| Absturz trotz Integration

Von Joachim Becker und Rudy Weissenbacher

Vertiefte Brüche in der Europäischen Union

»Deutschland mit dem größten Überschuss der Welt« titelte die Frankfurter Allgemeine Zeitung Anfang 2014. In der Außenwirtschaftsbilanz 2013 wies die Bundesrepublik Deutschland einen Leistungsbilanzüberschuss von 7,3 Prozent des Bruttoinlandsproduktes (BIP) auf. Dies war der höchste Überschuss in der bundesdeutschen Geschichte. Deutschland gilt als Krisengewinner. Doch nur eine kleine Minderheit der Bevölkerung zählt wirklich dazu. Die Kernbelegschaften sind durch die Exporte stabilisiert, gleichzeitig hat Deutschland den relativ größten Niedriglohnsektor in Westeuropa. Die Erosion der Kollektivverträge führte zu einer Entsolidarisierung unter Lohnabhängigen mit unterschiedlichem Status und unterschiedlicher Herkunft: (schlecht bezahlte) Vollzeitbeschäftigte versus Prekariat und Erwerbslose. Niedriglohnsektor und Austeritätsmaßnahmen, die auch die Beschäftigten im Zentrum treffen, wirken einer Solidarisierung mit den Lohnabhängigen in der Peripherie entgegen.
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| »Überwindung von Ohnmacht«

Interview mit Axel Krumrey

Vorfeldarbeit in Randowtal

Seit Mai bist du Bürgermeister von Randowtal – eine kleine Gemeinde in der Brandenburgischen Uckermark. Wie ist es dazu gekommen?

Die nördliche Uckermark ist das, was im Verwaltungsdeutsch eine »strukturschwache Region« genannt wird. Auf EU-Karten ist dieser Teil Brandenburgs sogar als »nicht besiedeltes Gebiet« verzeichnet. Randowtal selbst ist im Rahmen der Gemeindegebietsreform 2003 aus sechs Dörfern entstanden, etwa 1000 Menschen leben hier.
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| Interview: »Die letzte Haltestelle vor dem Atheismus«

Mit Recep İhsan Eliaçık

Herr Eliaçık, auf einer Konferenz der RLS-NRW und des Menschenrechtsvereins TÜDAY 2013 sprachen Sie von vier symbolischen Figuren der Gezipark-Proteste in der Türkei.

Gezi war ein Traum, keine Fiktion. Ein Traum, der 19 Tage währte. Ein Traum, von dem viele sich wünschen, er wäre in der gesamten Türkei verwirklicht. Eine erste Figur sind die Bäume mit denen alles begann. Die Menschen wollten das Grün und den Park verteidigen. Hier spiegeln sich Umweltschutz und der Sinn für Ökologie wider. Die zweite Figur ist das Zelt: Zahlreiche v.a. junge Menschen kamen in den Park, übernachteten dort und eröffneten ihre Informationsstände. Das allein ist bemerkenswert: Derart unterschiedliche Gruppen standen friedlich zusammen. Wir hatten z.B. gleich neben dem Zelt der LGBT*-Initiativen unser Gebetsraum-Zelt.
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| Kirche auf Partnersuche

Von Franz Segbers

Von der Allianz zwischen Thron und Altar zu einer neuen Bündnispolitik der Kirchen

Die politischen und kirchlichen Eliten waren irritiert, ja verschreckt, als im November letzten Jahres Papst Franziskus mit seinem Schreiben Freude des Evangeliums der herrschenden Wirtschaft entgegenhielt: »Nein zu einer Wirtschaft der Ausschließung. Nein zur neuen Vergötterung des Geldes. Nein zu einem Geld, das regiert, statt zu dienen. Nein zur sozialen Ungleichheit, die Gewalt hervorbringt.« (Papst Franziskus 2013, Ziff. 52–59) Seine Kritik fasste er zusammen mit der Aussage: »Diese Wirtschaft tötet.« (ebd., Ziff. 53)
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| Christentum als Befreiungsbewegung

Von Philipp Geitzhaus und Michael Ramminger

Es genügt nicht, die Religion als Verschleierung zu ent-decken

In durchaus beachtlichen Teilen der Linken werden Religion und Religionsgemeinschaften häufig noch unter dem Thema Obskurantismus, Fundamentalismus, Aberglauben und Irrationalismus abgehandelt und oftmals per definitionem als gewalttätig verstanden. Abgesehen vom fragwürdigen Standpunkt einer ›aufgeklärten Wissenschaft‹ (wie viele Irrtümer und Verbrechen der Neuzeit sind im Namen der ›Vernunft‹ und mit wissenschaftlichen Erkenntnissen ausgestattet begangen worden?), verdeckt eine solche Religionskritik mehr gesellschaftliche Wirklichkeit und Geschichte, als sie offenzulegen vermag. Zudem verhindert sie eine Diskussion über Möglichkeiten und Grenzen emanzipatorischer Theorie und Praxis.
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| Aufstand als Religion

Von Jörg Nowak

Über Krisenproteste und linke Erlösungsphantasien

Das Jahr 2011 wird aufgrund der Vielfältigkeit der Proteste von einer Reihe bekannter Autoren wie Manuel Castells (2012), Joseph Stiglitz (2012) oder Wolfgang Kraushaar (2012) mit dem Jahr 1968 verglichen. Bezugspunkte sind vor allem die Revolten des arabischen Frühlings, die Bewegungen der Empörten in Griechenland und Spanien sowie Occupy in den USA. In einer weniger eurozentrischen und weniger an der Mittelklasse orientierten Perspektive müsste die Aufzählung um die Kämpfe der Arbeiterklassen im globalen Süden ergänzt werden:
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| Messianische Solidarität

Von Brigitte Kahl und Jan Rehmann

Warum Paulus für die Linke(n) von Bedeutung ist

Die im Titel formulierte These, Paulus sei für linke Politik bedeutsam, ist angesichts eines nach wie vor dominanten PaulusKonservatismus eine gewagte Behauptung. Christliche Theologie hat sich von jeher auf Römer 13 (»Jedermann sei untertan der Obrigkeit«) und andere Zitate aus seinen um die Mitte des 1. Jahrhunderts u.Z. geschriebenen Briefen berufen (»Die Frau schweige in der Gemeinde«, 1 Korinther 14, 34 ), um das Bild eines obrigkeitsergebenen, patriarchatstreuen, heteronormativen und judenfeindlichen Musteruntertanen im Bewusstsein der Gläubigen zu verankern. Paulus wurde zum Kronzeugen für das Selbstverständnis von Kirche als »ideologischem Staatsapparat« (Althusser) zur Produktion politisch konformer Subjekte.
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| Störfaktor der Ohnmacht

Interview mit Dick Boer und Bodo Ramelow

Die Linke und die Religion

Wir beobachten einen doppelten Trend von wachsender Säkularisierung – sinkende Mitgliederzahlen bei den institutionalisierten Religionsgemeinschaften, zugleich die Ausbreitung von ›Privatglauben‹ und esoterischen Spiritualismen – und eine wachsende Zahl religiös verbrämter politischer Konflikte. Was passiert da eigentlich?

Dick Boer: Das ist eine übrigens auch unter Intellektuellen neu aufgekommene Wertschätzung der Religion, nicht in ihrer institutionalisierten Form als Kirche, sondern als Religiosität, als Gespür für die Tiefendimension der Wirklichkeit, ein ›Etwas‹, das über die rational erkennbare Realität hinausgeht (in den Niederlanden als iets-isme, Etwasismus, bezeichnet). Damit ist nicht unbedingt Innerlichkeit gemeint, auch religiöse Rituale ›an sich‹ können als sinnvoll erfahren werden, ohne geglaubt werden zu müssen.
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| Wiederkehr des Verdrängten

Interview mit Stuart Hall

Religion erscheint vielen als ein Relikt aus vergangenen Zeiten. Ein langer Abschied von der politischen Weltbühne war ihr vorausgesagt, so die gängige Auffassung von Säkularisierung. Doch ungeachtet dessen kann in den letzten Jahren eine Re-Formierung politisch religiöser Bewegungen beobachtet werden – von evangelikalen Massenkirchen, über die hindunationalistische Bewegung bis hin zum Islamischen Staat (IS). Teilweise sind sie es, die das globale neoliberale System herausfordern. Stuart Hall hat diese Entwicklungen vor einigen Jahren kommentiert. Wir dokumentieren hier erstmals in deutscher Übersetzung einen Ausschnitt aus einem Interview mit dem linken Kulturtheoretiker, der im Februar dieses Jahres verstarb.
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| Politische Religion als neue Avantgarde?

Von Tadzio Müller

Die Religion gewinnt in den letzten Jahren gesellschaftspolitisch wieder an Bedeutung. Da wäre beispielsweise die Tea-Party-Bewegung in den USA: Angesichts eines entschlossenen Gegenangriffs des Wall Street nahen republikanischen Establishments schien sie eine Zeit lang im Niedergang begriffen. Mit der überraschenden Niederlage des republikanischen Mehrheitsführers im Repräsentantenhaus, Eric Cantor, gegenüber Dave Brat, einem Kandidaten aus dem Tea-Party-Spektrum, hat sie ihre Handlungsfähigkeit jedoch erneut unter Beweis gestellt. Dass kurz darauf die von wichtigen Kapitalfraktionen gestützte Reform der Einwanderungsgesetze gekippt wurde, unterstreicht dies.
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