| Brüchige Stabilität. Die Türkei nach den Wahlen

Juli 2018  Druckansicht
Von Axel Gehring

Die AKP konnte am 24. Juni in einem Klima der Repression und Einschüchterung die Wahlen für sich entscheiden, auch ihre Bündnispartnerin, die MHP, schnitt überraschend gut ab. Unter dem neuen Präsidialsystem scheint auch sie ihre Macht auszuweiten. Allerdings repräsentiert der politische Sieg der AKP nicht die sozioökonomischen Machtverhältnisse im Land, was die politische Instabilität verschärft. Die sich entwickelnde Wirtschaftskrise spitzt die Widersprüche im Block an der Macht zu.

Die überraschende Performance der MHP sichert der AKP die Wiederwahl

Der türkische Angriffskrieg auf das kurdische Kanton Afrin im Nordwesten Syriens endete am 18. März 2018 nach knapp zwei Monaten mit Afrins Eroberung, etwa einen Monat später wurden Neuwahlen verkündet. Die AKP konnte mit der Operation ein großes nationalistisches Potential mobilisieren und den fragilen innertürkischen Burgfrieden, dessen Bindemittel der türkisch-kurdische Konflikt ist, vorübergehend festigen (vgl. Gehring auf LuXemburg-Online, April 2018). Eine tragende Rolle in dieser Konstellation spielt seit dem Putschversuch des 15. Juli 2016 die faschistische MHP. Insbesondere ihre paramilitärischen Kräfte hatten an der Niederschlagung des Putsches aktiv mitgewirkt und wurden als Dank dafür von der AKP administrativ kooptiert, ohne formell eine Koalition einzugehen. Bis auf die HDP und einigen kleineren linken Parteien stand aber letztlich die gesamte Opposition geschlossen hinter dem Angriffskrieg, so dass die AKP die türkistisch-nationalistische Initiativmacht nicht für sich monopolisieren konnte. Für ihre Bündnispartnerin, die faschistische MHP, sah die Lage in den Wochen vor der Wahl zunächst brenzlich aus, sie drohte an der 10 Prozenthürde zu scheitern. Bedrohlich schien dabei insbesondere die Abspaltung der İYİ Parti. Diese dissidente Gruppe um Meral Akşner hatte die enge Zusammenarbeit mit der AKP seit Juli 2016 als Verrat an der Parteiidentität der MHP kritisiert. Als Vorsitzende der İYİ Parti verurteilte Akşner die islamistische Radikalisierung der MHP im Tandem mit der AKP. Trotz dieser Schwächung hatte ausgerechnet die MHP die Initiative zu Neuwahlen ergriffen. Eine Änderung des Wahlgesetzes schien dann quasi dafür gemacht, die MHP nicht an der 10 Prozenthürde scheitern zu lassen, denn sie konnte nun im Bündnis mit der AKP auf einer gemeinsamen Wahlliste antreten. Tatsächlich übersprang sie die Hürde dann jedoch mit 11,1 Prozent (vorläufiges Ergebnis von Anadolu Ajans, 2018) aus eigener Kraft, hielt also – trotz Parteispaltung – in etwa ihren Stimmanteil. Ironischerweise profitierte stattdessen vor allem die im Bündnis mit der kemalistischen CHP und der islamistischen Saadet Parti antretende İYİ Parti vom neuen Wahlgesetz, denn sie erreichte nur 9,6 Prozent. Auf Recep Tayyip Erdoğan als Präsidentschaftskandidat entfielen mit 52,6 Prozent knapp so viele Stimmanteile, wie auf das Wahlbündnis aus AKP und MHP. Präsident Erdoğan kann damit ohne Stichwahl seine zweite Amtszeit als Präsident antreten. Der Erfolg der MHP, welcher der AKP (42,6 Prozent) das Weiterregieren sichert, galt allgemein als Überraschung.

Dabei wird oft übersehen, dass die offensive Loyalität der MHP sowohl in der Putschnacht und in den folgenden Verfolgungskampagnen sowie in der Afrin-Frage, die Partei auch für den rechten Flügel der AKP-Anhängerschaft attraktiv machten. Beide Parteien radikalisierten sich wechselseitig in ihrem Nationalismus und Islamismus, wobei zu beachten ist, dass die vielfach behauptete Trennung zwischen AKP (islamistisch) und MHP (nationalistisch) in dieser Form ohnehin nie existierte. Gleichwohl stellt die Zusammenarbeit beider Parteien mit Salafisten im Kontext der kurdischen Frage und des syrischen Bürgerkrieg eine massive Radikalisierung dar (vgl. Tugal auf LuXemburg-Online, Januar 2016). Hiergegen wandte sich die İYİ Parti mit ihrer Betonung einer republikanisch-nationalistischen Identität.

Im politischen System der Türkei ist die Beteiligung an administrativer Macht eng mit Patronagemöglichkeiten für Parteimitglieder, Angehörige und Anhänger verbunden. Insofern schuf die Kooption der MHP gerade im Kontext der Säuberungsmaßnahmen der letzten Jahre für viele neue Möglichkeiten des beruflichen Aufstiegs. Doch lässt sich das überraschend starke Abschneiden der MHP nicht allein dadurch erklären. Sie verlor zum Teil in ihren Hochburgen und gewann im kurdischen Raum an Stimmen hinzu – in jenen Gebiete also, die in den letzten Jahren von Kriegshandlungen, Zwangsverwaltung und direkter Besatzungspolitik betroffen waren. In diesen Gebieten herrschte im Vorfeld der Wahl ein besonderes Maß an Einschüchterung. Auch waren dort zahlreiche Unregelmäßigkeiten schon ab 2015 zu verzeichnen (Meyersson, 2018). Unabhängige Wahlbeobachtung wurde massiv behindert und teils wurden sie aus Sicherheitsgründen sogar von der OSZE gemieden. Fragen nach Wählerwanderungen sind in diesen Gegenden also sehr spekulativ. Auch im westtürkischen Raum fiel auf, das große Bezirke noch nicht vollkommen ausgezählt waren, als sich die AKP zur Siegerin erklärte. Selbst wenn es keine direkten Manipulationen im Stimm- oder Zählprozess gegeben haben sollte, was angesichts der zahlreichen Auffälligkeiten und Verheimlichungen (OSCE, 2018) sehr unwahrscheinlich ist, kann von einer demokratisch integren Wahl nicht gesprochen werden. Zu viele elementare Standards einer freien und fairen Wahl wurden unterlaufen. Die mit 22,6 Prozent der Stimmen deutlich unterlegene kemalistische CHP, hatte sich – nach zunächst harscher Kritik – doch rasch mit dem Ergebnis abgefunden und außerdem eine astronomisch hohe Messlatte für „relevanten“ Wahlbetrug definiert: 10 Millionen Stimmen. Die Schäden dieses Manövers für das politische System sind kaum abschätzbar – geben sie doch den Unregelmäßigkeiten einen legitimatorischen Rahmen. Trotz alledem konnte die HDP ihren Stimmanteil auf 11,7 Prozent ausbauen. Sie profitiere nicht zuletzt von der Tatsache, dass auf der Wahlliste der CHP kaum mehr türkische Linke kandidierten. Viele Linke also HDP wählten.

Die Bestätigung des Regimes am 24. Juni war absehbar

Bereits vorab war klar, das es am 24. Juni kein “Demokratiefest” oder gar die Option einer Abwahl des AKP-Regimes geben würde. Wer dies ernsthaft postulierte, verkannte die realen Machtverhältnisse und den Charakter des politischen Regimes in der Türkei. Wahlen in der sind AKP-Türkei ‚semi-kompetitiv’. Das heißt, dass ein begrenztes Maß an Parteienwettbewerb in die Mobilisierungspraxen des Regimes einbettet ist. Spätestens seit 2011, als die Durchdringung aller Staatsapparate mit Angehörigen des eigenen Lagers abgeschlossen war, gilt jedoch: Die Machtfrage wird in Wahlen nicht gestellt, stattdessen dienen Wahlen der Legitimierung bestehender Machtverhältnisse nach Innen und einem Reputationsgewinn nach Außen (vgl. Tokatlı, 2018). Spätestens seit dem gescheiterten Putschversuch vom 15. Juli 2016 herrscht ein autokratisches Regime mit dezisionistischen Zügen: Das heißt, der Präsident kann per Dekret Gesetze erlassen, er orientiert sich dabei stark an Freund-Feind-Unterscheidungen, die er selbst vornimmt. Hätte der AKP-MHP Block im Parlament keine Mehrheit bekommen, wäre Präsident Erdoğan nicht machtlos gewesen. Der Ausnahmezustand wäre dann sicher nicht aufgehoben worden, in ihm entzieht sich das Handeln des Präsidenten der juristischen Kontrolle: Denn bereits im Herbst 2016 hatte das Verfassungsgericht, welches die CHP angerufen hatte klargestellt, dass es nicht im Stande und bereit ist, die Präsidialdekrete auf ihre Verfassungsmäßigkeit hin zu überprüfen. Nur vom Parlament eigens verabschiedete Gesetze könnten die Dekrete aufheben. Im Falle einer Wahlniederlage der AKP/MHP–Allianz und dem Verfehlen einer Mehrheit in der ersten Runde der Präsidentschaftswahlen, hätte Präsident Erdoğan seine umfangreichen Dekretvollmachten nutzen können, um die Durchführung der zweiten Runde der Präsidentschaftswahlen zu verhindern und im Amt zu verbleiben. Eine Machtübergabe an die Opposition wäre also auch im Falle einer Wahlniederlage der AKP ziemlich sicher nicht erfolgt.

Und selbst im Falle einer von AKP, MHP und Erdoğan akzeptierten Niederlage plus einer Aufhebung des Ausnahmezustands wären die bestehenden Ausnahmezustandsdekrete nicht per se aus der Welt gewesen. Sie wurden zwar im Ausnahmezustand dekretiert, gelten aber über ihn hinaus. Nicht jede politische Kraft, die den Ausnahmezustand ablehnt, lehnt auch alle seit 2016 verabschiedeten Dekrete ab. Zur ihrer Abschaffung hätte es also nicht nur einer arithmetischen Wahlmehrheit, sondern einer politischen Mehrheit bedurft (vgl. Tokatlı, 2018). Eine solche politische Mehrheit war jedoch zu keinem Zeitpunkt realistisch. Von der Wahlallianz aus CHP, İYİ Parti und Saadet Partisi wurde die HDP explizit ausgeschlossen. Die Perspektive einer gemeinsamen und damit politischen Opposition bestand also nicht. Insofern war die Wahlallianz per se arithmetisch. Jenseits einer gemeinsamen Wahlliste beinhaltete sie keine reale Option auf (gemeinsame) politische Handlungsfähigkeit gegen die AKP. Das zeigte sich auch in der Frage des Präsidialsystems, dessen Einführung bereits seit dem Verfassungsreferendum von 2017 beschlossene Sache war: Im Gegensatz zur HDP hätte die CHP es gern für unbestimmte Zeit ‚übergangsweise’ fortgeführt. Kurz: Die Wahlen fanden vor dem Hintergrund einer in Auflösung befindlichen Rechtsordnung sowie des Fehlens einer geschlossenen gegenhegemonialen Anti-AKP-Allianz statt. Entgegen der Mehrheit aller journalistischen Analysen ist zu betonen, dass die Wahlen die Spaltungen innerhalb der Opposition nicht etwa zu überwinden halfen, sondern diese weiter vertieften.

Der Opposition konnte es bei der Wahl ohnehin nicht darum gehen, zu gewinnen, sondern lediglich darum, so viele Stimmen wie möglich zu mobilisieren. Je stärker die Mobilisierung, desto größer würde die Notwendigkeit sein, zu manipulieren und so an der Legitimation des Regimes kratzen (ders.). Dies ist weitestgehend gelungen – zu auffällig waren die Unregelmäßigkeiten. Allerdings hat die kemalistische Opposition diese politischen Möglichkeiten durch ihre frühe Anerkennung des Wahlergebnisses nicht genutzt. Dass es ein Potential zur Mobilisierung der Bevölkerung gab, zeigen die Proteste gegen die Unregelmäßigkeiten während des Referendums im April 2017 – auch diese Chance wurde von der CHP damals nicht genutzt. Vielmehr beschritt sie in einem Regime ohne Gewaltenteilung einen rein legalistischen Weg. Damals scheiterte sie mit einer Anfechtung vor Gericht, bei den jüngsten Wahlen verzichtete sie gar auf diesen Schritt. Ist die Lage für die Opposition und insbesondere die HDP deshalb hoffnungslos? Eine Antwort erfordert eine beträchtliche Erweiterung unseres analytischen Horizontes.

Andauernde Hegemoniekrise

Nach dem Sieg der Regierung bei den Präsidentschafts- und Parlamentswahlen, wurde der Ausnahmezustand inzwischen aufgehoben. Doch die Machtverhältnisse innerhalb der staatlichen Institutionen, zwischen Bevölkerung und Eliten1 sowie innerhalb der Eliten sind weit komplexer und fragiler, als die Wahlen und die präsidialen Vollmachten es vermuten lassen. Die AKP befindet sich seit Jahren in einer schweren Hegemoniekrise, spätestens mit der Juni-Revolte, die 2013 ihren Ausgang im İstanbuler Gezi Park nahm, dann aber fast das ganze Land erfasste, wurde diese manifest und für die ehedem noch AKP-euphorische westliche Öffentlichkeit offen sichtbar. Ihre brutale Niederschlagung zog sich über Wochen hin und beschädigte die internationale Reputation des Regimes immens. Sie schuf jedoch keine Befriedung – nicht einmal eine repressive. Besonders deutlich artikuliert sich die Hegemoniekrise in den fortgesetzten gesellschaftlichen Widerständen, die immer wieder neu ausbrechen und sich an den Widersprüche des Regimes entzünden. Sei es in Protesten gegen die katastrophalen Folgen der schwachen Regulierung des Bergbausektors (Katastrophe von Soma, 2014), die jährlichen Demonstrationen zum Frauenkampftag am 8. März, Proteste gegen Wahlfälschungen, die massenhaften Mobilisierungen im Kontext der Kämpfe um Kobane (2014) oder die Proteste gegen das gefälschte Präsidialreferendum von 2017 – immer wird die Legitimität des AKP-Regimes als solches direkt und unmittelbar in Frage gestellt. Jeder Kampf weist über den gegeben hegemonialen Handlungsrahmen hinaus. Möglichkeiten der Eindämmung durch Konzessionen bestehen fast keine mehr, es bleibt der AKP lediglich die Möglichkeit, die Widerstände direkt zu unterdrücken und ihre eigenen Politiken weiter nach rechts zu radikalisieren (vgl. Gehring auf LuXemburg-Online, April 2018).

Diese Dimension der Krise findet weithin internationale Beachtung. Doch die Krise der AKP bestimmt sich nicht nur durch das Verhältnis zwischen ihr und breiten Teilen der Bevölkerung, sondern auch durch ihre Beziehungen zum Machtblock, deren Teil sie ist. Die größte Beachtung fanden jene Risse im Block an der Macht, die sich Ende 2013 als Spaltung zwischen der Gülen-Bewegung und der AKP offenbarten, als auch jene während des Putschversuches am 15. Juli 2016. In beiden Fällen spielte die wachsende Sorge türkischer Eliten, um eine zunehmende Isolation der Türkei angesichts der AKP-Strategien der radikalen politischen Polarisierung eine wesentliche Rolle (vgl. Gehring auf LuXemburg-Online, April 2016). Diese Politiken sind Teil des dezisionistischen Bemühens, die Hegemoniekrise durch Mobilisierung und Radikalisierung ihrer eigenen Anhängerschaft zu überbrücken. Im Kontext der tiefen Westintegration des Landes, die ökonomisch in den letzten Jahren eher bedeutsamer wurde,2 werden sie von Teilen des Machtblocks als immanente Bedrohung ihrer Reproduktionsbedingen, sowie der türkischen Ökonomie und Nation überhaupt erlebt.

Um die (In-)Stabilität des Regimes und folglich die Handlungsmöglichkeiten der Opposition ausloten, müssen wir die Grenzen typischer Analysen von Parteien und ihren Programmen überschreiten. Es gilt sich die Materialität des Feldes vors Auge zu führen, auf dem eine Vielzahl an Akteuren des Machtblocks kämpft. Zahlreiche Analysen der politischen Linken kranken genau daran, dass sie nicht verstehen können, mit welchen Problemen, divergierenden Interessen und Handlungsrestriktionen die Akteure des Blocks an der Macht konfrontiert sind. Diese Blindheit führt mal zu überoptimistischem linken Voluntarismus, mal dazu, defätistisch Widersprüche zwischen den Herrschenden zu übersehen. Die Berichterstattung hierzulande war in den letzten Wochen dadurch geprägt, dass sie übermäßig auf den Wahlprozess fokussierte und sich gleichzeitig allenfalls oberflächlich mit der dramatisch verschärften Wirtschaftskrise auseinandersetzte.

Der Block an der Macht wird in seiner Gesamtheit vom Gros der Analysen meist übersehen. Er besteht übrigens nicht nur aus staatlicher Bürokratie, Parteien und gewählter Regierung, sondern umfasst ebenso die unterschiedlichen Kapitalfraktionen. Letztere sind in unterschiedlich stark und auf unterschiedliche Weise international integriert, was deren Interessen erheblich beeinflusst. Es ist mehr denn je geboten, sich präzise mit jenen Konflikten im Block an der Macht auseinanderzusetzten und das Verhältnis der unterschiedlichen Parteien zueinander und zu Ökonomie und Staat im Kontext einer solchen Machtblockanalyse zu bestimmen.

Wirtschaftskrise

Im deutschen Sprachraum fand eine mehr oder minder differenzierte Auseinandersetzung mit der türkischen Wirtschaftskrise bislang vor allem in einigen wenigen Wirtschaftszeitungen statt. In der Türkei hingegen avancierte sie seit Mitte Mai zu einer der zentralen Fragen des Wahlkampfes. Aber auch darüber hinaus hat sich die Krise mit brachialer Macht ins Zentrum der Aufmerksamkeit gedrängt. Was ist geschehen?

Zentrale Probleme des türkischen Wachstumsmodells drücken sich unter anderem in erheblichen Leistungsbilanzdefiziten, einer steigenden Verschuldung im Ausland und einer Immobilienblase aus. Ebenso bestehen seit Jahren Zweifel an den offiziellen Zahlen, die für das erste Quartal des Jahres 2018 ein Wirtschaftswachstum von 7,4 Prozent und eine Inflationsrate von 15,39 Prozent auswiesen (vgl. TUIK, 2018). Da der (fallende) Wechselkurs der Türkischen Lira jenseits der Einflussnahme türkischer Statistiker liegt, avancierte er zu einem alternativen Krisenindikator.

Doch was sind überhaupt die strukturellen Probleme? Durch die bis 1980 verfolgte importsubstituierende Industrialisierung konnten zahlreiche Industrien in der Türkei angesiedelt werden. Allerdings blieben diese Industrien – trotz breiter Angebotspalette – abhängig von Importen, denn viele waren energieintensiv und fast alle wiesen eine geringe Fertigungstiefe auf. Hohe Handelsbilanzdefizite waren die Folge. Zusammen mit einer Offensive der Lohnarbeitenden mündeten sie in eine tiefe Krise, auf die 1980 ein Militärputsch folgte. Ähnlich, wie in Chile, wurde er zum Wendepunkt der Neoliberalisierung des Landes. Zwar konnte der Lohndruck gemindert und Exporte gesteigert werden, die Probleme des ehedem importsubstituierenden Industrialisierungsprozesses wurden jedoch unter dem neuen neoliberalen Regime nicht wirklich gelöst: Statt eine grundlegende industrielle Modernisierung voran zu treiben, wurde Kapital gewinnträchtiger im Handels- und Immobiliensektor angelegt, und später in Infrastrukturprojekten (vgl. Ataç, 2013). Während der Schuldenkrise in den neunziger Jahren kamen noch hochverzinsliche Staatsanleihen hinzu. Keine türkische Regierung hat hier in den letzten Jahrzehnten entgegensteuert, denn entsprechende wirksame Instrumente wurden mit der Neoliberalisierung ja aus der Hand gegeben. Quantitative Expansion des gegenwärtigen Wirtschaftsmodells war wichtiger als Innovation. Quantitative Expansion des bestehenden Modells heißt auf Dauer aber Potenzierung seiner Schwächen. Die größte Schwäche stellte aus Sicht der führenden Ökonomen das Problem externer Defizite dar, das es ohne grundlegende Revision nicht zu bearbeiten war. Insofern blieb systemimmanent nur die Möglichkeit, ausländisches Kapital dadurch anzuziehen, dass bei Investoren entsprechendes Vertrauen generiert wurde. Ein repressives Gewerkschaftsregime unterstützte diese Strategie ebenso, wie eine immer rigidere Auslegung des Neoliberalismus. Sämtliche Strategiepapiere der großen Unternehmensverbände, die zahlreichen Abkommen mit IWF und Weltbank sowie die aufkommenden EU-Reformen wiesen während der krisenhaften neunziger Jahre ökonomisch in diese Richtung.

Von 2002 bis 2007 gelang es dank eines günstigen internationalen Marktumfelds unter der AKP-Regierung ein relativ beständiges Wachstum zu erzielen und sich damit von der Krisenhaftigkeit der neunziger Jahre abzugrenzen. Die ihr vorangegangene Regierung war für ihre Wirtschafts- und Sozialpolitiken abgestraft worden, denn sie hatte in Folge der schweren Krise von 2001 ein Stand-By-Abkommen mit dem Internationalen Währungsfond (IWF) geschlossen, das im Austausch gegen Kreditzusagen einen besonders rigiden Neoliberalismus implementierte. Letzterer setzte auf vermeintlich unabhängige ökonomische Regulierungsagenturen, die das Spiel der Märkte im neoliberalen Sinne überwachen. Diese Agenturen wurden durch EU-Reformen, die diese Logik reproduzierten und mit einer Demokratisierungserzählung verbanden auf Dauer bilateral und transnational verankert. Unter den Bedingungen der Krise von 2001 waren somit langgehegte Wünsche der führenden Unternehmenskonglomerate umgesetzt worden, die seit den neunziger Jahren darauf gezielt hatten, die Formulierung der Wirtschaftspolitik von politischen Legitimationserfordernissen zu entbinden (ders.). Nach ihrem Regierungsantritt übernahm die AKP dieses institutionelle Setting, und die reichlich vorhandene Liquidität der internationalen Finanzmärkte fand derweil in der Türkei einen stabilen Anlageort. Durch die Beschleunigung von Privatisierungsprozessen unterstütze die AKP diese Entwicklungen massiv, ihre sozialen Widersprüche schienen vom allgemeinen Wirtschaftswachstum verdeckt zu werden (vgl. Gehring, 2016).

Die globale Wirtschaftskrise von 2007/08 induzierte dann einen politisch folgenreichen Wandel in der türkischen Wirtschaftspolitik: Einerseits behielt die AKP-Regierung die rigide neoliberale Grundorientierung bei, indem sie weder ihre Verträge mit der EU antastete noch die unabhängigen Regulierungsagenturen formell auflöste, anderseits verzichtete sie auf weitere Stand-By-Abkommen mit dem IWF und setzte immer stärker auf expansive (neoliberale) Wirtschaftspolitik. Dazu wurden institutionelle Veränderungen vorgenommen: Die Kompetenz für expansive Politiken (zum Beispiel in Form extrabudgetärer Fonds für Großprojekte oder für ihre klientelistische Sozialpolitik, die nicht auf verbrieften Rechten, sondern Loyalität der Rezipienten basierte) wurden vornehmlich bei Erdoğan angesiedelt. Es entstanden im Prozess der Krisenbearbeitung seit 2008 verstärkt (neue) parallele Strukturen zur offiziellen Wirtschaftspolitik der Fachministerien. Im Gegensatz zu anderen mediterranen Staaten verfing sich die Türkei nicht in orthodoxen Sparprogrammen und ab 2010 wuchs die Ökonomie wieder (ders., 2016).

In diesem Setting fungierte Ministerpräsident Erdoğan als das Scharnier in der Vermittlung zwischen der scheinbaren „kalten“ ökonomischen Rationalität der regulären Bürokratie von Ministerien und Unabhängigen Regulierungsagenturen und jenen klientelistischen Politiken, die diese in Gestalt von Sonderfonds und Großprojekten populistisch durchbrachen. Dies fand durchaus gesellschaftliche Unterstützung und wirkte auf seine Stellung im Block an der Macht. Diese Schlüsselrolle Erdoğans in der Intermediation zwischen genereller neoliberaler Orientierung und expansiv klientelistischen Politiken, ließ seine politische Macht überhaupt erst so exponentiell wachsen. Die klientelistische Repolitisierung der Wirtschaftspolitik stand der rigiden orthodox-neoliberalen und zutiefst autoritären Depolitisierung als konkurrierendes Paradigma entgegen. Erstere sollte nicht im Sinne von Rechtsstaatlichkeit und wachsenden Möglichkeiten der demokratischen Partizipation verstanden werden. Vielmehr bahnte sie (wenn auch nicht allein, sondern im Tandem mit einem islamistischen Gesellschaftsprojekt) einem Autoritarismus den Weg, der sich zur Durchsetzung seiner ökonomischen und kulturpolitischen Ziele der gesellschaftlichen Polarisierung und des Ausschlusses opponierender Kräfte bediente. Der autoritäre Populismus der AKP flexibilisierte die starre Regulierung der Ökonomie nach dem monetaristischen Paradigma, zugleich führte er jedoch zu einer neuen Form der Verhärtung des Staates (vgl. Gehring, 2018). Denn der Staat brach mit Härte die gesellschaftlichen Widerstände, die sich schon lange vor Gezi gegen die despotischen Momente eines ökonomischen Expansionismus und autoritären Populismus richteten. Im Prozess der Verhärtung wurden diese immer alternativloser.

Allerdings zeichnete sich seit langem ab, dass der Kurs nicht dauerhaft fortsetzbar war, denn die Defizite wuchsen und der Zufluss ausländischer Investitionen wurde instabiler. Dies bildete sich auch im Wechselkurs der Lira ab. Seit Beginn des Jahres 2014 hatte sich dieser gegenüber dem Dollar halbiert, die Renditen für türkische Staatsanleihen stiegen im Monat Mai beinahe synchron zum Wechselkursverfall und um die Transparenz der türkischen Staatsverschuldung ist es in Folge zahlreicher Sonderfonds außerhalb des offiziellen Staatshaushalts nicht wirklich gut bestellt. Bis zum vorgezogenen Wahltermin wurden die expansiven Politiken fortgesetzt. Doch im Kontext steigender Zinsen in den USA und wachsender Verschuldung türkischer Unternehmen bis an die Grenze des Zahlungsausfalls liefen der AKP im Mai die Entwicklungen davon. Die Krise verdichtete sich in einem Wendepunkt, der symbolisch für eine reale Verschiebung der Kräfteverhältnisse (im Machtblock) steht: Am 15. Mai stellte Präsident Erdoğan erneut die Autonomie der wichtigsten unabhängigen Regulierungsagentur, der Zentralbank, in Frage. In der Folge sackte der Wechselkurs an einem einzigen Tag um 5% Prozent auf 4,90 Lira pro Dollar ab. Es konnte nicht mehr verborgen werden, was schon einige Zeit der Fall ist: Das Land und vor allem viele seiner Unternehmen befinden sich am Rand der Schuldenkrise, einige tief drin (vgl. Babcan, 2017). In einer ruckartigen Kehrtwende bekannte sich Erdoğan am 23. Mai zur Autonomie der Zentralbank, welche durch zwei Zinsabhebungen den Wechselkurs leidlich stabilisieren konnte. Die Krise aber schwelt weiter und belastet die Beziehungen im Block an der Macht.

Erdoğanismus in der Krise – Zuspitzung der Widersprüche im Machtblock

Was bedeutet das politisch? Die türkische Krise hat das Potential zur Internationalisierung und damit zu einer europäischen Finanzkrise – es lastet damit ein Druck auf den internationalen Finanzinstitutionen in der Causa Türkei tätig werden, denn letztere ist zu groß, um ignoriert zu werden (Leisinger, 2018). Es ist daher nicht abwegig, ihnen ein Interesse an einer Intervention a lá Stand-By-Agreement und Strukturanpassung zu unterstellen. Dazu müsste die türkische Regierung um Beistand bitten, das aber bringt sie in eine schwierige Lage. Denn sehr wahrscheinlich würde diese Intervention bereits bestehende Widersprüche im türkischen Block an der Macht massiv zuspitzen, denn seine Fähigkeit Widersprüche zu prozessieren hat unter der Transformation der letzten Jahre massiv gelitten. Wie sehen die Mechanismen der Vertiefung der Krise konkret aus?

Es ist unwahrscheinlich, dass in Folge der eskalierenden Krise die EU, der IWF und die Weltbank die Türkei fallen lassen. Noch unwahrscheinlicher ist jedoch, dass sie das politisch autoritär-populistisch vermittelte expansiv-neoliberale Paradigma türkischer Wirtschaftspolitik weiter unterstützen und ihm die Anhäufung weiterer Defizite erlauben – es ist zu stark unter Druck. Der wirtschafts- und finanzpolitische Bias dieser Institutionen sowie der dominierende Modus der Europäischen Integration deuten in Richtung eines Stand-By-Agreement. Ein solches Abkommen zwischen einem Staat und dem IWF beinhaltet Kreditzusagen durch den IWF im Austausch gegen ökonomische Reformversprechen seitens der lokalen Regierung – Strukturanpassung. Derartige Reformen beinhalten typischerweise straffe Haushaltpolitik, Einsparungen im Haushalt (d.h. Austerität), eine auf den Geldwert ausgerichtete (d.h. monetaristische) Geldpolitik der Zentralbank und zumeist auch neoliberale Sozialreformen sowie Druck auf die Löhne.

Eine solche Strukturanpassungspolitik wäre jedoch nicht als Politik eines homogen verfassten Machtblocks miss zu verstehen. Denn Strukturanpassung entspräche tendenziell den Interessen der führenden türkischen Unternehmensholdings, die ein beachtliches Maß an industriellen Aktivitäten in der Türkei aufrechterhalten – ungeachtet wichtiger Aktivitäten im Finanz- und Handelssektor. Für die Aufrechterhaltung ihrer lokalen Tätigkeiten ist für sie aber die stabile Integration in den globalen Kapitalkreislauf von entscheidender Bedeutung. Der materialistische Staatstheoretiker Nicos Poulantzas nannte diese Fraktionen Innere Bourgeoisie (Poulantzas, 1976). Sie verfolgen eigene ökonomische Interessen, können sich aber nur in enger Beziehung mit ausländischem Kapital reproduzieren. Organisiert in der Vereinigung der Industriellen und Geschäftsleute der Türkei (TÜSİAD) bilden sie die wichtigsten Unterstützer der IWF- und EU-Beitrittspolitiken sowie einer möglichst rigiden neoliberalen Regulierung mit starken unabhängigen Regulierungsagenturen. In den 2000er-Jahren unterstützten sie die wichtigsten AKP-Politiken. Ökonomisch repräsentieren die 4000 in der TÜSİAD organisierten Unternehmen 85 Prozent des Außenhandels, die Hälfte der Beschäftigten des Privatsektors, 80 Prozent des Unternehmessteueraufkommens sowie die Hälfte der Wertschöpfung (tusiad.org/en/tusiad/about). Sie konstituieren die bei weitem stärkste Kapitalfraktion mit den stärksten eigenständigen Verbindungen auf die transnationale Ebene – wie zum Beispiel dem European Round Table of Industrialists. Den Aufstieg des expansiv-neoliberalen Paradigmas sowie die Zentralisation der politischen Macht unter Präsident Erdoğan haben sie mit großer Sorge verfolgt, ebenso die wachsende politische Polarisierung im Land und dessen internationalen Ansehensverlust. Zu einer offensiven politischen Kritik sahen sie sich bislang jedoch nicht in der Lage.

Demgegenüber steht Erdoğan für das autoritär-populistisch vermittelte expansive neoliberale Paradigma, das unter den gegenwärtigen Bedingungen kaum mehr aufrechtzuerhalten ist und zu einer sich rasch internationalisierenden Finanzkrise führen kann. Auch dieses Policy-Paradigma hat eine klare – wenn auch andere – Klassenbasis: Die führenden TÜSİAD-Unternehmen konnten zwar lange indirekt an der gesteigerten Gesamtnachfrage partizipierten. Allerdings waren es nicht letztere, sondern hauptsächlich Firmen des Bausektors und AKP-nahe Holdings, die direkt von den AKP Politiken profitieren. Nicht selten wurden diese Firmen in den 2000er Jahren als „Anatolische Tiger“ oder „Islamisches Kapital“ gelabelt – zuweilen durchaus als Eigenbezeichnung. Inwieweit diese kulturalistischen Termini taugen, um sie als Kapitalfraktion zu identifizieren sei hier dahingestellt (kritisch, Gehring 2009). Entscheidend ist, dass sie als Fraktion nicht primär kulturell-identitär, sondern anhand ökonomischer Parameter zu differenzieren sind: Obwohl sie seit 2002 (auch durch enge Patronage-Beziehungen zur AKP) beträchtlich wuchsen, stellen letztere Firmen nicht die führende Fraktion der Bourgeoisie dar. Unmittelbare politische Patronage ist zudem nicht die entscheidende Determinante des Akkumulationsprozesses in der Türkei. Zu den führenden TÜSİAD-Unternehmen konnten sie nicht wirklich aufschließen. Sie sind in der Mehrzahl kleinere bis mittlere Unternehmen, dort wo sie groß wurden, sind sie die Kleinen unter den Großen geblieben. Vor allem – und das ist hier entscheidend – sind sie weniger tief und vor allem weniger differenziert in den internationalen Kapitalkreislauf eingebunden. Zudem sind sie, dort wo sie die Internationalisierung ihres Akkumulationsprozesses vorantreiben, weniger stark auf den europäisch-transatlantischen Raum ausgerichtet. Unter einem Ende der (nationalen) expansiven Politiken, würden sie deutlich stärker leiden, als die führenden TÜSİAD-Unternehmen, für welche die stabile langfristige Integration in die transatlantisch-europäische Ordnung wichtiger ist. Dort, wo diese Unternehmen ein quantitatives und qualitatives Wachstum durchmachen, nähern sie sich zudem strukturell der Interessenslage der klassischen führenden TÜSİAD-Unternehmen an (grundlegend zur Entwicklung der Holding-Gesellschaften: Öztürk, 2010).

In anderen Worten: Der Erdoğanismus mag zuletzt durch Verfassungsänderungen politische Positionen gefestigt haben –– repräsentiert aber nicht (mehr) die sozioökonomischen Machtverhältnisse. Erdoğanismus als politökonomisches Paradigma ist unter Druck, der Wahlsieg und die neue Verfassung ändern daran nichts. Die Verschiebung der Kräfteverhältnisse im Machtblock in Folge der Wirtschaftskrise konstituiert eine eigene materielle Realität. Käme es zu einem IWF-Stand-By Abkommen, bedeutete dies einen Inhalts- und Formwandel im diplomatischen Verkehr mit der Türkei: Denn an Stelle der Spitze der Exekutive, würde die Fachbürokratie und die Unabhängigen Regulierungsagenturen als Adressatinnen der internationalen Türkei-Politik aufgewertet. Ein typischer Vorgang in Krisenzeiten.

In ihren frühen Jahren wurde die AKP international euphorisch unterstützt – gerade wegen ihrer Kapazität bürgerliche Herrschaft allgemein und neoliberale Expansion im Spezifischen zu organisieren und gesellschaftlich zu verankern und zu vertiefen. Eben dies hatte der hegemoniale Diskurs zur Jahrtausendwende den anderen Parteien – insbesondere den kemalistischen – abgesprochen. In Folge der Krise des AKP-Regimes, die seit 2013 auch in westlichen Öffentlichkeiten diskutiert wird, ist dieses Bild dahin. Der Transformationsprozess der letzten Jahre artikulierte sich in Gestalt eines Faschisierungsprozesses, der zwar noch nicht zur Herausbildung eines komplett faschistisches Systems, mindestens aber zu einer Form von Ausnahmestaat führt. Auch die Selbstorganisation von Kapitalinteressen hat darunter massiv gelitten. Jene Kräfte, die tendenziell für das rigide neoliberale Paradigma stehen, wurden sukzessive aus den Staatsapparaten verdrängt – zum Teil übrigens auch im Kontext der Säuberungskampagnen der letzten Jahre. Gesellschaftliche Orte, an denen sich die unterschiedlichen ökonomischen Paradigmen der Machtblockakteure im legalen politischen Disput reiben können, existieren kaum noch. Führende Machtblockakteure sind sich darüber bewusst, meiden aber die unmittelbare Konfrontation aus Angst vor Sanktionen. Auch dies erklärt die relative politische Passivität der TÜSİAD. In der Folge liegt eine Situation vor, in der die internen Differenzen direkt in den Staatsapparaten ausgetragen werden müssen. Statt mehr oder minder flüssiger Prozessierung divergenter Interessen der Machtblockakteure werden Differenzen in Situationen äußerster Zuspitzung zentralisiert von Fall zu Fall geregelt. Diese Situation ist eine Quelle erheblicher politischer Instabilität innerhalb des Blocks an der Macht. Zugleich kann die AKP ihren ökonomischen Ansatz nicht beliebig modifizieren, denn klientelistische und expansive Politiken spielen eine Schlüsselrolle im Kampf um populare Unterstützung. Letztere benötigt sie aber um sich im Machtblock dauerhaft halten zu können. Eine mögliche Wende zu IWF-Strukturanpassungspolitiken wird auch durch den Sieg der ultranationalistischen MHP erschwert. Die größte Aufgeschlossenheit gegenüber der Zusammenarbeit mit westlichen Institutionen und damit indirekt zu einer Politik der Strukturanpassung haben die CHP und die İYİ Parti gezeigt, beide unterlagen in den Wahlen.

Die Krise der Diktatur und politische Perspektiven

Das AKP-Regime ist schon seit Jahren in einer schweren Krise: Die im İstanbuler Gezipark beginnende Juni-Revolte von 2013 richtete sich gegen eine spezifische kulturelle, islamistisch-neoosmanische Vermittlungsform einer kapitalistischen Moderne, für die das AKP-Regime paradigmatisch stand – zum Teil auch gegen diese Moderne selbst. Für kurdische Kämpfe gilt dies auch, sogar mit noch längerer Tradition. Diese und weitere gesellschaftliche Auseinandersetzungen materialisieren sich politisch – zum Beispiel im Verfehlen einer AKP-Mehrheit bei den Parlamentswahlen im Juni 2015, als die HDP die 10 Prozenthürde übersprang. Oder durch die Wahlniederlage beim Verfassungsreferendum über die Einführung des Präsidialsystems im April 2017. Nur massive Wahlfälschungen konnten damals das Präsidialsystem auf den Weg bringen. Wenig überraschend genügten auch die jüngsten Wahlen keinen demokratischen Standards. Hoffnungen in sie setzen konnte nur, wer den dezisionistischen Charakter des AKP-Regimes verkennt.

Diese Wahlen waren nicht die letzten freien Wahlen vor dem Übergang in eine Autokratie, wie oft geschrieben. Denn der Übergang ist längst vollzogen, Gewaltenteilung gibt es seit Jahren nicht mehr. Doch ungeachtet der aktuellen Regierungsform gilt: Machtverhältnisse sind immer fragil, und die derzeitige Wirtschaftskrise induziert einen besonders rapiden und möglicherweise dramatischen Wandel, der nur noch keine politische Artikulationsform gefunden hat. Die vorgezogenen Wahlen sollten vor allem die für die AKP noch leidlich günstigen Machtverhältnisse abbilden.

Doch für jede Wahl nach eigenem Gusto braucht die AKP ein Mindestmaß an Zustimmung, sowohl unter den Eliten im Machtblock als auch den eigenen Anhängern. Die jedes Mal erforderliche Mobilisierung von Stimmen setzt die AKP also sehr wohl unter Druck – gegenüber der Bevölkerung, wie auch gegenüber dem Machtblock. Zustimmung im Block an der Macht hat sie nur, wenn sie diesem glaubhaft vermitteln kann, die mehr oder minder stabile Reproduktion der kapitalistischen Ordnung neoliberaler Prägung zu gewährleisten.

Diese Ordnung konstituiert sich international als eine äußerst asymmetrische, die insofern große Spielräume für diverse autoritäre Regimes lässt. Doch nicht jedes Regime passt dauerhaft zu seiner sozioökonomischen Basis. Dem gegenwärtigen Regime, das im Kontext seiner seit nunmehr 5 Jahren andauernden Hegemoniekrise deutlich rechtsnihilistische Züge angenommen und massiv an internationaler Reputation eingebüßt hat, erodiert langsam aber sicher seine sozioökonomische Basis. Die führenden Gruppen dieser Basis bilden übrigens nicht jene vorgeblich von der AKP ‚kulturell authentisch’ repräsentierten Massen, sondern jene gesellschaftlichen Eliten, die – wie die TÜSİAD – das AKP-Projekt einst euphorisch unterstützten – auf Grund ihrer Kapazität herrschende Interessen zu repräsentieren und zugleich die Massen mit sich oppositionell gebenden Anrufungen und klientelistischen Konzessionen an sich zu binden (vgl. Gehring, 2018). Seit 2013 befindet sich dieser autoritär-populistische Modus der Hegemonieausübung in einer schweren Krise, sein Zwangsmoment tritt immer offener hervor. Die Kapazität der AKP zur Unterdrückung von Widerständen ist seitens der Mehrheit der gesellschaftlichen Eliten im Prinzip erwünscht, denn die herrschende Klassenordnung basiert letztinstanzlich auf Zwang. Doch der Faschisierungsprozess der letzten Jahre, wird den führenden Fraktionen der ökonomischen Eliten im Kontext der Wirtschaftskrise unheimlich, denn er unterläuft ihr Bemühen um ein stabile Integration in die globale und regionale neoliberale Ordnung. Letztere ist heute stark transnational verrechtlicht und durch lokal unabhängige Regulierungsinstitutionen, wie zum Beispiel Zentralbanken und unabhängige Regulierungsbehörden abgesichert. Diese Verrechtlichung der Ordnung ist übrigens einer der wichtigsten Eckpfeiler des türkischen EU-Beitrittsprojektes. Dennoch gibt es wenig Anlass jene Verrechtlichung als Demokratie misszuverstehen, denn die Unabhängigkeit dieser Institutionen soll sie von politischer Rechenschaftspflicht gegenüber der Bevölkerung abschirmen und die rationale Prozessierung von Kapitalinteressen ermöglichen. Populismus von rechts bedient sich der Widersprüche dieser autoritären Verrechtlichung, die eben keine Demokratisierung darstellt. Der Angriff auf diese Institutionen im Kontext des stark führerzentrierten autoritären Populismus a lá Erdoğan, verschräft sowohl den Splitt im Machtblock und jüngst auch die Währungskrise.

Faschisierung war historisch solange von Bestand, wie sie komplementär zum Bemühen der herrschenden Klassen in ihrer Gesamtheit stand, sich gegen eine Bedrohung der kapitalistischen Ordnung (von links) zu wehren. Sehen wir von extremen Beispielen, wie Deutschland und Italien ab, die über ihre eigenen Angriffskriege stürzten, so gilt historisch: Faschisierung und Ausnahmezustandsregimes fanden dann ihr Ende, wenn sie nicht mehr den hochgradig international integrierten lokalen Machtblock in seiner Gesamtheit repräsentierten, sondern nur noch Ausschnitte dessen. Diese Erkenntnis ist nicht neu, sie stammt vom materialistischen Staatstheoretiker Nicos Poulantzas, der sich in den siebziger Jahren mit der Krise der diktatorischen Regimes in Portugal, Griechenland und Spanien auseinandergesetzt hat (Poulantzas, 1976). Mögen sich einzelne Angehörige der AKP-Diktatur an ihre Macht und damit an ihre Positionen im Partei- und Staatsapparat klammern; die AKP also solche regiert nicht um ihrer selbst willen. Im AKP-Regime verdichten und materialisieren sich umkämpfte Kräfteverhältnisse zwischen Klassen und klassenrelevanten Akteuren. Die vorgezogene Wahl fand im Schatten einer drohenden Zuspitzung einer Krise innerhalb des Blocks an der Macht statt.

Krisen im Machtblock sind gewiss keine Einbahnstraßen in Richtung Demokratisierung oder gar revolutionärer Prozesse, aber sie eröffnen oppositionellen Akteuren neue Möglichkeiten gerade auch über die Wahl hinaus, denn brüchige institutionelle Formen schaffen Handlungsspielräume. Das aber setzt voraus sie weitaus stärker in den Blick zu nehmen als es in den letzten Monaten auch hierzulande geschehen ist.

 

Literatur

Anmerkungen

1 Im Folgenden in Anlehnung an Nicos Poulantzas auch Machtblock oder Block an der Macht genannt.

2 Laut der türkischen Statistikbehörde TUİK (www.tuik.gov.tr) lag der Anteil von türkischen Exporten in OECD-Staaten 2016 bei 54,3 Prozent (2012: 43,5) auf Nah- und Mittelöstliche Staaten entfielen 22 Prozent (2012: 27,8).