: weg von der Konkurrenzstellung der Schulen und Schulformen gegeneinander hin zu einem Miteinander von Grundschulen, Gymnasien und Stadtteilschulen, damit alle Schulen »ihre« Schüler*innen annehmen, fördern und unterstützen und sie nicht mehr aussortieren müssen.

»Blick über den Zaun« ist ein Zusammenschluss reformpädagogisch orientierter Schulen. Ihr sagt: Schulen müssen sich »von unten« und »von innen« verändern. Wie geht das?

Susanne: Schulen, die etwas anders machen wollen, müssen sich gegen den Mainstream verteidigen. Als wir uns im November 1989 gegründet haben, wollten wir diese Schulen durch Vernetzung stärken. Hieß es beispielsweise, dass reformpädagogisch orientierte Schulen gegen Standards und Qualitätssicherung seien, haben wir die »Standards für gute Schulen« entwickelt und ein Evaluierungskonzept durch »kritische Freunde« auf Augenhöhe erprobt. Jede Schule, die bei uns Mitglied sein will, nimmt die Standards als Zielvorgaben der eigenen Schulentwicklung an und lässt sich daran von außen bewerten. Von den damals 18 sind wir inzwischen auf etwa 150 Schulen angewachsen, die sich durch Besuche, Feedback sowie Weiterbildung in Workshops gegenseitig stärken und voneinander lernen.

Susanne, was sind realpolitische Voraussetzungen, damit viel mehr Schulen selbst lernen können?

Susanne: Schulen brauchen deutlich mehr Freiheiten für ihre Weiterentwicklung, deswegen müssen wir darauf drängen, den Normierungsdrang staatlicher Behörden zu drosseln. Sollte etwa die Kultusministerkonferenz wieder darauf drängen, »äußere Leistungsdifferenzierungen« für die Sekundarstufe 1 zu verordnen, liegt darin ein Rückschritt, wird ein mehrgliedriges Schulsystem in integrierte Schulsysteme durch die Hintertür wieder eingeführt. Es scheint nach wie vor unvorstellbar zu sein, dass Kinder mit- und voneinander ebenso gut, wenn nicht gar deutlich besser lernen können als in selektierten Leistungsgruppen. Vielfältige Forschungsergebnisse belegen das ja eigentlich auch. Wieso geht man davon aus, dass hierarchisch strukturierte Behörden mit genormten Leistungskontrollen die Qualität einer Schule besser einschätzen können als ihre critical friends?

Mehr Freiheiten für die einzelnen ­Schulen, ist das ein Gewinnerthema?

Susanne: Eigentlich müsste selbst eine FDP für dieses Mehr an Freiheiten zu gewinnen sein. Und auch der SPD stände es sicherlich gut zu Gesicht, würde sie sich wieder offensiv darauf besinnen, dass sie es war, die einstmals für eine Schule für alle eintrat.

Ist eine »Schule für alle« zu fordern, vielleicht ein Schritt zu schnell?

Sabine: Das kommt auf die gesellschaftliche Stimmung an. Ende der 1980er Jahre gab es einen bildungspolitischen Aufbruch. In Hamburg wurden in den Grundschulen Integrationsklassen gegründet, daraus entwickelten sich später über 30 integrativ arbeitende Grundschulen. Außerdem gab es eine starke Gesamtschulbewegung. Hätte es damals den kollektiven politischen Willen und die damit verbundene Bereitstellung notwendiger Ressourcen gegeben, wäre die Einführung der »Schule für alle« in Hamburg vielleicht machbar gewesen.

Was gibt dir Hoffnung, dass sich das Blatt noch einmal wendet?

Sabine: Im Homeschooling während Corona haben viele Eltern intensiv erfahren, was Schule bedeutet, und ein stärkeres Interesse an Bildungspolitik entwickelt. Da lässt sich ansetzen. Was mich persönlich antreibt weiterzukämpfen, ist erstens, dass ich die soziale Ungerechtigkeit, die das Bildungssystem mitzuverantworten hat, einfach nicht akzeptieren kann. Zweitens kann ich aus meiner eigenen Erfahrung mit meinen Kindern an einer guten Gesamtschule sagen, dass das, was diese jungen Menschen an Selbstbewusstsein und an Verständnis für ihre unterschiedlichen Herkünfte dort lernen, sie ein Leben lang begleitet und »schult«. Ich möchte, dass diese Erfahrung alle Kinder machen können.

Sind die Erfolgsgeschichten zu unbekannt?

Susanne: Erfolge integrierter Schulsysteme und die entsprechenden Forschungsergebnisse schaffen es selten in die Presse, noch seltener in die konservativ ausgerichtete. Das ist eines der Probleme, die wir bearbeiten müssten.

Sabine: Vielen Eltern und auch Politiker*innen fehlen die konkreten Bilder von guten Schulen. Häufig überwiegen die eigenen Erfahrungen, nach dem Motto »Mit der Schule beginnt der Ernst des Lebens«. Leider sind das häufig noch die Vorstellungen, die das tradierte Bild von Schule prägen. Der Begriff »Kuschelpädadgogik« ist fast schon zu einem Kampfbegriff gegen jegliche reformpädagogischen Ansätze geworden.

Was motiviert dich, weiterzumachen?

Susanne: Die vielen ermutigenden Praxiserfahrungen in der Arbeit mit Kindern und Jugendlichen, denen Lernen Freude macht – und die vielen Pädagog*innen, die ihre Arbeit wichtig nehmen und lieben.

Das Gespräch führte Rhonda Koch.