| Debatte: Responsibility to Protect

Januar 2015  Druckansicht
Von Wolfgang Obenland und Jan van Aken

Ein kritischer Blick auf die Schutzverantwortung

Von Wolfgang Obenland

Die Reaktionen der sogenannten internationalen Gemeinschaft auf die militärischen Erfolge der IS-Milizen in Syrien und im Irak, die mit schwersten Menschenrechtsverletzungen einhergingen, haben ein regelmäßig wiederkehrendes Problem zurück ins Bewusstsein der Öffentlichkeit gebracht: Unter welchen Umständen darf, sollte, oder muss man sich gar – auch militärisch – in Konflikte und humanitäre Katastrophen einmischen? Diese Fragestellung ist natürlich nicht neu. Bereits während der Konflikte in Somalia, Ruanda, Bosnien oder im Kosovo hatte die ›internationale Gemeinschaft‹ entweder mit Mandaten des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen interveniert, ohne ein solches Mandat eingegriffen oder gar nicht reagiert und damit Diskussionen über die Notwendigkeit und Legitimität solcher Interventionen ausgelöst. Angesichts dieser gemischten Bilanz begann eine Reihe von WissenschaftlerInnen und PolitikerInnen, sich für eine neue Doktrin internationaler Verantwortung einzusetzen. Sie sollte Interventionen in souveräne Staaten durch die UN oder andere Staatengruppen rechtfertigen und kodifizieren.

Eine auf Anregung Kofi Annans von der kanadischen Regierung eingerichtete Kommission legte zu dieser Problemstellung das zentrale Dokument vor. Die Internationale Kommission zu Intervention und staatlicher Souveränität (ICISS) führte in ihrem Abschlussbericht von 2001 das Konzept der Schutzverantwortung – der Responsibility to Protect (R2P) – ein. Es beinhaltet im Wesentlichen drei Elemente:

1 | Einen Wandel im Verständnis von Souveränität weg vom Recht der Staaten auf territoriale Unversehrtheit und politischer Unabhängigkeit hin zu einer Verpflichtung, die eigene Bevölkerung zu schützen.
2 | Die Verantwortung der Staatengemeinschaft, dort zu intervenieren, wo Regierungen nicht willens oder in der Lage sind, diesen Schutz bereitzustellen.
3 | Die multilaterale Ausgestaltung dieser Pflicht: Nicht einzelne Staaten, sondern nur Bündnisse sollen diese Verantwortung wahrnehmen können.

Diese Anliegen wurden im Bericht der ICISS in drei Konzepte heruntergebrochen: die Verantwortung zur Vorsorge (Responsibility to Prevent), die Verantwortung zur Reaktion (Responsibility to React) sowie die Verantwortung zum Wiederaufbau (Responsibility to Rebuild). Obwohl die ICISS betonte, dass Schutzverantwortung auch eine Verantwortung zur Prävention und zum Wiederaufbau beinhaltet, liegt der Fokus doch deutlich auf der Reaktionskomponente und deren militärischer Ausgestaltung. Es werden insgesamt sechs Kriterien vorgeschlagen, die erfüllt sein sollen, um militärische Interventionen legitim durchführen zu können: die richtige Autorisierung, ein gerechtfertigter Grund, die rechte Absicht, militärische Intervention als Ultima Ratio, die Proportionalität des Vorgehens und vernünftige Erfolgsaussichten. Die ICISS schließt dabei die Möglichkeit nicht aus, dass regionale Organisationen abseits des UN-Sicherheitsrats intervenieren. Als Fälle, in denen die Verantwortung der Staatengemeinschaft greifen soll, werden schwerste Verbrechen wie Völkermord und Verbrechen gegen die Menschlichkeit gesehen, aber auch Situationen, in denen Regierungen bei Naturkatastrophen nicht willens oder in der Lage sind zu helfen.

Nach der Veröffentlichung des ICISS-Berichts und dank umfangreicher Bemühungen seiner UnterstützerInnen nahm R2P schnell seinen Weg durch die Instanzen der UN. Das Abschlussdokument des Weltgipfels von 2005 nahm das Konzept in drei knappen Paragraphen auf – allerdings in stark eingeschränkter und modifizierter Form.

So wurde aus der Verpflichtung zur Intervention eine Bereitschaft, die Autorität des Sicherheitsrats wurde nicht angetastet, und Situationen, in denen Interventionen gerechtfertigt werden, wurden auf die völkerrechtlich klarer gefassten Fälle von Völkermord, Kriegsverbrechen, ethnischen Säuberungen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit begrenzt.
Seither nimmt R2P einen wichtigen Platz in den Diskussionen bei der UN und darüber hinaus ein. Auch in den gegenwärtigen Krisen und Konflikten wie zum Beispiel in der Ukraine, in Syrien und im Irak, aber auch in Libyen und in diversen Konflikten auf dem afrikanischen Kontinent wird mit der Schutzverantwortung argumentiert.
Doch bietet R2P wirklich neue und effektive Antworten auf massenhaftes Töten? Kann sie missbraucht werden, um die Interessen der Intervenierenden durchzusetzen, statt Menschenrechte zu schützen?

Positive Aspekte von R2P

Es wäre falsch zu behaupten, das Konzept der Schutzverantwortung enthalte keine begrüßenswerten Momente. So erinnert es an bestehende Pflichten auf internationaler und nationaler Ebene. Auch widersetzt sich R2P richtigerweise dem in sich widersprüchlichen Begriffspaar ›humanitäre Intervention‹. Obwohl sich R2P nicht völlig von diesem Konzept freimachen kann, stellt es doch seine politischen Implikationen infrage, beispielsweise die Militarisierung ziviler humanitärer Hilfe. Erwähnenswert ist auch, dass wichtige Prinzipien des Menschenrechtssystems aufgriffen werden und damit betont wird, dass Staaten Verpflichtungen gegenüber ihren Bürgerinnen und Bürgern haben. Mit R2P wird außerdem hervorgehoben, dass der internationalen Gemeinschaft eine Rolle dabei zukommt, einzelne Staaten bei der Erfüllung dieser Verpflichtungen zu unterstützen, insbesondere durch ökonomische, soziale und politische Maßnahmen.

Die Fallstricke von R2P

Diese positiven Ansätze werden allerdings nicht konsequent zu Ende gedacht. Das Konzept, das sich – je nach Standpunkt – mittlerweile zu einer Doktrin gewandelt hat, hilft nicht dabei, Konflikte zu verstehen oder zu lösen, sondern kann sogar kontraproduktiv wirken. Es legt den Fokus auf die falschen Instrumente und öffnet der politischen Manipulation Tür und Tor.

R2P ist voller Widersprüche. Über die genaue Ausrichtung von R2P, über die Rolle militärischer Intervention, darüber, in welchen konkreten Fällen R2P bislang überhaupt angewandt worden ist, gibt es viel Disput – auch zwischen den UnterstützerInnen. Dies verweist auf die vielen Unklarheiten des Konzepts. Während einige R2P und ›humanitäre Intervention‹ synonym gebrauchen, behaupten andere, beides habe nichts miteinander zu tun. Einen weiteren Anlass für Meinungsverschiedenheiten bietet der Stellenwert, der militärischer Intervention in der Doktrin zukommt. Einige argumentieren, militärische Gewalt sei lediglich eine von mehreren Komponenten und habe nie im Mittelpunkt gestanden, andere sehen sie sehr wohl als Kern von R2P. Wie zentral die Bedeutung ist, die militärische Intervention in der Doktrin spielt, wird offensichtlich, wenn man berücksichtigt, dass fast alle ihre nichtmilitärischen Elemente bereits in Form anderer Instrumente existieren. Tatsächlich bedeutet allein die gleichberechtigte Bereitstellung des Instruments militärischer Intervention eine Gewichtung. Es neben anderen Möglichkeiten der Konfliktprävention und der Unterstützung friedenschaffender Maßnahmen einzubeziehen, verschiebt den Fokus auf diese Option: Schon die bloße Möglichkeit des Eingreifens einer fremden Macht kann zur präventiven Aufrüstung gegen als technologisch weit überlegen wahrgenommene Kräfte beitragen oder im Konfliktfall zur Eskalation führen. Scheinbar einfache Lösungen können langfristige, auf Kompromissen basierende und damit stabile Konfliktlösungen verhindern und vor allem eindeutige VerliererInnen hervorbringen, die sich dazu gezwungen sehen könnten, solange wie möglich Gewalt auszuüben.

R2P basiert auf einer Reihe problematischer Grundannahmen. So operiert die Doktrin mit dem Konzept einer ›internationalen Gemeinschaft‹, das nicht gut zu bestimmen ist. Auch suggeriert sie, dass in Fällen eines »massenhaften Verlusts von Menschenleben« oder in »das Gewissen erschütternden Situationen« alle Fakten klar auf dem Tisch lägen und die Täter klar zu identifizieren seien. Gerade in solchen Situationen ist es aber besonders schwierig festzustellen, wer eigentlich was tut und in welchem Ausmaß für welche Taten verantwortlich gemacht werden kann. Der Einsatz chemischer Kampfstoffe im syrischen Bürgerkrieg hat dies zuletzt wieder gezeigt. Wer diese eingesetzt hat, ist in der ›internationalen Gemeinschaft‹ bis heute umstritten.1

R2P folgt einer binären Weltsicht, ist offen für plumpen Moralismus. Die Diskussionen rund um die Doktrin sind hochgradig moralisch aufgeladen, werden häufig zu Fragen von ›richtig‹ und ›falsch‹ (vgl. Rudolf 2013). Die Tendenz zu solchen Wertungen verhindert ein klares Verständnis von Konflikten und Gewalt. Im R2P-Diskurs werden die Verantwortlichen für Menschenrechtsverletzungen und Tötungen als unersättliche und psychopatische Killer gebrandmarkt. Tatsächlich dürften Akteure jedoch meist von politischen oder anderen rationalen Motiven angetrieben sein. Wird die Anwendung von Gewalt als Instrument zur Durchsetzung eigener Interessen wahrgenommen, schafft das den nötigen Spielraum für Verhandlungen und den Einsatz diplomatischer Mittel. Fasst man einen Konflikt dagegen in Kategorien von ›gut‹ und ›böse‹ und versteht die Täter als irrationale Massenmörder, werden diese Optionen hinfällig.

R2P ist politisch bequem. Auch wenn R2P das Potenzial hat, zu einer universellen Doktrin zu werden, ist sie letztlich nicht universell anwendbar. Es wird niemals im Einflussgebiet der Großmächte zu Interventionen unter dem Banner von R2P kommen, gleichzeitig sind es genau diese Großmächte, die über die Fähigkeiten verfügen, solche Interventionen glaubhaft vorzubringen. R2P umgeht die Frage, wer diejenigen zur Rechenschaft zieht, die zum Schutz von Bevölkerungen in anderen Ländern antreten. Durch R2P wird kein einklagbares Recht auf Schutz durch die internationale Gemeinschaft geschaffen. Wer stellt Verstöße fest? Wie können Regierungen dafür verantwortlich gemacht werden, wenn sie sich nicht an den vorgesehenen Kriterien orientieren?

R2P impliziert ein selektives Geschichtsbild. Zur argumentativen Untermauerung der Doktrin werden in der Regel der Holocaust und die Massenmorde in Kambodscha, Ruanda und Srebrenica angeführt. Während diese Beispiele wichtig und dramatisch sind, ist eine Beschränkung darauf doch tendenziös und führt zu Missverständnissen. Konflikte, in denen westliche Regierungen nicht nur nicht eingegriffen haben, sondern teilweise aktiv an schwersten Verbrechen gegen die Menschlichkeit beteiligt waren, werden in den Debatten um R2P nur selten erwähnt. Der Völkermord in Guatemala und die Rolle der US-Regierung oder die Rolle der USA und Australiens im Timor-Leste-Konflikt spielen in den Diskussionen um R2P nur eine untergeordnete Rolle. Diese Beispiele werden selten angeführt, weil sie nicht in das Freund-Feind-Schema von R2P passen. Obwohl manchmal auf Konstellationen verwiesen wird, in denen Großmächte sich – aus politischen oder ökonomischen Gründen – auf die Seite mordender Regime geschlagen haben, wird der Fokus doch auf den vermeintlich unmoralischen ›Beobachter‹ gelenkt, der es unterlässt, zu handeln oder Verbrechen anderer zu verhindern.
Nach der ICISS-Version von R2P spielen Großmächte zwar gelegentlich auch eine Rolle in den Konfliktursachen, im Wesentlichen scheinen diese aber in armen Ländern zu liegen, mit ethnischen oder religiösen Konflikten, ererbten Feindseligkeiten und diktatorischen Regimen. Die vielfachen Querverbindungen dieser Regierungen zu westlichen Staaten werden konsequent ignoriert.

R2P postuliert ein Entweder-oder von Souveränität und Intervention und ignoriert dabei, dass Souveränität noch nie Interventionen verhindert hat, wenn diese im Interesse der Großmächte lagen. Die fehlende Bereitschaft zur Intervention in der Vergangenheit hat ihre Ursache häufig im mangelnden Interesse der Großmächte beziehungsweise im Interesse, Krisen bewusst fortbestehen zu lassen, und nicht im überbordenden Respekt vor der Souveränität eines Landes.

Alternativen

Statt ein Prinzip der internationalen Beziehungen gegen ein anderes auszuspielen – Souveränität und Nichtintervention gegen Menschenrechte – und statt militärische Interventionen als (wenn auch letztes) Mittel der Politik zu stärken, ist es dringend notwendig, mehr Aufmerksamkeit und Kapazitäten darauf zu verwenden, dass Situationen, in denen dieses zum Einsatz kommen könnte, gar nicht erst entstehen. Es sollte daran gearbeitet werden, vielversprechende Ansätze zur Verhütung von Krisen im internationalen System zu stärken. Angesichts knapper internationaler Ressourcen schließen sich die Fähigkeiten zum Aufbau sowohl von Präventions- als auch von militärischen Reaktionsfähigkeiten oftmals wechselseitig aus. Mit der Formulierung einer Verantwortung der ›internationalen Gemeinschaft‹ (die internationale Organisationen einschließt) werden Institutionen und Akteure, die zuvor als Vermittler und neutrale Instanzen bereitstanden, tendenziell in die Rolle von Konfliktparteien gedrängt.

Es erscheint darum wenig zielführend, sich der einzelnen Mängel des Konzepts und seiner praktischen Anwendung Schritt für Schritt anzunehmen – beispielsweise indem höhere Hürden für militärische Interventionen formuliert werden. Stattdessen sollten die vorhandenen knappen Ressourcen verwandt werden, um zivile Mittel der Konfliktprävention und -lösung auszubauen.

Es ist unbedingt notwendig, mehr Kapazitäten für strukturelle Veränderungen bereitzustellen, die die Ursachen von Konflikten beseitigen könnten. Bereiche, in denen Reformen, wenn nicht gar grundlegender Wandel dringend angezeigt sind, sind beispielsweise: eine menschenrechtsbasierte Flüchtlings- und Migrationspolitik (vgl. Georgi in diesem Heft); die verbindliche Regulierung transnationaler Konzerne hinsichtlich ihrer wirtschaftlichen Tätigkeiten, aber auch ihrer menschenrechtlichen Verantwortung; die extraterritorialen Pflichten von Staaten in Bezug auf die wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Menschenrechte; internationale Kooperation, die die strukturellen Ursachen von Armut tatsächlich beseitigt; die krisenanfälligen und strukturelle Ungleichheit befördernden Finanz- und Handelssysteme (vgl. Passadakis in LuXemburg-Online); die Beseitigung illegitimer Finanzflüsse aus Steuervermeidung und -hinterziehung; Ernährungssouveränität; Klima- und Umweltpolitik; Kontrolle des Waffenhandels und eine Reform hin zu einem tatsächlich multilateralen und funktionalen internationalen System unter dem Dach der Vereinten Nationen. Diese Instrumente gilt es zu entwickeln, sonst bleibt die militärische Option weiterhin die naheliegende.

Dieser Text basiert auf der Studie »In whose name? A critical view on the Responsibility to Protect« von Lou Pingeot und Wolfgang Obenland, herausgegeben im Mai 2014 von der Rosa-Luxemburg-Stiftung New York und dem Global Policy Forum.

Literatur

Rudolf, Peter, 2013: Schutzverantwortung und humanitäre Intervention: eine ethische Bewertung der »Responsibility to Protect« im Lichte des Libyen-Einsatzes, Stiftung Wissenschaft und Politik/Deutsches Institut für Internationale Politik und Sicherheit, Berlin
Hersh, Seymour M., 2013: Whose Sarin?, in: London Review of Books 35/24, 9–12
Ders., 2014: The Red Line and the Rat Line, in: London Review of Books 36/8, 21–24

Anmerkung

1    Vgl. zur Komplexität der Situation Hersh 2013 und 2014.

Zum Weiterlesen:

www.rosalux-nyc.org/in-whose-name/

 

Prinzip und Wirklichkeit der Schutzverantwortung

Von Jan van Aken

Responsibility to Protect

Auslandseinsätze der Bundeswehr werden auch in Zukunft damit gerechtfertig werden, dass es Menschenrechte zu schützen gilt. Vor diesem Hintergrund lohnt ein kritischer Blick auf die Bedeutung von Responsibility to Protect (R2P) im parlamentarischen Betrieb.Seit das Prinzip der ›Schutzverantwortung‹ 2001 vorgestellt wurde, wird darüber gestritten. BefürworterInnen sehen es als eine Aufwertung von individuellen Menschenrechten gegenüber Staatenrechten. Andere – und zu denen gehöre ich – befürchten eine weitere Aufweichung des Interventions- und Gewaltverbotes. Militärischen Eingriffen wäre unter dem Vorwand des Menschenrechtsschutzes Tür und Tor geöffnet.

Festzuhalten ist, dass die Schutzverantwortung kein neues Recht setzt, wie manche behaupten, aber sicherlich dazu beiträgt, das bestehende Recht auf Intervention als Pflicht zur Intervention zu interpretieren.

Schutzverantwortung in der politischen Debatte

Das Prinzip der Schutzverantwortung wird in parlamentarischen Debatten gern auf eine schlichte Formel reduziert: militärisch intervenieren oder nichts tun. Differenzierte Auseinandersetzungen um vermeintlich widerstreitende Ansprüche zwischen der Souveränität von Staaten, einer Garantie der Menschenrechte und dem Gewaltverbot, wie sie im akademisch-intellektuellen Raum geführt werden, finden hier nicht statt.

In jeder Bundestagsdebatte zu einem Auslandseinsatz der Bundeswehr heißt es, militärisches Eingreifen sei unvermeidbar. Dabei betonen VertreterInnen aller anderen Parteien, dass sie zivilen Konfliktlösungen immer den Vorrang gäben und militärisches Eingreifen politische Lösungen nicht ersetzen könne. Hier und jetzt sei es dennoch geboten, militärisch einzugreifen, um einer unmittelbaren Bedrohung von Menschenleben zu begegnen und der Schutzverantwortung gerecht zu werden. Wer sich diesem ›Töten, um zu Retten‹ verweigert, wird kurzerhand beschuldigt, Tod und Leid unzähliger Menschen billigend in Kauf zu nehmen. Die Militärintervention wird zur Pflicht erhoben und mit dem Versprechen auf Lebensrettung verbunden. Wer kann da schon Nein sagen? Unterschlagen wird dabei, dass Militärinterventionen keinesfalls das Ende von Gewalt darstellen. Im Gegenteil: Durch militärische Gewalt werden menschliches Leid und zivile Opfer verursacht sowie neue Konflikte erst geschaffen. Auch gehen Militäreinsätze regelmäßig mit schweren Menschenrechtsverletzungen einher, die zudem in aller Regel straffrei bleiben. Nicht zu vergessen sind die mittel- und langfristigen gesellschaftlichen, sozialen, menschenrechtlichen, wirtschaftlichen und ökologischen Kosten. Afghanistan, Irak, und Libyen haben dies gezeigt. So unterschiedlich diese Länder und ihre Konfliktgeschichten sind, so sehr ähneln sich die Schwierigkeiten, nach den Verwüstungen einer militärischen Intervention zu einem halbwegs funktionierenden Staatswesen zurückzufinden, geschweige denn zum Frieden.

BefürworterInnen einer militärischen ›Verantwortungsübernahme‹ setzen Menschenrechtsschutz und Lebensrettung gleich. Damit reduzieren sie unausgesprochen – wenn auch nicht notwendigerweise gewollt – Menschenrechte auf das nackte (Über-)Leben. Wenn massenhafter Mord und Tod zu erwarten ist, soll eingegriffen werden – und zwar militärisch. Dieser Akt wird dann als ›internationale Verantwortung‹ definiert. Was damit aus dem Blick gerät, ist die Tatsache, dass Gewaltkonflikte Ursachen haben, dass ihnen vielfältige Entwicklung vorausgeht. Kein Konflikt ist plötzlich einfach da und beginnt mit massiver Gewalt. Was ist mit der Verantwortung für eine ungerechte Handelspolitik, für die Stärkung repressiver Regime durch Waffenlieferungen, für die von Industrienationen verursachte Umweltzerstörung und mit der Verantwortung für alle anderen Eingriffe, die ihren Teil zur Konfliktentwicklung beigetragen haben? Hiervon wird die ›internationale Gemeinschaft‹ in dieser Logik freigesprochen.

Militärinterventionen werden stets aufs Neue mit dem Hinweis begründet, dass es ein zweites Ruanda niemals geben dürfe. Das internationale Versagen hatte allerdings auch in diesem Fall lange vor den ungeheuerlichen Massakern begonnen und bestand vor allem darin, alle Anzeichen ignoriert und schlichtweg zugesehen zu haben, wie sich der Konflikt immer weiter zuspitzte (vgl. Leidecker in diesem Heft). Die Lehre aus Ruanda ist deshalb nicht, zukünftig früher und ›robuster‹ einzugreifen, sondern internationale Verantwortung dort zu übernehmen, wo es um Konfliktprävention geht: also rechtzeitig mit friedlichen Mitteln Konflikte zu entschärfen und gewaltfrei zu bearbeiten.

Aus Linker Abwehrhaltung in die Offensive

Die Vorstellung, es gäbe keine Alternative zum Militär, haben auch manche in unserer Partei so weit verinnerlicht, dass sie darauf drängen, das ›Nein‹ zu Militäreinsätzen zu relativieren. Eine Debatte über die zunehmende Militarisierung des außenpolitischen Denkens müssen wir deshalb nicht nur in der breiten Öffentlichkeit führen, sondern auch in unseren eigenen Reihen.

Bisher haben wir vor allem einen Abwehrkampf dagegen geführt, Militäreinsätze mit dem Schutz von Menschenrechten zu rechtfertigen. Nur hilft es nicht, eine generelle Unverträglichkeit von R2P mit dem Völkerrecht oder der UN-Charta zu behaupten. Es reicht auch nicht, die so gern bemühten geostrategischen und imperialen Interessen zu beklagen, zu deren Durchsetzung sich die Akteure der Menschenrechte missbräuchlich bedienen. Wir können uns nicht als Völkerrechtspartei bezeichnen und gleichzeitig so tun, als sei das völkerrechtliche Gewaltverbot absolut und der Verweis aufs Völkerrecht Begründung genug gegen den Einsatz von Gewalt. Wir müssen anerkennen, dass die UN-Charta Ausnahmen vom Gewaltverbot macht, wenn der Weltfrieden bedroht ist, und dann – als letztes Mittel – auch militärische Interventionen zulässt. Das heißt natürlich noch lange nicht, dass wir deshalb Militäreinsätzen zustimmen müssen, wie manche in unserer Partei behaupten. Aus meiner Sicht müssen wir aber, statt Elemente der UN-Charta zu ignorieren, uns aktiv dafür einsetzen, dass dieses letzte Mittel niemals Anwendung finden muss. Die UN-Charta gibt uns dabei sowohl den normativen Rahmen als auch Argumente an die Hand, von denen aus zivile Alternativen gedacht werden müssen: das grundsätzliche völkerrechtliche Gewaltverbot, das Gebot der friedlichen Streitbeilegung und das Prinzip der territorialen Souveränität.

Auch gilt es mit dem ideologisch motivierten Unsinn aufräumen, nach dem die westlichen Mächte, angeführt von den USA, die vehementesten Befürworter von R2P seien. Den USA sind die Menschenrechte im Zweifelsfall so egal wie allen anderen Großmächten. Sie wollen ihre Interessen durchsetzen und dies im Zweifel auch mit militärischen Mitteln. Würde sich das Prinzip der Schutzverantwortung völkerrechtlich etablieren, entstünde ein von ihnen unerwünschter Handlungs- und Erklärungsdruck. Vieles spricht dafür, dass auch die anderen ständigen UN-Sicherheitsratsmitglieder Großbritannien, Frankreich, Russland und China (also nicht nur der Westen) der Schutzverantwortung als verbindlichem Prinzip eher ablehnend gegenüberstehen, weil sie sich in ihrer Entscheidungsfreiheit nicht einengen lassen wollen. Dient es im konkreten Fall ihren Interessen, wie im Fall Libyen, werden sie sich auf die Schutzverantwortung beziehen. Doch weder ›brauchen‹ sie die Schutzverantwortung, um Militärinterventionen zu legitimieren – siehe die Piraterie vor Somalia –, noch werden sie intervenieren, wenn ihr Eigeninteresse dem entgegensteht. Dies stimmt auch, wenn Menschenrechte in großem Maßstab verletzt und Menschen getötet werden.

Nun zu den Menschenrechten. Es kann und darf nicht sein, das wir als LINKE die Existenz oder Schwere von Menschenrechtsverletzungen infrage stellen oder relativieren, um unsere Argumente gegen Militäreinsätze zu untermauern, oder weil es ideologisch bequemer ist. Menschenrechte sind unteilbar. Das Fahrverbot für Frauen in Saudi-Arabien verletzt diese ebenso wie die systematische Unterdrückung von Pressefreiheit und die staatliche Verfolgung von Homosexuellen in Russland. Beides müssen wir öffentlich kritisieren.

Wenn wir friedenspolitisch überzeugen wollen, müssen wir uns aus unserer engen Abwehrhaltung befreien. Sie kann auf Dauer nicht verbergen, dass es uns an friedenspolitischen Konzepten mangelt, um der vermeintlichen Alternativlosigkeit des Militärischen mehr entgegenzusetzen als ihr eigenes Grauen und die Interessensgeleitetheit der Akteure. Wir müssen uns von dem moralischen Druck lösen, eine vermeintlich gleichwertige Alternative zur schnellen Lösung von Konflikten vorweisen zu können, sondern uns immer wieder vor Augen führen, dass Militär eben keine schnelle Lösung ist. Wir müssen begreifen, dass gewaltfreie Konfliktbearbeitung auf Vorbeugung setzt, sich aber nicht auf sie beschränken muss. Auch inmitten von Gewaltkonflikten kann gewaltfrei interveniert werden – mit humanitärer Hilfe, mit Diplomatie, mit gewaltfreiem Schutz, mit dem Öffnen von Fluchtwegen und dem Schließen von Nachschubrouten für Waffen und Geld. Wir müssen gewaltfreie Möglichkeiten aufzeigen. Und wir müssen sie selbst ernst nehmen, statt sie – wie in den aktuellen Polemiken nach denen Yogamatten oder Protestbriefe den Islamischen Staat nicht aufhalten können – ungewollt selbst zu diskreditieren.

Solange globales Handeln von Kapital- und Herrschaftsinteressen geleitet ist, werden Menschenrechte in großem Umfang verletzt, ohne dass wir es unmittelbar verhindern oder eindämmen können – weder mit militärischen noch mit gewaltfreien Mitteln. Die Frage einer nichtmilitärischen Außenpolitik kann deshalb nur Teil eines größeren Projekts sein: alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen Menschen unterdrückt und ihrer Rechte braubt werden.