| Der realistische Träumer

Dezember 2021  Druckansicht
Von Ingar Solty

Am 3. Dezember würde der Schriftsteller, Liedermacher und Kommunist Franz Josef Degenhardt 90 Jahre alt werden. Er ist einer der großen westdeutschen Künstler, scharfsinnig und pointiert in der künstlerischen Entlarvung der bestehenden Machtverhältnisse. Und voller poetischer Zärtlichkeit im Erträumen eines solidarischen Lebens und einer besseren Welt.

 

Vor 10 Jahren verstarb kurz vor seinem 80. Geburtstag der Schriftsteller und Liedermacher Franz Josef Degenhardt. Wäre er nicht Kommunist geworden und seinen kommunistischen Überzeugungen auch nach 1989 treu geblieben, würde ihn das bürgerliche Feuilleton heute so feiern, wie es das vor seinem Weg zur kommunistischen Weltbewegung getan hatte.

Die Biographie von Franz Josef Degenhardt besitzt unzählige Facetten: Zu würdigen wäre der Belletrist, der angefangen von seinem 1973 erschienenen, autobiographisch eingefärbten Erstlingswerk „Zündschnüre“ über Heranwachsende in der Endphase des Dritten Reiches bis zu seinem 1999 veröffentlichten Roman „Für ewig und drei Tage“ über die Zeit des Zusammenbruchs des Realsozialismus sieben erfolgreiche und literarisch hochwertige Romane und ein Kinderbuch veröffentlicht hat. Gewürdigt werden könnte durchaus auch der Wissenschaftler Franz Josef Degenhardt, der 1966 mit einer Arbeit über „Die Auslegung und Berichtigung von Urteilen des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaft“ promovierte. Schließlich wäre auch der praktische Jurist und politische Mensch Franz Josef Degenhardt zu würdigen, der als Linksanwalt der APO und öffentlicher Intellektueller in Publizistik, Radio und Fernsehen jahrzehntelang präsent gewesen war.

Konzentriert werden soll sich hier auf den Liedermacher Degenhardt. In dieser Rolle kennt man ihn vor allem. Und als Liedermacher hat er in seinen auf 26 Originaltonträgern veröffentlichten Liedern eine Chronik der Bundesrepublik Deutschland hinterlassen, die dieser nicht unbedingt schmeichelt. Zu den herrschenden Verhältnissen in der BRD stand der am 3. Dezember 1931 in Schwelm in Westfalen geborene „Karratsch“ in kompromissloser Gegnerschaft. Als Heranwachsender und junger Mann hatte er miterlebt, wie – entgegen der weitverbreiteten Hoffnungen auf einen wirklichen Bruch mit dem Faschismus – die alten Macht- und Eigentumsstrukturen restauriert wurden, aus denen der Faschismus einst entstanden war. Vor dem Wiedererstarken faschistischer Bewegungen warnte er in seinen Liedern immer wieder – so z.B. in „Wölfe mitten im Mai“, das entstand kurz bevor die von faschistischen Altkadern gegründete NPD in mehrere Landtage Westdeutschlands einzog. Dass Degenhardt, der wegen eines Wahlaufrufes zugunsten der neugegründeten DKP zuvor aus der SPD ausgeschlossen worden war, sich mit Liedern wie „Kommt an den Tisch unter Pflaumenbäumen“ oder „Ja, dieses Deutschland meine ich“ klar zu jenem Staatenblock zwischen Elbe und Stillem Ozean bekannte, der den Anspruch erhob, eine sozialistische Alternativgesellschaft zum Kapitalismus aufzubauen, darauf reagierte man mit dem westdeutschen Modus der Zensur: Medialem Boykott. Seinem großen Erfolg tat dies nur zum Teil Abbruch.

Stilistisch war Degenhardt so internationalistisch wie in politischen Dingen. Er stellte den Brückenschlag her zwischen Deutschland und Frankreich, Vorfaschismus und Nachfaschismus, West und Ost. Er integrierte mittelalterlichen Bänkelgesang und französisches Chanson („Junge Paare auf Bänken“, „Das Testament“, „Lied für die ich es sing“, „Rosen im Schnee“), Weimarer Kabarettkunst („Emigranten-Choral“) und Arbeiter-Kampflied („Wilde Gesellen“, „In Hamburg fiel der erste Schuß“, „Kirschenzeit“), den „singenden Proletarierjournalismus“ Nordamerikas a la Woody Guthrie u.v.m. So half Degenhardt, einen Liedermacherstil mitzubegründen, der, wenngleich seine Hochzeiten einstweilen vorbei sind, von Dieter Süverkrüp bis Marc-Uwe Kling seit einem halben Jahrhundert ein nicht mehr wegzudenkender Bestandteil der populären Kultur ist. Kein Wunder, daß der zeitgenössische singende Journalismus, der traditionsbewusste politische Rap, dem Vorgänger Tribut zollte und in Gestalt der Lüdenscheider Rap-Veteranen Anarchist Academy mit einer eigenen Version seines wohl bekanntesten Liedes „Spiel nicht mit den Schmuddelkindern“ die Ehre erwies und sich an der Maxime orientierte: „knallharter Gegenpart, radikal wie Degenhardt“.

Degenhardts Lieder haben Literatur im emphatischsten Sinne geschaffen. Seine Texte funktionieren als eigenständiges Erkenntnismedium. Sie sind bewusstseinsbildende Gegenwartsabbildungen, die auf Veränderung abzielendes Handeln erst ermöglichen. Degenhardts Spottlieder der frühen 1960er Jahre wie das Schmuddelkinder-Lied, „Rumpelstilzchen“, „Horsti Schmandhoff“, „So sind hier die Leute“, „Notar Bolamus“ oder „Deutscher Sonntag“ beschrieben die Kleinbürgerlichkeit des fordistischen Intermezzos zwischen Faschismus und Neoliberalismus und überwanden sie zugleich, indem er sie seinem beißenden Spott aussetzte. So brachte Degenhardt einen sich vor dem Hintergrund der Vollbeschäftigung vollziehenden gesellschaftlich-kulturellen Wandel zum Ausdruck, den er, dessen Lieder von Hunderttausenden erkannt, nachgesungen und nachgespielt wurden, an vorderster Front mitbeförderte. Um mit einer zunehmend entscheidenden Inspirationsquelle Degenhardts, mit Karl Marx, zu sprechen: Degenhardt brachte die scheinbar versteinerten Verhältnisse dadurch zum Tanzen, indem er ihnen ihre eigene Melodie vorsang.

Alsbald zeichnete sich jedoch ab, dass man den revolutionären Charakter von 1968 überschätzt hatte („Nostalgia“). Die „Sixties“, so formulierte es sein kanadischer Liedermacherkollege Leonard Cohen, „dauerten nur 15 Minuten“. Eine Ursache sah Degenhardt, der mit Liedern wie „Vatis Argumente“, „P.T. aus Arizona“, „Entschuldigung eines alten Sozialdemokraten“ und „Fast autobiographischer Lebenslauf eines westdeutschen Linken“ zur Ikone des Protests geworden war, in den liberal-individualistischen Strömungen innerhalb der 68er-Revolte, gegen die er sich mit Liedern wie „Die Wallfahrt zum Big Zeppelin“ richtete. Die kämpferischen Zuspitzungen behielt Degenhardt auch in den 1970er Jahren bei. In seiner sarkastisch-bösen Kritik an den Ausverkäufern der Revolution von 68 nahm er eine literarische Tradition wieder auf, die von historischen Vorläufern wie Georg Weerth nach 1848 oder Kurt Tucholsky und Bertolt Brecht nach 1918 in Bezug auf die gescheiterten Revolutionen ihrer jeweiligen Zeit begründet worden war. Und obschon Degenhardt Tucholsky, dessen juristische Texte er in einem Sammelband (Kurt Tucholsky: „Politische Justiz“, Rowohlt Verlag, 1970) einleitete, sehr schätzte, unterschied er sich von ihm jedoch in einem entscheidenden Punkt: „Als Kommunist“, wie eines seiner späteren Lieder heißt, nahm Degenhardt die sozialliberalen Illusionisten und Opportunisten unnachahmlich treffend aufs Korn; und dennoch gelang ihm in Liedern wie „Wildledermantelmann“ am Ende stets jener präzise dialektische Zugriff, der die Grenze zwischen revolutionärer Realpolitik und Sektierertum markiert.

Es waren aber nicht nur die deutschen Verhältnisse, die er beschrieb. Wie jenseits der Elbe die befreundeten Reinhold Andert oder Hartmut König zeigte der Internationalist Degenhardt auch ein besonderes Gespür für die historische Bedeutung der antikolonialen Bewegungen und Revolutionen der Zeit, die ein entscheidendes Moment der linken Vorwärtsepoche zwischen 1965 und 1975 bildeten. Dem fortschrittlichen Antiimperialismus verpflichtete sich FJD mit Liedern, die die Brennpunkte der westlichen Linken im Kalten Krieg besangen: Lieder widmete er sowohl den Kämpfen gegen die südeuropäischen Diktaturen („Portugal“, „Grandola vila morena“, „Für Mikis Theodorakis“) als auch den nationalen Befreiungsbewegungen im globalen Süden – von Vietnam („Ein schönes Lied“, „Das Ereignis am Mondfalterfluß im Mai 1968“, ) über Peru („Fiesta Peruana“) und Chile („Station Chile“) bis Grenada („Diesmal Grenada“). Dabei verstand es sein Antiimperialismus, stets die Klassendimension mitzudenken. Immer wieder betonte Degenhardt die Existenz eines anderen Amerikas neben dem des Imperialismus („Angela Davis“, „Ja, das ist die Sprache der Mörder“). Auch übertrug er das berühmte amerikanische Protestlied „Here’s to You“ von Joan Baez als „Sacco und Vanzetti“ ins Deutsche.

Das Aufkommen der Neuen Sozialen Bewegungen kommentierte Degenhardt aus marxistischer Perspektive kritisch-solidarisch. Von 1973 stammt das feministische „Moritat Nr. 218“; „Im Gonsbachtal“ ist der ökologischen Frage gewidmet; 1982 entstand die bewegende „Ballade vom Edelweißpiraten Nevada-Kid“ über einen schwulen Antifaschisten. Der verbürgerlicht-entpolitisierten Ökobewegung, die fließend von „Ho Ho Ho Chi Minh“ zu „Ho Ho Holzspielzeug“ überging, setzte er in „Rondo Pastorale“ ein traurig-nachdenkliches Denkmal. Den Irrweg des kleinbürgerlichen Linksterrorismus von RAF und Co. ironisierte er in „Bumser Pacco“. Dem seit der Krise des Fordismus wachsenden Rassismus gegen zugewanderte Arbeiter widmete Degenhardt zahlreiche Lieder wie „Tonio Schiavo“.

Degenhardt war aber nicht nur sehender Zeitgenosse. Die Qualität seiner Kunst erweist sich nicht zuletzt daran, dass seine künstlerische Sensibilität ihn auch zum zeitgenössischen Seher werden ließ. So witterte Degenhardt wie kaum jemand anders gesellschaftliche Tendenzen und warnte vor zukünftigen Entwicklungen. Die Kooptation und Einschreibung der 68er-Bewegung in den Neoliberalismus sah er früh und präzise voraus. Davon zeugt das bemerkenswerte „Arbeitslosigkeit“ von 1977. Und während viele Intellektuelle Reagan, Thatcher und Strauß/Kohl noch für konjunkturelle Pendelbewegungen des Politischen hielten, konstatierte Degenhardt 1980 mit beeindruckender Weitsicht und analytisch bestechender Präzision „Der Wind hat sich gedreht im Land“ – ein Lied, in dem er die neoliberale „Konterrevolution“ aus der Perspektive der Bourgeoisie schilderte.

Als die Rückwärtsbewegung der Linken zehn Jahre später in den Kollaps des Realsozialismus und die Neoliberalisierung westlicher Sozialdemokratien mündete, bewies Degenhardt, dass er seinen historischen und fiktiven Vorbildern – darunter die Kommunisten Rudi Schulte und Natascha Speckenbach – in nichts nachstand. 1973 hatte er dem Bauernführer Joß Fritz ein musikalisches Denkmal gesetzt, das den Untertitel „Legende von der revolutionären Geduld und Zähigkeit und vom richtigen Zeitpunkt“ trug. Im Refrain dieses Liedes, das wie so viele seiner Texte von zeitlosen Tiermetaphern geprägt ist, heißt es: „Lasst nicht die roten Hähne flattern, ehe der Habicht schreit“. Als 1989/91 viele Kommunisten zusammen mit DDR und Sowjetunion auch den Kommunismus als solchen begruben („Wer jetzt nicht tanzt“, „Und am Ende wieder leben“, „Quantensprung“), da bewies Degenhardt langen Atem. Weil er die – menschheitsgeschichtlich betrachtet – kurze Geschichte des Kapitalismus kennt, war ihm klar, dass nicht er der Träumer war, weil er weiter an der Idee des Kommunismus und zukünftigen Sozialismusversuchen – dann wohl auch in entwickelten Ländern – festhielt („Weiter im Text“). Träumer, das waren die, die sich einen schnuckligen Kapitalismus vorstellten, ganz ohne Krise und Krieg und dazu Wohlfahrt ganz ohne Klassenkampf. Mit der gebotenen Nachdenklichkeit und der gestatteten Melancholie betrauerte er auf den insgesamt neun nach 1989 entstandenen Alben Vergangenes und Verlorenes („Später“, „Laute von damals“, „Tanz im Freien“, „Dämmerung“, „Sie ist in den Wald gegangen“). Er vergaß jedoch nie, den Blick weiter nach vorne zu richten. „Am Fluß“ sinnierte er über die Zukunft der kommunistischen Befreiungsperspektive. Und in diesen Fluß warf er seine Flaschenpost, die als „Botschaft an meine Enkelin“ nach 20 Jahren und einer Weltwirtschaftskrise endlich ihr Ziel erreicht zu haben schien. Von Kairo bis Tunis, von Tel Aviv bis Madrid, von Madison/Wisconsin und New York waren es die postfordistischen Enkel, die die Prekarität als die eigentliche Normalität des Kapitalismus zu begreifen lernten und dagegen aufbegehren.

Das Auftaktjahr der Krise 2008 war auch das Jahr, in dem sich FJD in den verdienten Ruhestand begab. Er besang die kapitalistische Überakkumulation in „Die Ernte droht“ und reichte anschließend den Staffelstab der revolutionären Kunst weiter – nicht zuletzt an seine beiden Söhne: Kai und Jan. Das eine wache Auge im Grünen bei Hamburg weiter ungetrübt auf die Zeitläufte gerichtet, blickte er mit dem anderen auf 45 Jahre künstlerische Ausnahmeproduktion zurück. In dieser Zeit hat FJD viele Träume geträumt. Manche davon platzten. Aber während der globale Kapitalismus in der Krise vielen seiner früheren Weggefährten die Trümmer ihrer Träume von der Harmonisierung von Kapital und Arbeit oder gar der Marktsozialdemokratie vor die Füße warf, vermochte Franz Josef Degenhardt auf seinem letzten Album mit Stolz ein Gedicht von Louis Fürnberg vertonen und singen: „Jeder Traum, an den ich mich verschwendet, jeder Kampf, da ich mich nicht geschont, jeder Sonnenstrahl, der mich geblendet, alles hat am Ende sich gelohnt.“

Bei diesem Text handelt es sich um die überarbeitete Fassung eines Essays, der als „Liner Notes“ im Booklet der 4CD-Werkausgabe von Franz Josef Degenhardt („Gehen unsere Träume durch mein Lied“) abgedruckt wurde, die 2011 von seiner Schallplattenfirma Koch/Universal herausgegeben wurde und die sich als Einstieg in das Werk des Künstlers hervorragend eignet.