| »… Damit ich nicht noch weiter abgleite«. Entsicherung, Erschöpfung und Entmenschlichung in der alltäglichen Arbeit

Von Dieter Sauer

Wenn man offiziellen Verlautbarungen der Bundesregierung und Mediendarstellungen folgt, entsteht der Eindruck: Um Wachstum, Wohlstand, Arbeitsmarkt ist es besser bestellt als je zuvor. Es wird das Bild einer Erfolgsökonomie gezeichnet, in der Facharbeitermangel die zentrale Entwicklungsbremse darstelle. Glaubt man manchen wissenschaftlichen Expertisen, verblassen auch die Abstiegsängste: Die Menschen hätten sich zunehmend besser mit den neuen Unsicherheiten arrangiert und gelernt, diese zu bewältigen (Lengfeld 2017, 3). Doch woher kommt dann all die Wut und Verbitterung in wachsenden Teilen der Bevölkerung? Zunehmende Entsicherung
 und das Gefühl, das eigene Leben nicht mehr planen zu können, bilden den Nährboden für den grassierenden Rechtspopulismus (vgl. Sauer et al. 2018).
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| Keine mehr!

Ein Gespräch mit Alex Wischnewski über Feminizide und den Kampf um Begriffe

Du bist aktiv bei der Plattform #KeineMehr, die die Debatte über Feminizide nach Deutschland tragen will. Warum sprecht ihr von Feminiziden statt von Mordfällen an Frauen?

Feminizid oder auch Femizid bezeichnet Tötungen an Frauen und Mädchen aufgrund ihres Geschlechts. Alle Feminizide sind Tötungen von Frauen, aber nicht alle Tötungen von Frauen sind Feminizide. Es geht
also nicht darum, einfach die Opfer nach Geschlecht zu differenzieren. Vielmehr soll der Begriff bestimmte Frauenmorde als eine Form von Hasskriminalität sichtbar machen und den Blick auf deren gesellschaftlichen Kontext lenken. Das bedeutet, Feminizide als extremen Ausdruck ungleicher Geschlechterverhältnisse und männlichen Dominanzstrebens zu fassen. Zahlreiche Gutachten zeigen: Das Risiko von Frauen, Gewalt ausgesetzt zu sein, steigt besonders dann, wenn traditionelle Geschlechterarrangements angegriffen werden, insbesondere während und nach einer Trennung oder Scheidung. Die Tötung ist die Zuspitzung dieser Gewalt. Forscher*innen sprechen deshalb auch von der Rache des beleidigten Machismus. Außerdem heißt es, nach den gesellschaftlichen Bedingungen
zu fragen, die es erlauben, dass solche Taten überhaupt stattfinden können. Von Feminiziden zu sprechen, macht diese Tötungen von Frauen nicht nur sichtbar. Es hilft auch dabei, politische Gegenwehr zu mobilisieren.
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| Heilige Scheiße. Die Familien- und Geschlechterpolitik der AFD

Von Gerd Wiegel

Rassismus, Flüchtlingsabwehr und Autoritarismus stehen nicht nur im Zentrum der linken Auseinandersetzung mit der AfD, sondern bestimmen auch die Selbstdarstellung von Partei und Bundestagsfraktion. Fast alle politischen Fragen werden von der AfD mit dem Thema Zuwanderung verknüpft. Was den völkischen vom nationalliberalen Flügel der AfD trennt, ist vor allem die unterschiedliche Positionierung zur sozialen Frage, die von dem ersteren im Sinne einer Ethnisierung sozialer Differenz und von dem anderen mit einer nationalistischen Variante marktradikaler Politik beantwortet wird. Überwölbt wird dieser Gegensatz jedoch von einem Konsens auf einem anderen Gebiet, das ideologisch zentrale Bedeutung für die Partei hat: die Familien- und Geschlechterpolitik, verbunden mit einem knallharten Antifeminismus.
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| Vom Wert der Familienbande. 
Wenn Neoliberale und Konservative sich das Jawort geben

Von Melinda Cooper

Gary Becker, ein Vertreter der neoliberalen Chicago School, beklagte Ende der 1970er-Jahren »Familie [sei] in der westlichen Welt durch
die Entwicklungen der letzten drei Jahrzehnte grundlegend verändert – einige behaupten, fast zerstört – worden« (1993, 1, übers. v. A.F.). Dann führte er die gängige Liste von Übeln an: die Zunahme von Scheidungen und alleinerziehenden Müttern, den Rückgang der Geburtenrate und schließlich die wachsende Erwerbsbeteiligung von Ehefrauen, die den Kindern schade und sowohl Unfriede in der Familie als auch am Arbeitsplatz stifte. Seiner Ansicht nach waren diese Umbrüche Resultat einer Ausweitung des Wohlfahrtsstaates. Der Feminismus war für ihn eher eine Folge als eine treibende Kraft dieser Entwicklung. Wie viele seiner neoliberalen und neokonservativen Zeitgenossen identifizierte Becker insbesondere die Ausweitung des Sozialprogramms Aid to Families with Dependent Children (AFDC), von dem insbesondere alleinerziehende arme Frauen profitierten, als Hauptursache für den Zerfall der Familie (ebd, 375).
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| Liebe, Ex und Zärtlichkeit. Familie von links erobern

Von Anne Steckner

Familie lässt niemanden kalt. Familie verbinden viele mit Geborgenheit, Zuwendung, Intimität und Gebrauchtwerden. Wenn alle Stricke reißen, gibt es ja die Familie: der wichtigste Lebensbereich. Doch die Wirklichkeit ist widersprüchlich. Familie bedeutet im Alltag oft die Quadratur des Kreises, das getaktete Leben unter Zeitdruck. Viele Bedürfnisse wollen unter einen Hut gebracht werden, nicht selten überwiegen Erschöpfung und Überforderung. Immer wieder scheitern Beziehungen am überhöhten Bild von Familie und romantischer Liebe. Für manche ist Familie auch ein Gefängnis, ein Ort von Leid oder Gewalt, übrigens der gefährlichste Ort für Frauen und Kinder.

Dessen ungeachtet steht die Kleinfamilie hierzulande weiterhin hoch im Kurs, wirkt bis in die Zukunftsträume hinein (vgl. Haug 2017, 480ff). Wenig überraschend, ist doch die ganze Gesellschaft nach diesem Modell organisiert: rechtlich, sozialstaatlich, in der Architektur, in Pädagogik und Psychologie. Auch Kinderbücher und Unterhaltungsindustrie kennen kaum andere Formen des verbindlichen Zusammenlebens.
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| Bedingt selbstbestimmt. Warum der Kampf um Schwangerschaftsabbruch erst begonnen hat

Von Kate Cahoon

Als in dem katholisch geprägten Land am 
25. Mai 2018 eine überwältigende Mehrheit für die Streichung des quasi totalen Abtreibungsverbotes aus der Verfassung stimmte, sprach der irische Premierminister von einer »stillen Revolution«. Doch die Freudentränen und der laute Jubel in den Straßen von Dublin erzählten eine andere Geschichte: Seit 35 Jahren demonstrieren und kämpfen Aktivist*innen gegen das Abtreibungsverbot. Die emotional geführte Debatte hat das Land gespalten – die Gegner der Liberalisierung arbeiteten mit Schreckbildern und Fehlinformationen. Wir waren also weniger Zeug*innen einer stillen Revolution als eines langen, lauten und hart geführten Kampfes um sexuelle Selbstbestimmung.
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| Von #metoo zu #westrike. Politik im Femininum

Von Liz Mason-Deese

Etwa ein Jahr bevor sich in den USA die #MeToo-Bewegung formierte fanden in Argentinien Massenproteste gegen das unermessliche Ausmaß sexistischer Gewalt statt, durch die dort alle 30 Stunden eine Frau getötet wird. Tausende Frauen legten am 19. Oktober 2016 demonstrativ ihre Arbeit nieder und verweigerten sich damit der ihnen zugeschriebenen weiblichen (Opfer-)Rolle sowie der Unterordnung unter die geschlechtliche Arbeitsteilung. Ihr Streik war eine Antwort auf die wachsende Zahl von Femiziden (Frauenmorden), insbesondere auf den brutalen Mord an einer jungen Frau namens Lucía Pérez. In ihrem Aufruf wiesen sie jedoch auch auf die vielfältigen Gewaltformen hin, denen Frauen in einem ausbeuterischen Wirtschaftssystem ausgesetzt sind:
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