| Das andere Klassenzimmer. Ein Besuch in der Max-Brauer-Schule in Hamburg

September 2021  Druckansicht
Mit Louisa Lullien

Um Punkt 8 Uhr hieß es bei uns in der Schule immer »Mund zu, Ohren gespitzt«. Bei euch beginnt der Tag anders. Manche quatschen, eine Gruppe blättert in einer Zeitschrift, zwei Kinder üben Tanzschritte.

Wir beginnen den Tag mit einer Eingangsphase. Die Kinder kommen alle zur selben Zeit in die Schule, haben aber dann erst mal einen Moment, um im Klassenzimmer anzukommen. Die Schule und auch das Klassenzimmer sind ein sozialer Raum, schließlich spielt sich hier der Großteil ihres Alltags ab. Eine anregende Lernumgebung, in der man als Schüler*in das Zusammenleben selbst gestalten kann und sich wohlfühlt, weckt Freude am Lernen und Ausprobieren. Außerdem hat die Eingangsphase den Vorteil, dass die Kinder dann bei Unterrichtsbeginn wach sind und die dringendsten Infos schon losgeworden sind, sodass sie sich auf den Unterricht konzentrieren können.

Wenn es dann langsam vorne losgeht, haben manche Schüler*innen anscheinend noch andere Dinge zu tun. Auf die fällt dein Blick nicht.

Ja, mit Absicht. Wir nennen das »positive Verstärkung«. Nicht die Kinder, die stören, werden aufgerufen, sondern wir betonen das, was gut läuft. Toll, dass Tom sein Heft schon offen hat. Oder schön, dass Pia schon auf ihrem Platz sitzt.

Kurz nachdem du den Stundenplan vorgestellt hast, sind alle wieder im Klassenzimmer unterwegs.

Wir versuchen in der Max-Brauer-Schule möglichst wenig Frontalunterricht zu machen, den nennen wir übrigens »Kino«. Uns geht es darum, dass die Schüler*innen möglichst selbstständig sind: Sie sollen ihr eigenes Lerntempo finden, selbst aussuchen können, wann sie welches Fach lernen wollen, selbst planen, wie viel sie in einer Woche schaffen und machen können. Dafür haben wir freie Arbeitszeiten, das sogenannte Lernbüro. Hier können die Schüler*innen selbst entscheiden, ob sie lieber an ihren Matheaufgaben sitzen wollen, Englisch lernen oder ihr Deutschziel verfolgen wollen.

Und woher weiß ich, was zu tun ist? Früher habe ich Hausaufgaben bis zur nächsten Stunde bekommen, da war die Sache recht klar.

Hausaufgaben gibt es bei uns nicht. An den meisten Tagen bleiben die Kinder bis 16 Uhr bei uns in der Schule. Wir arbeiten mit Checklisten und sogenannten Kompetenzrastern. Die Checklisten geben bestimmte Aufgaben für die einzelnen Fächer vor. Wann du sie erledigst und wie viel Zeit du dafür brauchst, darüber entscheiden in den meisten Fällen die Schüler*innen selbst. Die Kompetenzraster sind dafür da, gemeinsam mit ihnen und ihren Eltern Ziele für die individuelle Entwicklung festzuhalten. Wir beraten uns also mit den Schüler*innen und ihren Eltern, welche Schritte als nächstes sinnvoll wären, wo es Schwierigkeiten gibt und welche Ziele als nächstes verfolgt werden sollten.

Wie wichtig ist der Kontakt zu den Eltern?

Ich sag es mal so: Wenn Kinder neu zu uns kommen, kenne ich nicht sofort ihre Geschichte, sehe sie dafür aber erst mal als Menschen, die ganz viel mitbringen und die vor allem mutig und neugierig die Welt kennenlernen wollen. Die Welt der Erwachsenen ist dagegen ja häufig sehr ernst und kompliziert. Die individuelle Geschichte und familiäre Situation von den Kindern zu kennen, mit den Eltern im Austausch zu stehen, ist für die individuelle Lernentwicklung der Schüler*innen aber total entscheidend. Nur so verstehe ich, warum ein Kind bei bestimmten Fragen oder Formen des Unterrichts beispielsweise blockiert oder besonders sensibel reagiert. Nur so kann ich auf Besonderheiten Rücksicht nehmen und das Kind so in seiner Persönlichkeitsentwicklung stärken, wie es ihm guttut.

Sicher werden sie dir, der Lehrer*in, nicht alles erzählen wollen.

Ja, meine Rolle ist es auch nicht, alles zu wissen, sondern ein Gefühl für die Umstände zu bekommen. Jede Klasse arbeitet deswegen nicht nur mit zwei Klassenlehrer*innen, sondern auch mit Sozialpädagog*innen zusammen. Die Sozialpädagog*innen und die Kolleg*innen vom Beratungsteam hören zu und die Kinder können sich ihnen anvertrauen, ohne dass sie befürchten müssen, dass sich ihr Kummer oder ihre Sorgen auf ihre schulischen Bewertungen auswirken.

Und das klappt?

Ja. Besonders dann, wenn wir im Team früh merken, dass etwas nicht stimmt. Wenn Kinder plötzlich nicht mehr Teil der Peergroup sein dürfen, die Pause allein verbringen oder wenn Kinder ihre Kapuze nicht absetzen wollen. Das kann alles unbedeutend sein, es können aber auch Zeichen einer Krise sein. Wir überlegen dann im Team, was hilfreich wäre: Ob sich die Sozialpädagogin mit dem Kind verabreden soll, mit ihm spazieren geht oder sich mit ihm zu Tee und Keksen im »Wohnzimmer«, einer Art Schutzraum, trifft. Dieser Support bewirkt manchmal kleine Wunder. Wenn Kinder im pubertären Alter vor unangenehmen Situationen geschützt werden, man ihnen mit minimalem Aufwand Gefühle von Scham oder Enttäuschung ersparen kann, wenn wir ihre Konflikte und Sorgen ernstnehmen und ihnen im Kleinen helfen, dann hat das oft positive Auswirkungen auf ihren ganzen späteren Lebensweg.

An die Max-Brauer-Schule gehen 1 550 Schüler*innen, 64 Schüler*innen haben keinen deutschen Pass. Insgesamt legt ihr Wert auf kulturelle, ethnische und religiöse Vielfalt. Hat dich dein Beruf politisiert?

Auf jeden Fall. Vom Standpunkt der Schule auf die Gesellschaft zu schauen, verrät sehr viel. Du lernst so viele Menschen und Familien kennen, mit ihren jeweiligen Normen und Ansprüchen an das eigene Leben. Du siehst, wie unterschiedlich die Startbedingungen der Kinder sind, wie sie ungerecht bleiben, wenn niemand interveniert. Du merkst, dass schon wenig viel helfen kann, aber du begreifst auch sofort, dass Bildungsgerechtigkeit nur verwirklicht werden kann, wenn sie auch stadt-, sozial- und gesundheitspolitisch vorangetrieben wird.

Wie setzt du euren Leitgedanken »Vielfalt ist Reichtum« konkret um?

Wenn wir in einer Gesellschaft leben wollen, in der alle mit ihren Unterschiedlichkeiten existieren dürfen, dann ist das ja erst mal ein guter Gedanke. Aber so etwas funktioniert nur, wenn du die Unterschiedlichkeiten auch wirklich kennst, wenn du siehst und spürst, dass es eine Vielfalt gibt. Mir hilft im Unterricht ein pädagogischer Leitgedanke: Immer wenn du mit deiner vertrauten Praxis an Grenzen stößt, wenn du in eine Situation kommst, die nicht deinen gewohnten Vorstellungen entspricht, dann gibt es im Prinzip zwei Wege: Entweder du bist gehemmt und versuchst dich der Situation zu entziehen. Das bedeutet aber im Grunde  zu scheitern, weil die Person nun keine Teilhabe mehr an der Handlung hat. Die andere Möglichkeit ist, kreativ mit der situativen Überforderung umzugehen. Dazu musst du Toleranz erlernen, und das geht nur praktisch, in öffentlichen Institutionen, wo der Querschnitt der Gesellschaft abgebildet ist. Die Schulklassen müssen so zusammengesetzt sein, dass sie diese Unterschiedlichkeiten abbilden, möglichst auf allen Ebenen. Wir erziehen nicht zu Toleranz, sondern wir helfen dabei, dass sie sich diese bei unseren Schüler*innen von selbst herausbildet.

Ein Blick in das andere Klassenzimmer: Die Max-Brauer-Schule ist eine reformpädagogisch orientierte Schule. Hier gibt es keinen 
klassischen Fachunterricht, der alle 90 Minuten das Fach wechselt. Jede*r Schüler*in hat ihr eigenes Schränkchen für Übungs-bücher, Planungshefte und die eigene Zettelwirtschaft. Die Schulbücher bleiben in der Schule, denn Hausaufgaben gibt es nicht.

 

Toleranz ist aber auch politisch.

Auf jeden Fall, aber eben nicht abstrakt. Und wenn wir in der Schule Fragen der Toleranz diskutieren, etwa bezogen auf Geschlechtergleichheit, auf die Klimakrise oder Rassismus, dann vor allem auch deswegen, weil die Kinder diese Fragen selbst mitbringen. Bewegungen wie Black Lives Matter, Fridays for Future oder der Christopher Street Day sind Riesenthemen in der Jugendbewegung. Die Schüler*innenvertretung hat beispielsweise an unterschiedlichen Orten in der Schule Informationsplakate aufgehängt, die über verschiedene Formen sexueller Identitäten und Beziehungen aufklären. Sie haben sich zuletzt dafür eingesetzt, dass es jetzt eine All-Gender-Toilette gibt.

Die Schüler*innen können also die Inhalte des Unterrichts mitgestalten?

Neben dem Lernbüro haben wir eine zweite Säule in unserem Schulkonzept, die nennt sich Projektunterricht. Hier geben wir das Thema vor und vermitteln Basiswissen, die Kinder sollen dann entlang ihrer Interessen weiterforschen. Kürzlich hatten wir im Projektunterricht das Thema Behinderungen und Krankheiten. In der ersten Phase haben wir viele Inhalte gemeinsam erarbeitet, Fragen diskutiert und Rollstuhlbasketball gespielt. In der zweiten Phase sollten sie selbst überlegen, was sie genau an diesem Thema interessiert. Das sind häufig Fragen, die sie direkt betreffen. Ein Schüler interessierte sich aufgrund seines familiären Kontextes besonders für Depressionserkrankungen. Und weil es einen ihrer Mitschüler direkt betraf, wollten nun auch die anderen Kinder verstehen, was es bedeutet, unter einer Depression zu leiden. Empathie motiviert, nicht Wissen an sich. Das heißt, je lebensweltlicher und emotionaler der Impact, desto aufmerksamer sind die Kinder und umso nachhaltiger ist der Wissenserwerb.

Unter dem Motto »Raus aus der Schule« geht es in der achten Klasse für mehrere Wochen auf Klassenfahrt. Deswegen diskutieren die Kinder schon ab der fünften Klasse darüber, wie sie ihr »Langzeitprojekt« finanzieren können. Frau Lulliens Klasse hat zuletzt einen Sammelband mit dem Titel »Taschenpoesie« mit eigenen Werken zusammengestellt und auf Spendenbasis verkauft. Dieses Jahr arbeiten die Schüler*innen an einer Straßenshow für die Hamburger Innenstadt, um die »Langzeitprojekt-Kasse« zu füllen.

 

 

Funktioniert sowas auch in Mathe?

Im Grunde ja. Wir nennen das in der Pädagogik das »subjektive Konzept«. Dabei versuchen wir am Anfang des Unterrichts, das »subjektive Ich« zu öffnen. Bevor wir als Lehrer*innen also Lerninhalte vorgeben, geht es um Emotionen, Bilder oder Erinnerungen, die Kinder mit einem bestimmten Thema und den Lerninhalten verbinden. Sie sollen also möglichst unvoreingenommen zu einem Thema assoziieren können. Und dann versuchen wir, mit diesen Bildern zu arbeiten. Die neuen Lerninhalte können so an das bestehende Wissen anknüpfen. Das ist motivierend und lernförderlich. Aus diesem Grund halten wir im Übrigen auch den fächerübergreifenden Unterricht für zentral. Wir sind überzeugt davon, dass es sinnvoll ist, viele solcher Verknüpfungen zu schaffen und die verschiedensten Interessen der Kinder zu verbinden und damit ihr Lernen zu fördern.

Fehlende Motivation geht sicherlich auch häufig auf mangelndes Selbstwertgefühl zurück. Wie fördert man Selbstvertrauen in der Schule?

Eine Schülerin von mir durchlebt gerade eine ziemlich schwierige Zeit. Sie war oft sehr traurig und niedergeschlagen im Unterricht und wollte nicht sprechen. Wir haben im Unterricht das sogenannte Murmelglas-Prinzip. Immer wenn eine Unterrichtsstunde besonders gut gelaufen ist, weil sich zum Beispiel viele beteiligt haben, legen wir Murmeln in ein Glas. Wenn das Glas voll ist, dürfen die Schüler*innen einen Ausflug planen. Dieses Mal ging es ins Rabatz, das ist ein Indoor-Erlebnisspielplatz. Dort gibt es diese extrem steilen Rutschen, bei denen es fast im freiem Fall nach unten geht. Die genannte Schülerin wollte auch gern auf die Rutsche, traute sich aber nicht. Zunächst stand sie nur da und beobachtete, wie sich ihre Mitschüler*innen amüsierten. Als sich die gesamte Klasse versammelte und sie lauthals anfeuerte, nahm sie schließlich allen Mut zusammen und rutschte. Ihr Grinsen und ihren Stolz werde ich nicht vergessen. Es war ein kleiner Moment der Selbstermächtigung, ein kleines Stück Glück. Diese Kombination aus dem Gefühl von Risiko und Wagnis, dass sie ihre eigene Angst überwinden konnte, mit dem Gefühl, dass sie dies mit der Unterstützung ihrer Freund*innen geschafft hatte, war sehr wertvoll für sie. Als Lehrer*innen können und sollten wir solche Momente aktiv herbeiführen.

Was motiviert dich als Lehrer*in, an der Max-Brauer-Schule zu arbeiten?

Kinder sind frech und wollen sich die Welt aneignen. Ich unterstütze sie dabei, selbstwirksam zu werden.

Das Gespräch führte Rhonda Koch.