| Der Front National – Metamorphosen und Skandale einer »neurechten« Partei

März 2017  Druckansicht
Von Sebastian Chwala

Europa zittert vor den Wahlen in Frankreich, die am 7. Mai abgehalten werden. Denn ein Wahlsieg von Marine Le Pen könnte nach dem Brexit-Votum in Großbritannien im vergangenen Jahr der europäischen Union den Todesstoß versetzen und Europa schnurstracks zurück in die Vergangenheit befördern, wie die Frankfurter Allgemeine Zeitung jüngst befürchtete (Frankenberger 2017). Kein Wunder, dass medial alles getan wird, um den Front National (FN) als »populistische Gefahr« für das demokratische politische System darzustellen. Französische Journalist*innen und Teile des Wissenschaftsbetriebes, oftmals jene, die in Beraterstäbe der regierenden Parteien eingebunden sind, haben so in der Vergangenheit eine imense Menge an Literatur und journalistischen Artikeln produziert, welche dazu beigetragen haben, dass der FN heute im allgemeinen als Antiestablishment-Bewegung und Volkspartei, kurz »populistisch« wahrgenommen wird (Collovald 2004). Der FN ist auch das ungewollte Kind der Medien.

Sicherlich, manche Beobachter*innen verweisen nicht ganz zu Unrecht darauf, eine neue, linke Diskursstruktur innerhalb des FN entdeckt zu haben (Alduy/Wahnich 2015). Doch diese oberflächliche Betrachtung übersieht, dass es sich mehr um – durchaus wirksame – taktische Manöver einer phasenweise marginalen politischen Strömung, als um ein wirkliches politisches Angebot handelt. So sind Tarnung und Verstellung Gründungsmerkmale des FN, seit er 1972 aus der Taufe gehoben wurde.

Eine Partei mit Geschichte

Ziel war es, innerhalb des politischen Systems zu wirken, während im Inneren der Organisation weiterhin Rassisten, Faschisten und Konterrevolutionäre den Ton angaben. Der offizielle Diskurs war geprägt von wirtschaftsliberalen und antimarxistischen Positionen und richtete sich in erster Linie an kleinbürgerliche Milieus, die als das ökonomische Herz Frankreichs dargestellt wurden, denen man Bürokratieabbau und Ausschaltung der Gewerkschaften versprach (Ruffin 2014). Eine Bedingung, wollte man die bürgerlichen Milieus im Ringen um gesellschaftliche und ökonomische Deutungshoheit gewinnen.

Dieser Spagat – zwischen dem klassischen Marktliberalismus der Parteiführung und den antiliberalen und antiegalitären Positionen der »Neuen Rechten«, die ein neoliberale US-amerikanisches Regime ablehnten und eine prächristliche, streng hierarchisch aufgebaute Gesellschaft, orientiert an der „organischen“ keltischen Stammesgesellschaft, anstrebten, in der ökonomische Fragen den politischen Notwendigkeiten untergeordnet sein sollten (Dard 2011, 89) – ließ den FN in den 1970er Jahren eine Splittergruppe bleiben.

Es waren erst die Kreise um Bruno Mégret, denen es in den 1980er Jahren gelang, die Respektabilität des FN zu steigern und ihn aus der Schmuddelecke zu holen. Sie hoben einen wissenschaftlichen Beirat aus der Taufe, der dabei half, die Rechte argumentativ mit  fremdenfeindlichen Law-and-Order-Positionen auszustatten und diese als objektiv erscheinen zu lassen. Ebenso begannen sie, Strukturen zur Qualifizierung der Parteimitglieder aufzubauen, um auf diesem Wege den Aktivist*innen ihren rechten Verbalradikalismus auszutreiben. Damit sollte mittelfristig der Weg zur Macht geebnet werden. Bereits 1986 verzeichnete man erste Erfolge, als zum ersten Mal eine FN-Fraktion in die Nationalversammlung einzog. Nur ein kleiner Teil der gewählten Abgeordneten hatte eine rechtsradikale Vita vorzuweisen (Dézé 2012, 75ff).

Demzufolge hatten die großbürgerlichen ENA-Absolvent*innen, die vor ihrer Zeit beim FN erst in gaullistischen und rechtsliberalen Parteien Karriere gemacht hatten, eine Scharnierfunktion inne. Sie zeigten, dass der FN nicht gewillt war, eine Partei für gesellschaftliche Außenseiter zu sein, wie gerne kolportiert wird. Dementsprechend sah auch das programmatische Angebot aus. Entstaatlichung sämtlicher Bereiche der Volkswirtschaft und der Sozialsysteme und die Beschränkung des Staates auf unmittelbare Ordnungsfunktionen. Darüber hinaus träumte der FN weiterhin von der politischen Kaltstellung der Gewerkschaften. Man sparte aber auch nicht mit Demagogie. So forderte man tatsächlich den Ausbau basisdemokratischer Mitbestimmung in Form von Referenden und die Stärkung der Rechte des Parlaments auf Kosten von Präsident und Regierung. Nur machten derartige Forderungen wenig Sinn, da gleichzeitig der Kampf gegen die politische und gesellschaftliche Gleichheit das alles bestimmende Grundmotiv der radikalen Rechten blieb. So sollten alle demokratischen Strukturen im Bildungssystem, im öffentlichen Dienst aber auch in der Privatwirtschaft durch hierarchisch strukturierte Funktionsmechanismen ersetzt werden (Le Pen 1985).

Die ›postsowjetische‹ Wende – die radikale Rechte auf der Suche nach dem »starken Staat«

Dennoch, es war auch Mégret, der versuchte, Arbeitermilieus mehr und mehr an den FN zu binden, indem ab den 1990ern Globalisierung und Massenarbeitslosigkeit in die Agitationsstrategien einbezogen wurden. Der ›starke Staat‹ sollte jetzt, nach dem Niedergang der Sowjetunion, nicht mehr vor dem Kommunismus schützen, sondern die »Wiedergeburt unserer Zivilisation«, also die Bewahrung der eigenen Identität, ermöglichen (VISA 2012, 4). FN-nahe Gewerkschaften, die Ende der 1990ziger Jahre aufgebaut wurden, sollten dabei helfen eine organisatorische Verankerung der Partei jenseits bürgerlicher Milieus zu schaffen. Ihnen war allerdings kein Erfolg beschieden, kritisierten sie doch die eigentliche Aufgabe von gewerkschaftlicher Aktivität, den Aufbau von innerbetrieblicher Gegenmacht (Schmid 1998).

Genau diese Strategie übernahm Marine Le Pen, als sie 2011 den Parteivorsitz übernahm. Eine Politik der scheinbaren »Entradikalisierung« auf allen Ebenen, um in allen Bevölkerungsschichten punkten zu können, ohne den Kern der Zielsetzungen der radikalen Rechten aufgeben zu müssen. Sie stehe für eine »Politik des sozialen Mehrwerts, schrieb sie in ihrem Buch »Contre Flots« (Le Pen 2011). Die Aufgabe eines starken, national handlungsfähigen Staates sei es, die soziale Not zu beseitigen, wozu protektionistische ökonomische Strukturen (VISA 2012, 4) geschaffen werden müssten.

Allerdings bot der FN und Marine Le Pen den Lohnarbeiter*innen schon im Wahlprogramm 2012 wenig an konkreten sozialen Verbesserungen an. Zwar sollten Preise für Gas und Benzin eingefroren werden. Dagegen kam der Mindestlohn nicht einmal zur Sprache und die öffentliche Wohnraumversorgung sollte vollends privatisiert werden (Hayot 2014). Statt einer Forderung nach mehr Steuergerechtigkeit, lagen für den FN sämtliche Entlastungspotenziale des Staatshaushaltes im Stoppen der Migration und der Beseitigung von Betrugsstrukturen in den Sozialversicherungssystemen. Hier sah der FN Sparpotenziale von angeblich 54 Milliarden Euro. Diese sollten dann in Form von Steuersenkungen den französischen Klein- und mittelständischen Betrieben zugute kommen, die den Dreh und Angelpunkt der nationalen Reindustrialisierungspolitik des FN bildeten – freilich ohne die Beteiligung der Gewerkschaften, die, in den Augen der Frontisten, immer noch nicht bereit waren, sich an der korporatistischen nationalen Produktionsgemeinschaft zu beteiligen und deshalb ersetzt werden müssten durch Standesorganisationen. Auch massive Repression gegenüber Erwerbslosen durch die Arbeitsagenturen waren vorgesehen (VISA 2012, 13ff).

Gegenwärtig spielt die Arbeiterklasse zwar eine große Rolle in den Reden und Artikeln über den FN, deren explizite Interessen spielen jedoch in den konkreten Programmen des FN keine Rolle. Verschwunden sind auch die Forderungen nach »Mehr Demokratie« aus den 1980er Jahren. Im Mittelpunkt von allem steht die ›Nation‹. Die Stärkung der nationalen Souveränität Frankreichs diene nicht nur zur Stabilisierung der inneren Verhältnisse, sondern auch der Stärkung ›französischer Werte‹ in der Welt, die sowohl kulturelle als auch politische Fragen umfassen und der Dominanz der USA ein Ende bereiten sollen.

Alles andere verblasst zum Nebenwiderspruch und muss durch harte autoritäre Maßnahmen auf Linie gebracht werden. So sollen im Bildungssystem demokratische Beteiligungsstrukturen durch Disziplinarkommissionen ersetzt werden. Darüberhinaus sollen die Bildungsinhalte grundsätzlich das Ziel haben, die Unterordnung unter eine einseitig definierte, vermeintlich gemeinsame Identität ins Zentrum zu stellen, anstatt die kritische Reflexionsfähigkeit der Schüler*innen zu fördern (VISA 2017). Denn nur eine gemeinsame Geschichte, Kultur und Sprache ermöglichten das Zusammenleben und die Herausbildung einer eigenen tragfähigen Basis, auf der eine Gesellschaft funktionieren könne, wie Le Pen es während der Hauptrede im Rahmen der Sommeruniversität des FN in Fréjus Mitte September 2016 sinngemäß formulierte, und dabei implizit migrantische, muslimische Milieus ausschloss.

Das alles bedeutet nicht, dass der FN sich nicht zu wirtschaftspolitischen und sozialen Fragen äußern würde. So machte Marine Le Pen im Sommer 2016 in einem Interview in der extrem rechten Wochenzeitung Valeurs actuelles deutlich, welche Wünsche der FN für die nächste Legislaturperiode habe: das Renteneintrittsalter erhöhen, die 39-Stunden-Woche wieder einführen, die Anhebung des Mindestlohnes soll nicht von den Unternehmen, sondern durch eine Importsteuer finanziert werden, deren Durchsetzung innerhalb der EU-Institutionen mehr als unwahrscheinlich wäre. Letzteres ist umso interessanter, da der traditionalistische Flügel der Partei, der sich um Marine Le Pens Nichte Marion gruppiert, einem EU-Austritt inzwischen kritisch gegenübersteht (VISA 2016: 15).

Umverteilt wird nach ›oben‹ und in die eigene Tasche

Auf der Ebene der regierten Gemeinden ist die klare antisoziale und wirtschaftsliberale Orientierung der Partei ohnehin am besten sichtbar. Dort ist das große Ziel, die uralte Forderung des FN nach rigoroser Steuersenkung für die Mittelklassewähler*innen durchzusetzen. Dies führt dazu, dass städtische Subventionen für soziale Aufgaben rücksichtslos gekürzt werden.

Besonders betroffen sind davon Erwerbslose und einkommensschwache Familien, denen die Sozialtarife in den Schulkantinen gestrichen wurden und deren Kindern in der Folge rücksichtslos der Zugang zum Schulessen verwehrt wurde. Ebenso kürzten die FN- Bürgermeister ihren Schulen Mittel zur Anschaffung von Lehrmaterialen um mehr als ein Viertel. Bisher kostenfreie nachschulische Betreuungsangebote wurden kostenpflichtig. Und da der FN es nicht für eine gemeinwohlpflichtige Aufgabe hält, kommunale Sozialpolitik zu finanzieren – laut dem Bürgermeister von Mantes-la-Ville, Cyril Nauth, eine fast schon »kommunistische Angelegenheit« –, geht es den Sozialzentren an den Kragen, die in der Folge Personal entlassen mussten (VISA 2016, 33ff). Dieses Vorgehen ist besonders zynisch, sind diese Zentren doch oftmals Anlaufpunkte gerade für junge Menschen, die sonst auf der Straße sich selbst überlassen wären und dann dort als jene ›Störung der öffentlichen Ordnung‹ wahrgenommen würden, welche die Frontisten an anderer Stelle so gerne kritisieren.

Marc-Etienne Lansade, FN- Bürgermeister im südfranzösischen Cogolin, gelegen an der Côte D`Azur, brüstet sich sogar damit, dass seine kommunalen Bauprojekte »keinerlei soziale Merkmale« aufweisen. Im Gegenteil, der Ex-Immobilienmakler plant »seine« Gemeinde zum touristischen Tummelplatz für Wohlhabende auszubauen, auf Kosten von Ferienunterkünften für die untere Mittelklasse. So schweben dem Immobilienmakler ein millionenschwerer Umbau des Hafens und die Beseitigung eines Campingplatzes zugunsten hochpreisiger Ferienappartements vor, der sich allerdings in bester Strandlage befindet, ein ›Filetstück‹ sozusagen. Und zwar auf Kosten eines durch diese Projektentwicklungen schon jetzt stark überschuldeten Haushaltes. Es gibt deshalb nicht wenige, die Lansade unterstellen, aus persönlichen Interessen heraus das Amt des Bürgermeisters angestrebt zu haben (Destal 2016).

Auch in Fréjus lässt Bürgermeister Racheline, immerhin designierter Wahlkampfleiter Marine Le Pens, keinen Zweifel daran, mit wem die Stadtverwaltung unter seiner Führung gerne Geschäfte macht. Nämlich mit den alten politischen Freunden aus der rechtsradikalen Szene, allesamt in der Werbe- und Finanzbranche tätig; ihnen werden bevorzugt öffentliche Aufträge zukommen gelassen (Turchi 2014).

Wenn es also ums Geld geht, halten es die Saubermänner und -frauen des FN nicht viel anders, als die in Frankreich tatsächlich ziemlich korrupten Vertreter*innen der sozialdemokratischen und konservativen Parteien. Man versucht sich zu bereichern. Allen voran praktiziert das der Le Pen-Clan höchst selbst. Schließlich soll der Millionenerbe Le Pen senior schon immer »verrückt geworden sein«, sobald das Thema Geld angesprochen wurde. Verständlich, schließlich ist das System FN ein Privatunternehmen der Familie Le Pen, die es in den letzten gut 30 Jahren relativ erfolgreich geschafft hat, ihre Rendite aus der Partei zu ziehen. So wurden Erbschaften, die der Partei vermacht wurden, einfach in die Taschen der Le Pens umgeleitet und mithilfe von Mikroparteien (wie »Jeanne«) Spendengelder in Parallelhaushalten verwaltet und nur bei Bedarf an den FN weitergeleitet (Turchi 2016). Letzter offensichtlicher Interessenkonflikt, in dem noch eine endgültige Entscheidung aussteht, ist der Vorwurf, dass Gelder der Mikropartei Jean-Marie Le Pens zum Kauf einer Immobilie von der Familie missbraucht wurden (Delattre/Labbé 2016). Die Vermögenswerte im Immobiliensektor über die die Familie Le Pen verfügt, dürften im Millionenbereich liegen. Das ist problematisch, wenn man sich als Vertreter*in der ›kleinen Leute‹ darstellen möchte, weshalb Marine Le Pen in ihrer offiziellen Vermögensauskunft den Wert des familiären Vermögens um fast zwei Drittel schrumpfen ließ – und den Verlust des passiven Wahlrechts für etliche Jahre riskiert (Le Monde 2016).

Marine Le Pen änderte die Vorgehensweise ein wenig und ließ, ähnlich wie Racheline, ihre alten ultrarechten Studienkollegen[i] an ihrem Aufstieg zur Parteichefin finanziell partizipieren, die sogenannte GUD connection entstand. Diese fanden auch bei der Werbeagentur Riwal von Frédéric Chattilon finanziell Unterschlupf, deren Gebahren ein Fall für den Staatsanwalt ist. So hatte Riwal den Kandidat*innen des Front National für die Parlamentswahlen überteuerte Wahlkampfmaterialien verkauft, welche diese mit einem ebenfalls deutlich überteuertem Kredit finanzieren mussten, den ihnen Marine Le Pens Mikropartei »Jeanne« zur Verfügung stellte und den sie anschließend über die Wahlkampfkostenerstattung absetzen konnten. Während ein Teil der Erlöse bei »Jeanne« verblieb und Marine Le Pen die Möglichkeit bot, »Finanzreserven« jenseits ihres Vaters aufzubauen, wanderte der Rest in die Tasche von Riwal, und damit von Chatillon, der auf diese Weise Renditen von über 50 Prozent erzielte (Challenges 2016).

Weder sozial noch demokratisch – Der FN zementiert die Klassengesellschaft

Man kann also bilanzieren, dass der FN keineswegs eine Partei ist, der daran gelegen wäre, politische Alternativen zum Bestehenden anzubieten. Es war auch niemals sein programmatisches Ziel, soziale Verwerfungen zu überwinden und mehr Gleichheit zu schaffen. Im Gegenteil, die Idee einer zutiefst ungleichen, elitären Gesellschaft ist Teil ihrer politischen DNA. Im Denken der radikalen Rechten würde »Gleichheit« bedeuten, mit der Herrschaft der Starken und des ›natürlichen Wettbewerbs‹ zu brechen. Ihre Kritik an den herrschenden Eliten besteht dagegen darin, dass diese durch ihre angebliche Politik der Gleichmacherei und der sozialen Undurchlässigkeit nach oben, den ›natürlichen Selektionsprozess der Besten‹ verhinderten. Das Ziel des Front National und seiner Spitzenleute ist es daher auch nicht, ein neues politisches System zu schaffen, welches Klüngelstrukturen und Bereicherung auf Kosten der Steuerzahler*innen abschafft. Im Gegenteil, auch die Akteure aus der radikalen Rechten nutzen ihre politische Macht unmittelbar zum eigenen Nutzen aus.Da all das aber nicht zum Verlust der Attraktivität des FN führt, wird schnell deutlich, dass den Erfolg des „Front“ nicht einfach nur als Ergebnis eines politischen Überzeugungswandels der Wähler*innen zu definieren ist. Seine Wählerschaft ist sehr heterogen und setzt sich aus nterschiedlichen sozialen Milieus zusammen. Bedenkt man, dass der Anteil „politisierter Milieus“ und damit überzeugter Wähler*innen in Frankreich kaum 15 bis 20 Prozent übersteigt, führen die verschiedensten Gründe zur zeitweiligen Unterstützung der Partei. Nur bei sozialen Akteuren, die sich innerhalb der Partei organisieren oder sich im Umfeld der Partei bewegen, findet man eine kohärente Zustimmung zur Programmatik. Manche Wähler*innen wollen nur ein Zeichen setzen und möchten auf keinen Fall, dass diese Partei tatsächlich Wahlen gewinnt, andere stimmen aus einer tiefen Abneigung gegen das politische System für den FN (Gaxie 2017, 61).

Selbst einem der Kernelemente des politischen Programms, dem Austritt aus der EU und der Wiedereinführung des Franc, stimmt eine große Gruppe der FN-Wähler*innen nicht zu. Ähnliches gilt für das vom FN geforderte Verbot des Schwangerschaftsabbruchs und der inzwischen legalen gleichgeschlechtlichen Ehe (Baltier 2016). Die Eindämmung der Migration und ein stärkerer Ausbau der Sicherheitsapparate finden starken Rückhalt bei Angehörigen der unteren sozialen Klassen. Gleichzeitig wählen vor allem klassische kleinbürgerliche Milieus, die sich gegen hohe Steuern und einen starken Sozialstaat aussprechen, den FN. Ein starker Sozialstaat findet wiederum Zustimmung bei FN-wählenden Arbeiter*innen (Gaxie 2017, 62f).

Dies scheint nur auf den ersten Blick als ein unvereinbarer Widerspruch. In Zeiten, in denen die homogenen Milieus der fordistischen Lebens- und Arbeitswelt auseinandergebrochen sind und sich der Staat mehr und mehr als regulierender Akteur zurückzieht, während die Individualisierung der Lebensrisiken fortschreitet, hat sich gerade in Teilen der gesellschaftlichen Fraktionen, die ihre ökonomische Situation als besonders bedroht betrachten, ein ›moralischer Individualismus‹ durchgesetzt. Dessen Kerngedanke besteht darin, einerseits ein Arrangement mit dem andauernden Rückbau der staatlichen Sicherungssysteme sowie mit der wachsenden innergesellschaftlichen Konkurrenz zu treffen. Zugleich aber wird die sozialpolitische Unterstützung von ›unproduktiven‹ Armen als Verletzung des eigenen Gerechtigkeitsgefühls wahrgenommen. Die ›Unproduktiven‹, das sind in den Augen von Teilen der über ein regelmäßiges Einkommen verfügenden Arbeiter*innen migrantische Milieus aber auch Erwerbslose. Diese „falsche“ Verwendung von Steuermitteln zu Ungunsten der hart arbeitenden Menschen, führt zu einer wachsenden Ablehnung des »aufgeblähten« Staatsapparates und geht mit Forderungen nach Steuersenkungen und Abbau der Bürokratie einher. Ausgespart bleiben von dieser Kritik natürlich auch nicht der Kultur- und Bildungsbereich, die als Spielfelder der bürgerlichen Eliten betrachtet werden (Pinto 2017, 70ff).

So wird verständlich, warum der Familie Le Pen ihre illegalen Aktivitäten nicht schaden, setzten sie sich doch lautstark zur Wehr gegen jenen konfiskatorischen Staat, der auch den »kleinen Leuten« in ungerechtfertigter Weise Geld aus der Tasche ziehe. Möglicherweise spielt auch dieser Aspekt eine Rolle, dass viele Wähler*innen den sozialen Aufstieg der Familie Le Pen wohlwollend wahrnehmen – er repräsentiert Erwartungen eines aufstiegsorientierten Milieus aus der Unter- bzw. Arbeiterklasse und den Mittelschichtsmilieus.

Ein kollektiver Akt der »Notwehr«?

Didier Eribon, der in seinem viel gelobten autobiografischen Roman »Rückkehr nach Reims«, die Hinwendung proletarischer Milieus zum Front National als Ergebnis eines kollektiven sozialen Abstiegs der Arbeitermilieus schildert, dem eine wachsende politische Missachtung durch die Arbeiterparteien folgte, ist somit nur teilweise zuzustimmen, wie entsprechende Studien bestätigen. Sicherlich, spätestens nach 1990 durchlief die Kommunistische Partei Frankreichs (PCF) eine programmatische Erneuerung. Statt einer »Klassenpartei« wollte die PCF jetzt ein Abbild der Gesellschaft, eine Partei der »Menschen«, auch der neuen Linken sein. Die Öffnung zur Gesellschaft führte dazu, dass innerhalb der Partei mehr und mehr Menschen mit akademischen Hintergrund in die Führungsämter aufstiegen und Arbeitermilieus ins Abseits gerieten (Mischi 2014). Dennoch legte die PCF anders als andere Parteien immer Wert darauf, organische Intellektuelle aus der Arbeiterklasse auszubilden und in ihren Führungsrängen zu halten. Doch war sie in der Arbeiterklasse auch vor 1990 nie hegemonial. Ein erheblicher Teil  wählte auch früher schon rechts, für de Gaulle, später Chirac oder Sarkozy oder seit Mitterrand vermehrt die PS. Auf letztere, eine neoliberalisierte Sozialdemokratie bezieht sich Eribon auch ganz überwiegend, wenn er der Linken vorwirft, nicht mehr die Interessen der Arbeiterklasse zu vertreten. Der direkte Übergang von der PCF zum FN ist eher nicht verbreitet. Die Bewegung nach rechts war vielfach vermittelt.

Entscheidend war ein Bruch, der zu einer neuen Heterogenität innerhalb der classe populaire führte. Dieser ist zurückzuführen auf die Krise des Fordismus ab dem Ende der 1970er Jahre: Mit dem Ende von Kohle- und Stahlproduktion und dem massiven Abbau von Arbeitsplätzen im Schiffsbau sowie in der Automobilindustrie konnte sich der gewerkschaftlich und politisch organisierte Teil der Arbeiterklasse nicht ›reproduzieren‹. Die alten Bastionen waren von der Kapitalseite entweder geschleift oder so umstrukturiert worden, dass der gewerkschaftliche und politische Einfluss der ›kommunistischen‹ CGT und der PCF deutlich zurückging. Damit einher ging auch ein deutlicher Verlust der Lebensqualität in den alten Quartieren des sozialen Wohnungsbaus, die mehr und mehr durch steigende Erwerbslosigkeit und Kriminalität geprägt wurden. Die alten solidarischen Strukturen innerhalb der Stadtviertel zerbrachen. Degradation, wachsende Unsicherheit und vermeintliche Straflosigkeit für die migrantischen Kriminellen wurden insbesondere durch Milieus älterer, weißer Facharbeiter*innen ab den späten 1980er Jahren immer deutlicher kritisiert. Da jene oftmals nicht mit den Organisationen der politischen Linken verbunden waren, bildeten sie die erste Welle der FN-Wähler*innen aus der Arbeiterklasse (Masclet 2003).

Die Abwanderung in die Einfamilienhaussiedlungen, die schon Ende der 1970er Jahre begonnen, und damals auch PCF-nahe Milieus von Facharbeiter*innen einschloss, wurde zum Ideal der neuen traditionslosen Arbeitermilieus. Diese waren zuvor in die Strukturen der durch linke Organisationen geprägten lokalen Netzwerke eingebunden, was auch bei sozialem Aufstieg zur Stabilisierung einer positiven »Arbeiteridentität« führte (Beaud/Pialoux 2017).

Um ihre Anerkennung als Angehörige der Arbeiterklasse beraubt, wurden die Ideale der Mittelschicht maßgeblicher. An die Stelle der ritualisierten Festivitäten der Arbeiterbewegung und eines regen Vereinslebens, dass einst die Menschen in den Arbeiterquartieren zusammengeführt hatte, ist inzwischen der Bezug auf die Kleinfamilie für  Hausbesitzer in diesen ständig wachsenden Vierteln an den Rändern der Großstädte maßgeblich. Ebenso wichtig ist Sparsamkeit, die zur Bedienung der Immobilienkredite notwendig ist. Die Befürchtung, dass Angehörige sozial schwächerer Milieus, insbesondere Migrant*innen, sich in den gleichen Vierteln ansiedeln könnten, ist allgegenwärtig – schließlich droht die Gefahr einer neuerlichen ›Entwertung‹ des Wohnumfeldes. Es verwundert deshalb nicht, dass diese Einfamilienhaussiedlungen in den letzten Jahren die höchsten Wahlergebnisse für den FN aufgewiesen haben (Lambert 2015).

Die Wahlentscheidung für den FN ist kein kollektiver Akt, sondern das Ergebnis von Vereinzelungsprozessen. ›Seine‹ Wähler*innen möchten vielmehr, dass all diejenigen, die der Solidarität bedürften, ausgegrenzt werden, in der Befürchtung, die erkämpften minimalen ökonomischen Privilegien könnten sonst ›vergesellschaftet‹ werden. Dies hätte zur Folge, dass die in ihren Augen durch persönliches Erfolgsstreben legitimierten, kleinen sozialen Unterschiede wieder nivelliert würden.

Der FN ist als politische Partei also keineswegs die sozialkritische Interessenvertretung der unteren Klassen. Vielmehr fand eine objektive und subjektive ›Verbürgerlichung‹ eines Teils der unteren Klassen statt. Entgegen anders lautenden Behauptungen wird der FN bei weitem nicht von der Mehrheit »der Arbeiter« gewählt. Nur etwa jeder siebte von ihnen würde Umfragen zufolge würde gegenwärtig den FN wählen. Der größte Teil der Arbeiter*innen neigt zur Wahlenthaltung (Lehingue 2017, 35). Hier liegt ein ungeborenes Potenzial für die Linke.

Literatur

Alduy, Cécile/Wahnich,Stéphane, 2015: Marine Le Pen prise aux mots, Paris

Baltier, Antoine, 2016: Comment devient- on électeur du Front national ?, Paris

Beaud, Stéphane/ Pialoux, Michel, 2017, Les ouvriers et le FN. L`exarbacerbation des luttes de concurrence in: G.Mauger u. W.Peletier, Les classe populaires et le FN. Explications des votes, Vulaines sur Seine

Challenges, 2016: »Le secrets de la ›machine à cash‹ du FN« , www.challenges.fr., 3.3.2016

Collovald, Annie, 2004: Le »Populisme du FN« un dangereux contrésens: Bellecombe-en-Bauges

Dard, Olivier, 2011: La Nouvelle Droite, le libéralisme et la décroissance; in: Dard, Olivier; Richard, Gilles: Les droites et l`économie en France au XXe siècle, Paris

Destat, Mathias, 2016: Marc-Etienne Lansade: après la gauche caviar, le FN mojito, www.marianne.net, 30.4.2016

Delattre, Mélanie/ Labbé, Christophe, 2016: Le Pen, le prêt empoisonné, www.lepoint.fr, 25.2. 2016

Dézé, Alexandre, 2012: Le Front national: à la conquête du pouvoir ?, Paris

Gautier, Jean-Paul, 2009: Les extrême droites en france. De la traversée du désert à l`ascension du Front national, 1945–2008), Paris

Hayot, Alain, 2014: Face auf FN. La contre offensive, Paris

Frankenberger, Klaus-Dieter, 2017: Le Pens Kandidatur. Ein europäischer Alptraum, www.faz.net, 1.1. 2017

Gaxie, Daniel, 2017, Front National: les contradictions d`une résistible ascencion, in: Mauger/Peletier, s.o.

Lambert, Anne, 2015: »Tous proprietiare.« L`envers du décors pavillionaire, Paris

Le Monde, 2016: »L’opulence immobilière de Marine Le Pen épinglée par ›Le Canard enchaîné‹«, www.le monde.fr., 26.1.2016

Le Pen, Jean-Marie, 1985: Pour la France. Programme du Front national, Paris

Dies., 2011: À contre flots, Paris

Masclet, Olivier, 2003, La gauche et les cités. Enquête sur un rendez-vous manqué, Paris

Mischi, Julian, 2014: Le communisme désarmé. Le PCF et les classes populaires depuis les années 1970, Marseille

Pinto, Louis, 2017: La promotion d`un nouvel ordre moral in: Mauger/Peletier, s.o.

Ruffin, François, 2014: »Pauvres Actionnaires !« Quarante ans de discours économique du Front national, Amiens

Schmid, Bernhard, 1998: Die Rechten in Frankreich, Berlin

Turchi, Marine, 2014: Les villes FN, un nouveau business pour les sociétés proches de l’extrême droite, mediapart.fr. 28.8.2014

Dies., 2016: L’argent du Front national et des Le Pen. Une famille aux affaires

in: Pouvoir 157

VISA- Vigilance et Initiatives Syndicales Antifascistes, 2012: Contre le programme du FN,

un argumentaire syndical, Paris

Dies., 2016: Face au FN et toute l`extrême  droite, Réponses & Ripostes Syndicales, Paris

Dies., 2017: FN et Ecole: Les 100 propositions du collective racine, Paris

Anmerkung

[i] Ein Großteil von ihnen kommt aus dem Umfeld der »Ratten« – so nannten sich die Aktivist*innen der Groupe union défénse, die in den 1970ern und frühen 1980er Jahren im Umfeld der Universität Pantheon-Assas II mit brutaler Gewalt Jagd auf Linke gemacht hatten (Gautier 2009, 181 ff).