| DEMOKRATISCHER STROM?

März 2012  Druckansicht
Von Jan Latza

DAS BEISPIEL SACRAMENTO

Mit der Liberalisierung des deutschen Strommarktes Ende der 1990er Jahre privatisierten viele Kommunen ihre Stadtwerke und gaben die Kontrolle über die Stromnetze aus der Hand. Mittlerweile hat sich der Wind gedreht: Immer mehr Städte und Gemeinden machen den großen Stromkonzernen die Netze streitig und wollen sie rekommunalisieren. Ein Beispiel für eine demokratische und gemeinwohlorientierte Stromversorgung findet sich im kalifornischen Sacramento.

Der Sacramento Municipal Uttility Distric (SMUD) ist ein öffentlich geführtes Unternehmen, gegründet als kommunaler Energieversorger durch eine Volksabstimmung 1923. Über 23 Jahre konnte der vorherige Netzbetreiber, die Pacific Gas and Electric Company (PG&E), die Übernahme des Stromnetzes verhindern. Das 1974 von SMUD in Betrieb genommene Atomkraftwerk Rancho Seco wurde dann in den 1980er Jahren zum Ausgangspunkt für Kämpfe um Bürgerbeteiligung und eine Energiewende. Es ist das weltweit einzige Atomkraftwerk, das durch eine öffentliche Abstimmung abgeschaltet wurde – 20 Jahre vor Ende der Betriebserlaubnis. Mit dem Ausstieg aus der Atomenergie wurde SMUD in den 1990er Jahren zum Pionier im Ausbau regenerativer Energien und bei innovativen Energiesparprogrammen.

Mit ca. 1,1 Millionen Verbrauchern ist SMUD der sechstgrößte kommunale Versorger in den USA und der zweitgrößte in Kalifornien (Vaze 2010). Die Tarife sind zwischen 10 und 30 Prozent günstiger als die der umliegenden Energieversorger (SMUD 2011, 5). Außerdem bietet SMUD Sozialtarife an, die 30 Prozent unter dem Normaltarif liegen. Dieser Tarif gilt für alle Haushalte, deren Einkommen 200 Prozent der bundesweiten Armutsgrenze nicht übersteigt (SMUD 2011a). Darüber hinaus bietet SMUD Einspeisevergütungen an, um die Stromproduktion in kleinen, privaten Einheiten zu fördern und so den Anteil an regenerativer Energie zu erhöhen. Bei Untersuchungen zur Kundenzufriedenheit belegt das Unternehmen regelmäßig die besten Plätze – bei privaten und Firmenkunden. Die von SMUD vertriebene Energie stammte 2010 zu 56 Prozent aus Erdgaskraftwerken. Große Wasserkraftwerke sowie andere erneuerbare Energienlieferten jeweils 22 Prozent der Gesamtstrommenge. Zum ersten Mal wurde 2010 weder auf Kohlenoch auf Atomenergie zurückgegriffen (alle Angaben: SMUD 2010).

Gegenüber der Kommunalverwaltung ist SMUD organisatorisch wie finanziell unabhängig. Der siebenköpfige Vorstand wird, aufgeteilt nach Bezirken, alle vier Jahre von den dort Wahlberechtigten direkt gewählt. Die Unternehmensgewinne fließen nicht in die kommunalen Kassen, sondern werden nach gemeinnützigen Kriterien reinvestiert.

DER WEG ZUR KOMMUNALEN ENERGIEVERSORGUNG

Im Juli 1923 votierten die Bewohner Sacramentos mit 87 Prozent für die Gründung eines Energieversorgers in Gemeineigentum (Wolfe o.J.). Die politische Initiative und die große Zustimmung für eine nach Gemeinwohlkriterien organisierte Stromversorgung kamen unter dem Eindruck hoher Tarife und schlechter Leistungen des privaten Energieversorgers Pacific Gas and Electric Company (PG&E) zustande. Sie standen in der Tradition des Agrarpopulismus des späten 19. Jahrhunderts (vgl. Wolfe o.J.; Priester 2007, 78ff). Besonders die People’s Party, die ihre Hochphase zwischen 1890 und 1896 hatte, trat für eine Ausweitung öffentlichen Eigentums und demokratischer Kontrolle zugunsten des Gemeinwohls ein. In Opposition zu großen Monopolunternehmen und den gesellschaftlichen Eliten forderte sie als erste Partei massive staatliche Regulierung gegen private Wirtschaftsmacht und Korruption (vgl. Kutschera 2010, 28), u.a. die Abschaffung des nationalen Bankensystems und die Überführung von Eisenbahn und Energieversorgern in öffentliches Eigentum (vgl. Wolfe o.J.). Sie setzte sich für die »Einführung von Referenden und Volksinitiativen mit dem Ziel direkter politischer Partizipation« ein (Priester 2007, 85f). Zwar verlor die Partei ab 1897 an Bedeutung, doch die Impulse wirkten in die Politik der Demokraten, der progressiven Ära (1896-1916) und des New Deal hinein.

Unter der progressiven Regierung des republikanischen Gouverneurs Hiram Johnson wurden 1911 weitreichende Instrumente direkter Demokratie in die kalifornische Verfassung aufgenommen (Volksentscheid, Referendum, Abberufung).Artikel XI, Absatz 9 überträgt den Kommunen – bei entsprechendem Wählervotum – das Recht, kommunale Versorgungsbetriebe in öffentlichem Eigentum und unter lokaler Kontrolle zu gründen. Diese können dann entscheiden, ob sie auch das jeweilige Versorgungsnetz übernehmen wollen.

Im März 1946 entschied das Oberste Gericht in Kalifornien, dass PG&E das Stromnetz übergeben musste. In den 23 Jahren der Auseinandersetzung hatte PG&E nicht in das Netz investiert, sodass die SMUDBeschäftigten nach der offiziellen Übernahme mit dem Wiederaufbau beginnen mussten (Wolfe o.J.).

Ab Ende der 1940er Jahre stieg die Einwohnerzahl in Sacramento schnell. Bis zum Ende der 1950er Jahre war die Zahl der SMUD-Kunden von 65 000 im Jahr 1947 auf 170 000 gewachsen und der Stromverbrauch hatte sich verdreifacht (SMUD 2011b). Trotz hoher Investitionen in die Infrastruktur reduzierte SMUD 1961 zum dritten Mal die Stromtarife, die zu den niedrigsten in den USA gehörten. Zu diesem Zeitpunkt war das Stromnetz so ausgebaut, dass es jederzeit ausreichend und zuverlässig Energie für alle Privathaushalte und Betriebe liefern konnte. Mitte der 1960er Jahre waren 95 Prozent des Netzes neu aufgebaut (SMUD 2011c).

Bei der Übernahme 1947 musste SMUD Strom von anderen Versorgern und Agenturen einkaufen. Für die eigene Produktion orientierte man primär auf Wasserkraftwerke, 1948 wurde mit den Planungen für das Upper American River Project und 1957 mit dem Bau begonnen (SMUD 2008). Schon während der Bauphase der elf Staudämme und sechs Kraftwerke – zehn Jahre – wurde Strom zu ähnlichen Kosten produziert, wie sie bei PG&E in den großen Ölkraftwerken entstanden. Ende der 1990er Jahre war Wasserkraft die günstigste Stromquelle im SMUD-System (Smeloff/Asmus 1997, 12f).

DEMOKRATISCHE TRANSFORMATION

Zivil genutzte Atomenergie galt in den 1960er Jahren als saubere und kosteneffiziente Energiequelle; SMUD plante ab 1964 den Bau eines Atomkraftwerks (AKW). 1974 wurde das AKW Rancho Seco (»trockener See«) in Betrieb genommen. Die ursprünglich angesetzten Kosten von 180 Millionen US-Dollar verdoppelten sich in der Bauphase (Smeloff/Asmus 1997, 14).Die gesamte Betriebszeit war von Sicherheits- und Funktionsproblemen – und mindestens 100 Ausfällen – begleitet (Weiser 2009).

In den 1970er Jahren entwickelte sich die Umweltbewegung zu einem politischen Akteur, doch die Proteste gegen die Kernkraftnutzung blieben marginal. Im März 1979 sorgte allerdings die partielle Kernschmelze im baugleichen Atomkraftwerk Three Mile Island in der Nähe von Harrisburg/Pennsylvania in Sacramento für Aufruhr. Mehrfach nahmen hunderte Einwohner an Vorstandssitzungen von SMUD teil und stellten Fragen zur Sicherheit von Rancho Seco (Smeloff/Asmus 1997, 28f). Ein Störfall 1985 konnte nur knapp unter Kontrolle gebracht werden. Die Nuclear Regulatory Commission ordnete eine vollständige Revision der Hauptsysteme an, die unzählige Probleme in der baulichen Ausführung und der Qualifikation der Beschäftigten zu Tage förderte (25ff). SMUD hielt weiter an dem Plan fest, Rancho Seco wieder ans Netz zu bringen. Bis zur Wiederaufnahme des Betriebs 28 Monate nach dem Störfall hatte SMUD über 400 Millionen US-Dollar für die Reparatur ausgegeben und die Stromtarife waren in die Höhe geschossen (Smeloff 2001).

Obwohl der Vorstand durch direkte Wahlen bestimmt wurde, war SMUD lange Zeit in den Händen eines Teils der lokalen Wirtschaftselite (ebd.). Bis 1976 verlor kein Amtsinhaber oder vom Vorstand benannter Kandidat eine Wahl. In diesem Jahr traten zwei junge Aktivisten zu den Vorstandswahlen an und wurden in den Vorstand gewählt, obwohl sie kaum über Mittel für Wahlkampagnen verfügten. 1984 hatte die Wirtschaftselite alle Sitze zurückerobert, indem sie ihren Kandidaten Wahlkampfkampagnen mit bis zu 100 000 US-Dollar finanzierte (ebd.). Eine Vorstandsmehrheit für eine Energiewende bei SMUD kam erst durch die Zuspitzung der Auseinandersetzungen 1985ff zustande.

Vier Monate nach dem Störfall in Rancho Seco ereignete sich die Reaktorkatastrophe in Tschernobyl. Im folgenden Volksbegehren der Sacramentans for Safe Energy (SAFE) wurden über 50000 Unterschriften für die Abschaltung des Atomkraftwerkes gesammelt, mehr als doppelt so viele wie benötigt wurden (Ameloff/Asmus 1997, 33). Die Abstimmung wurde im Juni 1988 mit 49 zu 51 Prozent hauchdünn verloren; Duke Power, ein Energieversorger, der das Werk übernehmen wollte, und das Nuclear Energy Institute hatten insgesamt 3 Millionen US-Dollar für die Gegenkampagne gesammelt (jeder Energieversorger in den USA, der ein Atomkraftwerk betrieb, spendete 10 000 Dollar). SMUD versprach die Sicherheit von Rancho Seco zu verbessern und ein Jahr später eine zweite Abstimmung durchzuführen. 1989 stimmten 53 Prozent für die Stilllegung von Rancho Seco. Am nächsten Tag wurde der Reaktor abgeschaltet – ein weltweit einzigartiger Vorgang (Weiser 2009). Dies konnte nur durch drei Faktoren zustande kommen:

1 | die öffentlichen Eigentumsverhältnisse, die es ermöglichten, dass die Bewohner über die Nutzung ihres Eigentums abstimmen konnten;

2 | die direktdemokratischen Formen der Volksabstimmung und der Vorstandswahl, mit denen die Bewohner ihren Einfluss geltend machen konnten;

3 | die politische (Basis-)Initiative, die in der Krise der Atomenergienutzung diese Instrumente mit Leben füllte.

ENERGIEEFFIZIENZ UND REGENERATIVE ENERGIEN

Tarife und Stromversorgung blieben nach der Abschaltung stabil. Die neue Unternehmenspolitik wurde – mit einer progressiven Mehrheit im Vorstand – auf Diversifizierung und Dezentralisierung der Energiequellen und Energiesparprogramme ausgerichtet: Die Atomenergie wurde zu zwei Dritteln ersetzt durch Strom aus Erdgaskraftwerken und zu einem Drittel aus Wind- und Solarenergie sowie Energie aus Photovoltaikanlagen (Berman/O’Connor 1996, 92). Ab 1990 pflanzte SMUD in Kooperation mit der Sacramento Tree Foundation über 200 000 Schattenbäume, um den hohen Energieverbrauch für Klimaanlagen in den heißen Sommerphasen zu reduzieren, und betreibt heute zahlreiche Programme zur Energieeinsparung sowie zum Klima- und Umweltschutz.3

Im Bereich der erneuerbaren Energien brachte SMUD Forschungen voran: Technologien zur Energiegewinnung durch Solar, Wind, Brennstoffzellen, Gasturbinen und Biomasse wurden weiterentwickelt (SMUD 2011d; Wassermann 2001). Auch die lokale Ökonomie profitierte hiervon: Zwischen 1995 und 2009 verdoppelte sich die Zahl »grüner Arbeitsplätze« im Raum Sacramento.4

Die wechselhafte Geschichte von SMUD zeigt mögliche Probleme in demokratisierten, öffentlichen Unternehmen: Weder eine Überführung in öffentliches Eigentum noch direkt-demokratische Prozesse verändern automatisch die ungleiche Verteilung von Macht und Einfluss. Zudem haben öffentliche Unternehmen in den letzten 30 Jahren häufig selbst auf Profitmaximierung und Wettbewerbsfähigkeit als leitende Maxime umorientiert (vgl. Candeias/Rilling/Weise 2009). Eine Strategie der Energiedemokratie muss mit der Demokratisierung von Eigentum einhergehen. Energiekämpfe, die bisweilen durch Katastrophen und individuelle Betroffenheit verstärkt werden, können dabei das Feld neu strukturieren. Um solche Situationen und Institutionen für institutionelle Veränderung zu nutzen, ist politische Mobilisierung unerlässlich.

 

LITERATUR

Berman, Daniel M., u. John T. O’Connor, 1996: Who Owns the Sun? People, Politics and the Struggle for a Solar Economy, White River Junction
Candeias, Mario, Rainer Rilling u. Katharina Weise (Hg.), 2009: Krise der Privatisierung. Rückkehr des Öffentlichen, RLS-Texte Bd. 53, Berlin
Kutschera, Claudia, 2010: Die amerikanische Präsidentschaft in der Progressive Ära, 1896–1916, William McKinley bis Woodrow Wilson. Diplomarbeit, Historisch-Kulturwissenschaftliche Fakultät, Universität Wien, othes. univie.ac.at/9746
Next 10, 2010: Many Shades of Green: Regional Distribution and Trends in California’s Green Economy, www.next10. org/next10/publications/pdf/2011_Many_Shades_of_ Green_FINAL.pdf
Priester, Karin, 2007: Populismus. Historische und aktuelle Erscheinungsformen, Frankfurt/M
Smeloff, Ed, 2011: »An energy plan for S.F.« (Interview), in: Bay Guardian, 17.08.2011, web.archive. org/web/20050227103758/http://www.sfbg.com/ News/35/46/46int.html
Ders. u. Peter Asmus, 1997: Reinventing Electric Utilities. Competition, Citizen Action, and Clean Power, Washington, D.C.
SMUD [Sacramento Municipal Utility District], 2010: Power Content Label, www.smud.org/en/about-smud/companyinformation/documents/Power%20Content%20Label. pdf
Dies., 2011: 2010 Annual Report, www.smud.org/en/ about-smud/company-information/document-library/ documents/2010-SMUDAnnualReport.pdf
Dies., 2008: Upper American River Project History, hydrorelicensing.smud.org/project/proj_his.htm
Dies., 2011a: Low-income assistance, www.smud.org/en/residential/customer-service/rate-information/low-incomeassistance.htm
Dies., 2011b: The 1950s: Sacramento booms like never before, www.smud.org/en/about-smud/company-information/ history/history-1950.htm, 31.01.201
Dies., 2011c: The 1960s: Smart planning pays off, www.smud. org/en/about-smud/company-information/history/history-1960.htm, 31.01.2012
Dies., 2011d: The 1990s: Moving into leadership on green energy, conservation, www.smud.org/en/about-smud/companyinformation/history/history-1990.htm
Vaze, Prashant, 2010: Repowering Communities case study: Going to California, climateanswers.info/2010/07/ repowering-communities-case-study-going-to-california, 1.9.2011
Wassermann, Harvey, 2001: »California’s Deregulation Disaster«, in: The Nation, 12.2.2001, www.thenation.com/ article/californias-deregulation-disaster
Weiser, Matt, 2009: »20 Years After Sacramento Voted to Shut Rancho Seco, SMUD Has Diversified Energy Sources«, in: The Sacramento Bee, 7.6.2009, www.nukefree. org/news/20YearsAfterSacramentoVotedtoShutRanchoS eco,SMUDHasDiversifiedEnergySources
Wolfe, Eric, o.J.: A job for linemen: Union linemen remember the early days of the Sacramento Municipal Utility District, www.ibew1245.com/history-pages/historySMUDintro. html, 21.8.2011

Anmerkungen

1 Zusammengesetzt aus Biomasse und Abfällen, Erdwärme, kleinen Wasserkraftwerken sowie Solar- und Windenergie.
2 ballotpedia.org/wiki/index.php/History_of_ Initiative_and_Referendum_in_California
3 Vgl. www.smud.org/en/about-smud/environment/
4 Es entstanden 7.100 neue Jobs. Die Zuwachsrate von 103 Prozent liegt um 40 Prozent über dem kalifornischen Durchschnitt in den grünen Sektoren und ist fast viermal so hoch wie der durchschnittliche Beschäftigungszuwachs im Raum Sacramento (Next 10 2010, 22f).