| Der Chilcot-Bericht und das produktive Misstrauen gegen die Eliten

Juli 2016  Druckansicht
Von Julian Müller

Am 6. Juli 2016 – sieben Jahre nach ihrer Einrichtung – veröffentliche die Chilcot-Untersuchungskommission in London ihren Abschlussbericht zu den Hintergründen des britischen Eintritts in den Irakkrieg von 2003. Darin bestätigt sie weitestgehend die Bedenken und Argumente der damaligen Antikriegsbewegung auf der Straße sowie der zahlreichen Parlamentsabgeordneten, die gegen den Einsatz stimmten. Die Kommission kam unter anderem zu dem Ergebnis, dass die Entscheidung, in den Krieg zu ziehen, getroffen wurde, bevor alle nichtmilitärischen Optionen zur Vernichtung etwaiger irakischer Massenvernichtungswaffen ausgeschöpft worden waren. Vor allem der damalige Premierminister Blair wird scharf kritisiert. So habe er im Parlament dramatische Behauptungen über Iraks Waffen und deren Einsatzfähigkeit aufgestellt – etwa dass Iraks angebliche Chemiewaffen in 45 Minuten zum Einsatz gebracht werden könnten –, die von den existierenden Informationen nicht gedeckt waren.

Wie zu erwarten konzentrieren sich die Reaktionen nun auf Tony Blair und seine Rolle. Der Bericht hat der schon seit Langem erhobenen Forderung, dass ihm ein Prozess wegen Kriegsverbrechen gemacht werden soll, weitere Nahrung verliehen. Das ist wünschenswert, aber unwahrscheinlich.

Unabhängig davon bietet sich die Gelegenheit, zusätzlichen Druck für etwas vielleicht viel Wichtigeres aufzubauen und damit in dieselbe Kerbe zu schlagen wie die TTIP-Proteste es auf dem Gebiet der Handelspolitik tun: die Demokratisierung der Außenpolitik (im weitesten Sinne) in Europa. In den Außenbeziehungen scheint nämlich ein vordemokratischer, geheimniskrämerischer Politikstil überlebt zu haben, insofern weite Teile der Bevölkerung diese Dinge – Krieg und Frieden sowie die Aushandlung internationaler Verträge – der Staatsräson und der Vertraulichkeit einer öffentlichkeitsscheuen Diplomatie überlassen haben. Vielleicht ist dieser Vertrauensvorschuss nun am Ende, und die Öffentlichkeit entdeckt, dass sie hierzu auch mitreden will anstatt die Entscheidungen der Staatsmänner wie ein Schicksal zu akzeptieren oder sich bestenfalls auf nachträgliche Proteste zu beschränken.

Der unten stehende Artikel aus dem britischen New Statesman spricht vom »Misstrauen gegen die Eliten«, das der Irakkrieg begünstigt habe und der Chilcot-Bericht noch einmal verstärken werde. In der Tat ist es seitdem für britische Regierungen schwieriger, einen Kriegseinsatz im Parlament absegnen zu lassen. Der Bericht eröffnet die Chance, dieses Misstrauen weiterzutreiben und zu institutionalisieren. Öffentliche Transparenz, Teilhabe und Kontrolle müssen gestärkt und verbindlich gemacht werden, auch wenn es um Themen geht, die traditionell der Geheimdiplomatie unterliegen. Wie schon im Falle TTIP werden Verfechter des Status quo argumentieren, dass mehr Transparenz Verhandlungen im traditionellen Stil undurchführbar macht, aber genau das ist der Sinn. Wieso soll die Außenpolitik, insbesonderse Entscheidungen über Krieg und Frieden, der demokratischen Willensbildung nicht genau so unterliegen wie etwa die Arbeitsmarktpolitik?

Leader: The Iraq War and its aftermath

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