| Der deutsche Machtblock in der europäischen Krise

Juli 2013  Druckansicht
von Thomas Sablowski und Frederic Heine

Linke Kritik richtet sich vielfach auf die Krisendynamik verschärfende Kürzungspolitik und auf die zentrale Rolle der deutschen Bundesregierung bei der Disziplinierung der Krisenländer. Doch welche Faktoren spielen für die Ausrichtung der Krisenpolitik eine Rolle? Von welchen sozialen Kräften wird sie getragen?

Wir konzentrieren uns hier auf eine Analyse unterschiedlicher Kapitalfraktionen innerhalb des deutschen Machtblocks und ihrer Widersprüche. Letztere können für eine Vertiefung der Hegemoniekrise und den Erfolg einer emanzipatorischen gegenhegemonialen Mobilisierung subalterner Klassen entscheidend sein. Auch die in der Öffentlichkeit diskutierten politischen Alternativen beruhen auf Widersprüchen innerhalb des Machtblocks. Es ist daher notwendig, sich Klarheit über die Interessenlagen innerhalb der herrschenden Klassen zu verschaffen.

Die Bourgeoisie ist dabei kein homogenes Subjekt, sondern von zahlreichen Widersprü-chen durchzogen (vgl. Poulantzas 1975, 80ff). Zu nennen sind hier Widersprüche zwischen Monopolkapital und nichtmonopolistischem Kapital, zwischen Bank-, Industrie- und Handelskapital sowie zwischen Kapitalfraktionen, die vorwiegend im nationalen Raum, in der Europäischen Union (EU) oder global operieren. Von diesen Widersprüchen ausgehend haben wir im Zeitraum Anfang 2010 bis Frühjahr 2013 die Positionen deutscher Wirtschaftsverbände zu Fragen der europäischen Krisenpolitik untersucht. Einige der Ergebnisse lassen Rückschlüsse für die Erklärung der europäischen Krisenpolitik zu.

Große Übereinstimmung bestand bei allen untersuchten Verbänden1 in drei zentralen Punkten der Europolitik: Ablehnung von Eurobonds und von Anleiheankäufen durch die EZB sowie die Befürwortung von Maßnahmen zur Stärkung der Haushaltsdisziplin (wie im »Six Pack« und dem Fiskalpakt). Die Finanzierung zu vergleichsweise niedrigen Zinsen auf dem deutschen Kredit- und Kapitalmarkt scheint für die Klientel dieser Verbände einen großen Wettbewerbsvorteil darzustellen, der durch eine Einführung von Eurobonds gefährdet würde. Die einheitliche Zustimmung zu den radikalen haushaltsdisziplinierenden Maßnahmen verweist darauf, dass sich das deutsche Kapital international in einer Gläubigerposition befindet. Die Entwertung deutscher Forderungen gegenüber den Krisenländern soll verhindert werden; die Kosten für den explodierenden Schuldendienst sollen vor allem auf die Lohnabhängigen und das Kleinbürgertum in der europäischen Peripherie abgewälzt werden. Angesichts der breiten Übereinstimmung in diesen Fragen ist die Haltung der Bundesregierung wenig überraschend.

Aus den Differenzen, die sich in Bezug auf andere Fragen der europäischen Krisenpolitik zeigten, ließen sich in unserer Untersuchung drei Gruppierungen ausmachen, die auf Widersprüche hindeuten. Unseres Erachtens maßgeblich ist die global-expansive Gruppierung (zu ihr zählen wir die Verbände BDI, BDA, BdB, DIHK und überwiegend auch die einzelnen industriellen Branchenverbände). Diese Gruppe vertritt in der europäischen Rettungspolitik die Linie der Bundesregierung, den Währungsraum in seiner jetzigen Form aufrecht zu halten, und akzeptiert dafür Notfallkreditprogramme sowie temporäre (EFSF) und schließlich auch dauerhafte (ESM) europäische Mechanismen für Hilfskredite. Wichtig sind diesen Verbänden die mit den Krediten verbundenen harten Auflagen, um eine aus ihrer Sicht gesunde Mischung aus »effizienter Rettung« und »Vermeidung von Fehlanreizen« (BdB 2010, 27) zu erreichen. In Bezug auf die Reformen der »Economic Governance« des Euroraums befürworten die Verbände – neben den genannten Maßnahmen zur Verschärfung der Haushaltsdisziplin der Mitgliedsstaaten – auch die Bekämpfung makroökonomischer Ungleichgewichte. Dabei geht es ihnen vor allem um die Wettbewerbsfähigkeit als zentrale wirtschaftspolitische Zielgröße. Die Angleichung müsse sich jedoch strikt nach dem Maßstab der leistungsstärksten Staaten richten. Zugleich sprechen sich diese Verbände gegen eine »dirigistische« Wirtschaftsregierung in der EU, aber für eine ordnungspolitische Rahmengesetzgebung auf EU-Ebene aus – Koordination soll mittels »peer pressure« und die Disziplinierung durch (halb)automatische Sanktionsverfahren und die Finanzmärkte selbst erfolgen. Interpretieren lassen sich diese Positionen u.E. als Verteidigung einer spezifischen Akkumulationsstrategie die am globalen Wettbewerb orientierte, auf Produktivitätssteigerung, Lohnzurückhaltung, Arbeitsmarktflexibilisierung und durch den Konsum in externen Märkten gestützte Akkumulation der monopolistischen Kapitalfraktion. Diese sieht die Krise als Chance, um diese Strategie durch eine Vertiefung der europäischen Integration und die Anpassungsprogramme in den Krisenländern weiterzuentwickeln. Durch die Forcierung einer austeritätspolitischen und wettbewerbsorientierten Rahmengesetzgebung und die Ablehnung einer direkten Wirtschaftsregierung versucht sie gleichzeitig, den ökonomischen Kampf gegenüber dem politischen Kampf aufzuwerten. Denn das Akkumulationsmodell trifft, wie wir vermuten, insbesondere auf der europäischen Ebene auf Gegner, die politisch in der EU tendenziell eine Mehrheit organisieren können, während sie ökonomisch weniger konkurrenzfähig sind.

Die zweite Gruppierung in unserer Untersuchung ist die stabilitätsorientierte mit den Verbänden DSGV, BVR und ZDH. Auch diese Verbände unterstützen in der Rettungspolitik die oben beschriebene Linie der »konditionierten Kreditvergabe« (DSGV 2001, 7) und die Aufrechterhaltung des Währungsraums grundsätzlich – auch wenn sie 2012 die angebliche Bedingungslosigkeit der Kreditprogramme schärfer kritisierten als die oben genannten Verbände. In den makro- ökonomischen Ungleichgewichten sehen der BVR und der DSGV insbesondere eine Gefahr für die Zahlungsfähigkeit der Defizitländer. Sie plädieren außerdem für ein Vetorecht der EU gegenüber den nationalen Haushaltsplänen und wollen Ländern, deren Schuldenstand eine gewisse Schwelle überschreitet, durch die Einsetzung eines kommissarischen Verwalters die haushaltspolitische Souverä- nität entziehen. Diese hätte den »Vorteil«, einen »wirtschaftspolitische[n] Kurswechsel« unabhängig von »schwankende[n] politische Mehrheiten« (BVR 2011, 5) herbeiführen zu können. In der stabilitätsorientierten Gruppierung, die vorwiegend das nichtmonopolistische Kapital repräsentiert, spielen aus unserer Sicht Gläubigerinteressen eine zentrale Rolle. Dementsprechend geht es vor allem um die Gewährleistung des Schuldendienstes der Schuldnerländer (DSGV und BVR) oder um die Vermeidung weiterer Gläubigerrisiken seitens des deutschen Staates (ZDH). Dieser Gruppierung geht es weniger um die Weiterentwicklung einer Akkumulationsstrategie als um die Bewahrung des Status quo trotz Eurokrise.

Drittens bleiben die reaktionären Kräfte. Hier bildet der Verband Die Familienunternehmer mit seinen deutlich unterscheidbaren Positionen eine Kategorie für sich. Die Familienunternehmer lehnten die Rettungspolitik von Anfang an ab, argumentieren für einen »Grexit«, verlangen eine weitere Verschärfung der fiskalpolitischen Maßnahmen, sind gegen jede Form von wirtschaftspolitischer Europäisierung und bedienen sich argumentativ einer teils rechtspopulistischen Rhetorik. Sie verfolgen ängstlich die Dynamik der europäischen Rettungspolitik und versuchen, sie insgesamt abzuwehren. Im Verband Die Familienunternehmer artikulieren sich Unternehmer, die befürchten, dass sie durch eine Verschärfung der europäischen Konkurrenz qua Vertiefung der europäischen Integration mehr verlieren als gewinnen werden. Daher versuchen sie diese durch scharfe politische (und rechtliche) Interventionen aufzuhalten.

Im Hinblick auf die hier analysierten ökonomisch-korporativen Interessen erscheint uns der deutsche Machtblock gegenwärtig trotz seiner inneren Widersprüche relativ kompakt. Dies hängt damit zusammen, dass die krisenbedingten Lasten weitgehend auf die Lohnabhängigen abgewälzt bzw. externalisiert werden konnten. Die sozialen Konflikte konzentrieren sich in den Ländern der europäischen Peripherie, obwohl das deutsche Kapital Teil der sozialen Verhältnisse ist, die in die Krise geraten sind. Die Widersprüche innerhalb des deutschen Machtblocks könnten sich jedoch weiter zuspitzen, wenn die krisenhaften Entwicklungen in der europäischen Peripherie und in anderen Weltregionen auch die Akkumulation des Kapitals in Deutschland stärker beeinträchtigen. Ein anderes Bild über die Tiefe der Widersprüche könnte auch entstehen, wenn man die kulturellen und politischen Kämpfe stärker in den Blick nähme – nicht zuletzt scheinen sich die reaktionären Kräfte auch politisch mit der Gründung der Partei »Alternative für Deutschland« stärker zu formieren –, oder wenn sich die Kräfteverhältnisse in Deutschland zugunsten der Lohnabhängigen verschöben.

Die Politik der dominierenden globalexpansiven Gruppierung (und der sie weitgehend unterstützenden stabilitätsorientierten Gruppierung) ist widersprüchlich, weil sie einerseits die Eurozone verteidigt und auf eine Vertiefung der europäischen Integration zielt, andererseits durch ihre autoritär-neoliberale Ausrichtung die Kohäsion der Europäischen Währungsunion (und der EU) unterminiert. Der bisherige Verlauf der Krisenpolitik legt allerdings nahe, dass die Europäische Währungsunion weiter verteidigt werden wird und dass bei einer Zuspitzung der politischen Krise auch Zugeständnisse wie etwa eine Lockerung der Kürzungspolitik oder eine Streckung der Schuldentilgung zu erwarten sind. Die Möglichkeiten eines »muddling through« der herrschenden Kräfte sollten nicht unterschätzt werden. Andererseits sollte aber auch die Stabilität der Kräfteverhältnisse nicht überschätzt werden. Die Diskussion über eine Auflösung der Europäischen Währungsunion hat quer durch die politischen Lager an Dynamik gewonnen, seitdem die national-konservativen und orthodox-neoliberalen Kräfte, die sich bis dato vor allem im Verband Die Familienunternehmer artikulierten, mit der Alternative für Deutschland einen parteipolitischen Ausdruck gefunden haben. Die Massenmedien haben in den letzten Jahren mit ihrem nationalistischen Diskurs den Boden für reaktionäre politische Verschiebungen bereitet. Unglücklicherweise erscheint die rechte Kritik an der EU derzeit stärker als die linke. Die Vorstellung, man könnte der rechten Kritik am Euro das Wasser abgraben, indem man die Diskussion über eine Auflösung der Eurozone von links befördert, ist höchst gefährlich. Am Ende droht eine solche Taktik, die Linke zu spalten und weiter Wasser auf die Mühlen der Rechten zu lenken. Es wäre auch falsch, die Kritik nur auf die neoliberal-autoritäre Vertiefung der europäischen Integration zu konzentrieren, die von der global-expansiven Gruppierung vorangetrieben wird, weil diese die hegemoniale Fraktion ist, und die reaktionären Positionen der Familienunternehmer und der Alternative für Deutschland als unbedeutend abzutun. Die Linke muss weiterhin einen Kampf an zwei Fronten führen: gegen die autoritär-neoliberale Weiterentwicklung der EU und gegen eine reaktionäre Kehrtwende, wie sie die Familienunternehmer und die Alternative für Deutschland verkörpern. Gegenüber diesen beiden Polen im Machtblock kann die Linke nur eine autonome Position entwickeln, wenn sie klar macht, dass die Ursachen der Krise letztlich nicht im Verhältnis der Nationen, sondern in den Klassenverhältnissen begründet sind.

Dieser Beitrag beruht auf einer ausführlicheren Studie zum Thema (Heine/Sablowski 2013). Wichtige andere Erklärungsfaktoren – das gesamtgesellschaftliche Kräfteverhältnis, die Machtblöcke anderer Staaten, deren Artikulation in der EU – konnten nicht einbezogen werden.

 

Literatur

BdB, Bundesverband deutscher Banken, 2010: Währungsunion 2.0, bankenverband.de/publikationen/pubbanken/ shopitem/5c7260ea3776d7701c73ddb064b7f459
BVR, Bundesverband der deutschen Volks- und Raiffeisenbanken, 2011: Volkswirtschaft special, Nr. 8/2011, www.bvr. de/p.nsf/82F8B4FD6BF614FEC125789B002CE1EE/$FIL E/2011BVRVolkswirtschaftSpecialNr6.pdf
DSGV, Deutscher Sparkassen- und Giroverband, 2011: Memorandum zu aktuellen Fragen »Europa und Euro«, www.dsgv.de/_download_gallery/Stellungnahmen/110924_ Memorandum_IWF_dt.pdf
Heine, Frederic und Thomas Sablowski, 2013: Die Europapolitik des deutschen Machtblocks und ihre Widersprüche, Ms., Rosa-Luxemburg-Stiftung, Berlin
Poulantzas, Nicos, 1975: Klassen im Kapitalismus heute, Westberlin Ders., 2002: Staatstheorie, Hamburg

Anmerkungen

1 Bundesverband der deutschen Industrie (BDI), Bundesvereinigung der deutschen Arbeitgeberverbände (BDA), Verband der Automobilindustrie (VDA), Verband der Chemischen Industrie (VCI), Verband Deutscher Maschinenund Anlagenbau (VDMA), Zentralverband Elektrotechnikund Elektronikindustrie (ZVEI), Deutscher Industrie- und Handelstag (DIHK), Zentralverband des deutschen Handwerks (ZDH), Die Familienunternehmer, Bundesverband deutscher Banken (BdB), Deutscher Sparkassen- und Giroverband (DSGV) und Bundesverband der Deutschen Volksbanken und Raiffeisenbanken (BVR)