| BRASILIEN: FÜR EIN POPULARES PROJEKT

Dezember 2009  Druckansicht
Von João Pedro Stédile

Wir stehen erneut einer systemischen Krise gegenüber. Eine der Folgen der Krise von 1870 bis 1896 war das Aufkommen des ersten Volksund Arbeiteraufstands, der Pariser Kommune. Die Krise von 1929 bis 1945 zog vielfältige gesellschaftliche Auseinandersetzungen nach sich und wurde erst durch den Zweiten Weltkrieg gelöst. Wenn wir uns nun wieder in einer systemischen Krise befinden, wird diese lang anhalten – fünf bis zehn Jahre schätzt der Nobelpreisträger Joseph Stiglitz – und erhebliche Konsequenzen zeitigen, bevor der Kapitalismus sich erneuert und ein neuer langer Akkumulationszyklus möglich wird.

Einige unserer organischen Intellektuellen weisen darauf hin, dass diese Krise einige besondere Charakteristika aufweist. Niemand weiß, welche gesellschaftlichen Konsequenzen sie haben wird: zu Zeiten vorangegangener Krisen lebte die Mehrheit der Weltbevölkerung noch auf dem Lande, und die Produktionsweise der Bauern war nicht kapitalistisch.

Die Logik der bäuerlichen Produktionsweise folgt nicht der des Profits, sondern dem Ziel einer Produktion fürs Überleben; nur der Überschuss wird auf dem Markt verkauft. Folglich gelingt es auf Subsistenz orientierten Bauern, sich besser gegen kapitalistische Krisen abzusichern. Inzwischen leben zum ersten Mal in der Geschichte 51 Prozent der Menschheit in Städten. Wenn wir Indien und China abziehen, sind es fast 70 Prozent. Niemand vermag also die Tiefe der gesellschaftlichen Probleme zu ermessen, die eine Krise dieses Ausmaßes für die in den großen Städten lebende Bevölkerung schaffen kann.

Ein weiteres Charakteristikum ist, dass sich das Kapital internationalisiert und zentralisiert hat. Die Weltwirtschaft wird von den 500 Großunternehmen beherrscht. Die 50 größten Unternehmen verfügen über ein Bruttosozialprodukt, das das der 100 kleinsten Länder übersteigt. Die Filiale des brasilianischen Ölkonzerns Petrobrás in Bolivien verfügt über ein Bruttoprodukt, das 15 Prozent der Wirtschaftskraft Boliviens ausmacht. Das Unternehmen Vale do Rio Doce hat eine Wertschöpfung, die anderthalbmal so groß ist, wie das BIP des Bundesstaates Pará. Wer hat also mehr Macht in Pará: Die Gouverneurin Ana Júlia oder der Konzernchef Roger Agnelli? Der Machtzusammenballung des Kapitals kann politisch nur auf internationaler Ebene begegnet werden, durch ein System von Global Governance. Doch die Organe dieser Governance sind für die Krise wesentlich mitverantwortlich. Wer respektiert noch den Internationalen Währungsfond? Die Weltbank? Die Vereinten Nationen? Die UNO hat 300 Beschlüsse über Palästina, Irak etc. verabschiedet und niemand respektiert sie. Wird also die UNO das Kapital regulieren? Eine Illusion. Es besteht ein Widerspruch zwischen der internationalisierten Macht des Kapitals und einer politischen Macht, die es reguliert. Beim Fehlen einer politischen Macht kann es dazu kommen, dass sich die Krise verlängert oder dass die Lösung nur zugunsten der wirtschaftlichen Macht ausfällt, mit entsprechenden sozialen und ökologischen Folgen.

Ein Charakteristikum der Krise ist, dass im 20. Jahrhundert das Zentrum der kapitalistischen Akkumulation, des industriellen Kapitalismus, v.a. in der Automobilindustrie lag. Das Auto war die Lokomotive der Entwicklung und unzählige Aktivitäten gruppierten sich darum: von Stahlwerken und Zulieferern über den Straßen- und Städtebau bis hin zur Konsumund Lebensweise – alles dreht sich ums Auto. Wenn ich in São Paulo zu Fuß gehen muss, werde ich wütend, weil die Fußwege nicht für Fußgänger gemacht sind, sondern damit die Autos in ihre Garagen fahren können. Welche Leidenschaft die Industriegesellschaft um das Auto herum erschaffen hat! Doch lässt sich diese Logik nicht unentwegt fortführen, die auf individuellem Verkehr basierende Lebensweise lässt sich nicht aufrechterhalten.

Die Ölvorräte gehen zur Neige, also wird auf Biokraftstoffe umgestellt. Doch wie viel landwirtschaftliche Fläche müssten wir mit Zuckerrohr bepflanzen? In São Paulo sind es schon 4 Mio. Hektar, die für jene 30 Prozent Ethanol am Gesamtverbrauch benötigt werden – Flächen, die nicht mehr für die Nahrungsmittelproduktion, für die Bedürfnisse der Bevölkerung zur Verfügung stehen. Diese Form der Produktion stößt an die Grenzen der zur Verfügung stehenden natürlichen Ressourcen. Nicht nur landwirtschaftliche Grenzen, auch Grenzen der Förderung von Eisen, Grenzen des Transports, der Nachfrage. V.a. aber ist diese industrielle Produktionsform die Ursache der klimatischen Veränderungen unseres Planeten. Ein weiteres Beispiel aus meiner Heimat Rio Grande do Sul: In den letzten Jahren mussten wir fünf Dürreperioden überstehen. Jenes regnerische Klima, für das Rio Grande bekannt ist, gibt es nicht mehr. In 110 Gemeinden verfügen die Haushalte nicht über ausreichend Trinkwasser. Dies steht offensichtlich mit der industriellen Monokultur der Landwirtschaft, mit der zunehmend auf die Industrie, auf die Kapitalakkumulation anstatt auf den Wohlstand der Bevölkerungen ausgerichteten Produktionsweise im Zusammenhang. Dieses industrielle Modell mit der Autoindustrie im Mittelpunkt taugt nicht für einen neuen Entwicklungsschub. Brasilien wie der Rest der Welt muss umsteuern.

ÜBLICHE AUSWEGE DES KAPITALS

Wenn die Bewegungen der Arbeiterklasse ihre Interessen schützen wollen, müssen sie achtsam sein: Die Kapitalisten neigen dazu, auf Rezepte aus anderen Perioden zurückzugreifen: Zuerst zerstören sie vor der Krise überakkumuliertes Kapital, um den Weg für einen neuen Akkumulationszyklus frei zu machen. Pensionsansprüche, Arbeitsplätze, Perspektiven werden mitzerstört.

Darüber hinaus wird in der Krise die Ausbeutung der Arbeiter verschärft. Das Kapital drückt die Durchschnittsgehälter, erhöht die Arbeitszeit, verdichtet die Arbeit und stabilisiert auf diese Weise die Profitrate. Die Krise wird auch zur technischen Anpassung genutzt, um den Produktionsprozess umzubauen, die Arbeitsproduktivität zu erhöhen bzw. mehr Produkte in kürzerer Zeit mit weniger Arbeitern herzustellen.

Auch nimmt in Krisenzeiten der Kapitaltransfer von der Peripherie ins Zentrum zu. Die Kapitalisten haben in der vorangegangenen Periode 1,5 Bio. US-Dollar in Aktien in der Peripherie investiert. Mit der Krise wurde dieses Kapital abgezogen: Seit Mitte 2008 fielen binnen eines Jahres die ausländischen Investitionen auf nur knapp 180 Mrd. USDollar. Ein weiterer Mechanismus der Krisenbearbeitung ist Krieg: Kapital wird zerstört, zeitgleich eröffnen sich Profitquellen. Darin liegt ein Grund für die Ausweitung kriegerischer Auseinandersetzungen und Regionalkonflikte. Der Staat ist ein wesentlicher Faktor zur Stützung und Wiederherstellung der Kapitalakkumulation. Überall wurden staatliche Ressourcen eingesetzt, um in Schieflage geratene Banken und Unternehmen, die Finanzmärkte an sich zu stabilisieren. Etwa 40 Mrd. US-Dollar der in New York hinterlegten brasilianischen Devisenreserven wurden für die Rettung von Unternehmen eingesetzt. Großzügig stellte die Regierung von Lula 10 Mrd. US-Dollar für die Aufstockung der IWF-Reserven zur Verfügung und konnte so seinen Stimmenanteil bei Entscheidungen des IWF von fünf auf sechs Prozent steigern. Eine großartige Veränderung des Kräfteverhältnisses! Wenn diese 10 Mrd. US-Dollar in Brasilien eingesetzt würden, wie viele Häuser ließen sich bauen, wie weit ließe sich die Landreform voranbringen?

Schließlich gehört auch die private Aneignung der natürlichen Ressourcen zu den Methoden der Krisenüberwindung, eine fortwährende ursprüngliche Akkumulation wie sie Rosa Luxemburg bereits analysiert hat. Wenn die natürlichen Ressourcen wie Eisenvorkommen, Erdöl, Wälder, Wasser unangetastet in der Natur vorhanden sind, haben sie keinen Wert. Aber wenn sie angeeignet werden, wenn ein wenig menschliche Arbeit daran verausgabt und es in eine Ware verwandelt wird, erhält es einen Preis. Im Allgemeinen sind diese natürlichen Ressourcen endlich und begrenzt, womit der Preis steigt. Ein Beispiel, das uns die Arbeiter der Aracruz erklärt haben: Die Kosten für die Pflanzung und Umwandlung von Eukalyptus in Zellulosepaste (also noch kein Papier) liegen bei 70 US-Dollar pro Tonne. Vor der Krise wurde die Tonne Zellulosepaste zu 850 US-Dollar verkauft. Das ergibt eine Profitrate von 700 Prozent. Solche Profitraten wurden nicht einmal während der Sklaverei erreicht, so Celso Furtado1 .

Damals lag die mittlere Exportprofitrate in der Land- und Forstwirtschaft bei 400 Prozent. Dann kam die Krise und der Preis für die Tonne Zellulosepaste fiel auf 550 US-Dollar. Während die Produktionskosten weiterhin bei 70 US-Dollar liegen – aufgrund eben jener Aneignung der natürlichen Ressourcen, die allen zur Verfügung stehen sollten. Die Bäume gehören allen, die Eisenvorkommen, die Pré-Sal-Erdölvorkommen2 gehören uns allen. Letztere versuchen sich Unternehmen bereits juristisch anzueignen. Aufgrund der Krise verfügen sie nicht über genügend Kapital für die Exploration und Exploitation der Vorkommen. Aber Eigentumstitel und Konzessionen werden von der Regierung großzügig vergeben.

Diese Aneignungsbewegung des Kapitals ist auch bei transgenem Saatgut gut zu beobachten. Mit juristischen Mitteln wird versucht, das Eigentum an Saatgut, das bislang Kulturerbe der Menschheit war, zu privatisieren. Das Patentgesetz erlaubt, wenn jemand eine Variante des transgenen Mais entwickelt, diese zu registrieren und dann steht da: Dieser Mais gehört Bayer, dieser Mais ist Privateigentum von Monsanto. Von dem Tag an muss jeder, der Mais anbaut, Lizenzgebühren an Monsanto, Bayer, BASF zahlen. Das Patentgesetz von 1995 war übrigens die erste Maßnahme der Regierung von Fernando Henrique3 . Es wurde vor der Abstimmung im Kongress von der US-amerikanischen Botschaft auf Englisch an die Kongressmitglieder verteilt. Der Senator aus Paraíba hat es von der Botschaft erhalten und sich nicht einmal die Arbeit gemacht, den Gesetzesvorschlag der Amerikaner zu übersetzen. Fernando Henrique hat es schließlich mit einem Präsidial erlass durchgesetzt.

Dabei ist die Strategie der Konzentration auf Export von Primärgütern keineswegs sinnvoll: Mit Bezug auf die US-Wirtschaft ist es hier in Brasilien üblich, in der Agrarwirtschaft auf die USA als weltgrößte Exportnation zu verweisen: »Die USA sind die größte Macht der Erde und größter Exporteur von Rohstoffen, das ist unser Weg!« Dabei exportiert die Agrarwirtschaft der USA nur 12 Prozent der eigenen Produktion, 88 Prozent versorgen den Binnenmarkt. Brasilien braucht Ernährungssouveränität und eine Rückbesinnung auf die Bedürfnisse der Menschen – noch immer gibt es Hunger.

Teile der brasilianischen Bourgeoisie, die eine subalterne Rolle als Rohstofflieferant akzep tieren, stützen auch eine subimperialistische Position. Den brasilianischen Unternehmen kommt die Rolle zu, die Märkte und Reichtümer der anderen lateinamerikanischen Länder zu erkunden und auszubeuten. Das ist die Rolle, die Eletrobrás in Bezug auf Itaipu übernimmt, die Petrobrás in Bolivien, in Ecuador einnimmt, die Odebrecht und Andrade Gutiérrez4 in anderen Ländern einnehmen.

n den Medien wird die Krise wie ein Naturphänomen dargestellt. Die Krise hat keinen Schuldigen. Sie hätte auch vom Wetterbericht verkündet werden können: »Im Nordosten wird es Regen geben, Trockenheit im Süden und Krise dringt von Norden her in alle Landesteile vor.« Wenn also niemand etwas für die Krise kann und sie uns alle betrifft, ist die Regierung aufgerufen, etwas zu tun. Damit wird alles gerechtfertigt, z.B. die Rettung der Banken. Aber keine Sorge, vermelden die Medien, die Krise werde schnell vorübergehen. Der Staat kümmert sich – Protest wird bestraft. Jede Woche erleben wir derzeit die Repression. Vor Kurzem wurde ein Gebiet in Minas Gerais mit über hundert Familien, die dort seit zwölf Jahren lebten, geräumt. Die Militärpolizei kam mit Sondereinheiten und Bulldozern und hat alles zerstört. Ein Gericht hat in erster Instanz ein vorläufiges Urteil erlassen, weil der Landbesitzer der Banco do Brasil 70 Mio. schuldet. Kleingeld im Vergleich zur Bankenrettung! Aber für die Rettung der Existenz dieser Familien ist kein Geld vorhanden. Weshalb soviel Repression? Unsere Folgerung ist, wir – die Bewegung der Landlosen (MST) – werden vorbeugend bestraft, damit die anderen ruhig bleiben. Die Medien berichten abwertend über die MST, über Streiks der Erdölarbeiter, über Proteste gegen die Krise. Medien, Kapital und Staat reagieren mit Repression auf die Kämpfe.

PERSPEKTIVEN FÜR DIE BRASILIANISCHE ARBEITERKLASSE

Die Krise kommt in einem schlechten Moment, denn wir erleben einen Niedergang der Massenbewegungen, eine politische und ideologische Niederlage der Arbeiterklasse. Wann hatten wir den letzten Generalstreik? Wann war die letzte große Demonstration? Was hat die Neoliberalisierung der Universitäten in den letzten zehn Jahren hervorgebracht? Einen Haufen leerer Köpfe, die Zerstörung von Wissen. Zu Zeiten der Diktatur waren sie ein Zentrum des Widerstands. Und heute? Die akademische Welt ist ein Spiegelbild der ungünstigen Kräfteverhältnisse. Wer spricht heute noch vom Sozialismus? Man muss schon andere Adjektive bemühen: demokratisch, pluralistisch etc. Aus der ideologischen Niederlage resultiert das niedrige politische und kulturelle Niveau unseres Volkes. Doch sind die popularen Klassen die einzige Kraft, die in der Lage ist, eine Veränderung durchzusetzen. Aber unsere Gesellschaft ist immer noch Erbin von 400 Jahren Sklaverei. Wir sind eine kulturell, politisch verarmte Arbeiterklasse. Und das wirkt sich auf die Reaktionen aus. Die Kräfte, die sich gegen die Krise organisieren, lassen sich um drei Alternativen gruppieren: a) Die erste fordert: »Angesichts der Krise brauchen wir den Sozialismus jetzt! Es gibt innerhalb des Kapitalismus keine Lösung.« Dazu gehören Gruppen, die der PSTU nahestehen, und einige Strömungen der PSOL, die Causa Operária, einige trotzkistische Strömungen. b) Eine zweite Gruppe verteidigt Vorschläge, die wir als neokeynesianisch bezeichnen können: Senkung der Zinsen, höhere Ausgaben für öffentliche Politiken zugunsten der Armen, mehr Ausgabenprogramme für sozialen Ausgleich, eine Art von reduziertem Rooseveltschem New Deal. Gewerkschaftliche Strömungen auch innerhalb der PT, einige soziale Bewegungen und NGOs vertreten solche Programme (die meiner Ansicht nach weniger radikal sind, als Keynes selbst es war). c) Eine dritte Gruppe, zu der wir von Via Campesina zählen, vertritt eine Art populares Projekt. Wir hängen nicht der Illusion an, dass der Sozialismus bevorsteht. Wir haben keine Macht. Wir können die Kräfteverhältnisse nicht soweit beeinflussen, dass sozialistische Veränderungen möglich werden. Doch auch der Neokeynesianismus ist keine Alternative fürs Volk. Er kann das Leiden der Arbeiterklasse etwas verringern, trägt dazu bei, die Binnennachfrage zu steigern und die Profite der nationalen Bourgeoisie zu stabilisieren. Die Kräfteverhältnisse werden damit kaum verschoben. Daher brauchen wir eine Perspektive zur Sammlung stärkerer Kräfte.

ELEMENTE EINES POPULAREN PROJEKTS ZUR ÜBERWINDUNG DER KRISE

Wie müsste ein populares Projekt aussehen, damit sich auch andere Kräfte daran beteiligen – als gemeinsame Strategie? Dafür haben wir einige eher keynesianische Elemente im Programm verankert. Aber im Wesentlichen handelt es sich im einen Widerstandsversuch im Kapitalismus, um Kräfte für eine nächste Etappe zu sammeln. Hier in Kürze unsere Punkte, um der Krise zu begegnen:

1. Beschäftigungsgarantie für Alle. Es geht nicht nur darum, dass der Staat eine Politik des sozialen Ausgleichs betreibt. Der Staat muss auch Arbeitsplätze in für alle sinnvollen Bereichen schaffen.

2. Arbeitszeitverkürzung ohne Lohnkürzung. Damit hängt die Aufstockung des Mindestlohns zusammen, der am stärksten zur Umverteilung des Einkommens in Brasilien beiträgt. Der Mindestlohns betrifft gerade die Ärmsten Brasiliens. 14 Mio. Menschen beziehen Sozialleistungen des INSS, deren Bezugsgröße der Mindestlohn ist. Eine Anhebung des Mindestlohns führt automatisch zur Anhebung der staatlichen Leistungen für diese ärmste Schicht der Arbeiter.

3. Ein Widerstandsbündnis aufbauen: Wir werden es nicht hinnehmen, dass soziale Rechte abgebaut werden.

4. Abschaffung des so genannten Primärüberschusses. Dies ist einer der zentralen wirtschaftlichen Mechanismen, mit dem die brasilianische Gesellschaft ausgebeutet wird. Die Erwirtschaftung von Haushaltsüberschüssen dient allein der Bedienung von Zinsen und Schulden. Jedes Jahr werden 200 Mrd. USDollar von der Zentralbank direkt an private Banken und andere Gläubiger überwiesen. Mit diesen 200 Mrd. könnten wir staatliche Politiken umsetzen, um Beschäftigung für alle zu schaffen und weitere Lohnumverteilungspolitiken durchzusetzen. In Europa und den Vereinigten Staaten wächst das Defizit beständig. Weshalb also verfolgt nur Brasilien diese Politik des Primärüberschusses?

5. Unser Interesse besteht darin, diese Ressourcen auch für eine umfassende Landreform einzusetzen, um Arbeit und Lebensbedingungen für die Landbevölkerung zu sichern, damit sie nicht in die Städte wandern muss.

6. Verstaatlichung des Finanzsystems. Letzteres ist der zentrale Ort der Enteignung unseres Wohlstandes. Wenn der im Namen der Gesellschaft handelnde Staat dieses nicht kontrolliert, gibt es keinen sozialen Ausweg aus der Krise. Selbst innerhalb der kapitalistischen Logik ist es offensichtlich, dass es ohne eine staatliche Intervention oder eine stärkere Kontrolle des Finanzsystems nicht zu einer Veränderung und mehr produktiven Investitionen kommen wird.

7. Ein umfassendes Programm zur Verteidigung der Umwelt und des Lebens der Menschen. Wir müssen etwa die Veränderung des brasilianischen Forstgesetzes verhindern, das sonst dazu führen wird, dass die Landbesitzer5 die noch verbliebenen natürlichen Ressourcen vernichten. Der Umfang der gesetzlich ausgewiesenen Naturschutzgebiete soll um 80 Prozent verringert werden. Die Privatisierung aller Gebiete im Amazonasgebiet von bis zu 1500 Hektar pro Person ohne die Notwendigkeit eines Besitznachweises soll ermöglicht werden. Diese Veränderung der Regulierung der Grundbesitzverhältnisse im Amazonasgebiet muss verhindert werden. Wir müssen auch die Qualität der Nahrungsmittel kontrollieren. Das Agrobusiness stellt Gift und kein Essen her. Wissenschaftler warnen uns, dass der Krebs auf dem Vormarsch ist, 80 Prozent der Erkrankungen haben ihren Ursprung in den Giften, die die Bevölkerung mit dem Essen zu sich nimmt. Es sind chemische Gifte, die im Agrobusiness überall verwendeten werden. Sie zerstören die Bakterien des Bodens, sickern ins Wasser und landen schließlich in unseren Mägen. Die Behörde für Gesundheitskontrolle Anvisa hat bei einer Stichprobe in einem Lager festgestellt: »Es gibt 20 Produkte, die nicht für den menschlichen Verzehr geeignet sind.« Doch die Produkte werden weiter verkauft. Wäre die Schlussfolgerung gewesen, dass diese 20 Produkte nicht für die Ernährung von Tieren geeignet sind, wäre es gesetzlich möglich, sie vom Markt zu nehmen. Für ein populares Programm gegen die Krise ist es nötig, diesen Irrsinn zu stoppen und entsprechende Veränderungen durchzusetzen, um das Leben der Menschen und die Natur zu schützen.

8. Wiederaneignung der Souveränität über die strategischen Betriebe in den Bereichen Energie und Bergbau. Eletrobrás, das sich als staatliches Unternehmen gibt, lässt seine Aktien bereits an der New Yorker Börse handeln. Dies ist auch beim brasilianischen ›Staatskonzern‹ Vale, einem der drei größten Bergbauunternehmen der Welt der Fall. Diese vermeintlichen Staatsunternehmen handeln wie Privatunternehmen. Der wichtigste Kampf um unsere natürlichen Ressourcen wird um die riesigen Pré-Sal-Erdölvorkommen vor der Küste Brasiliens ausgetragen. Die internationalen Kapitalisten und ihre Verbündeten hier in Brasilien werden alles daransetzen, um das Recht zu erhalten, sich diese größte Erdölreserve des Planeten anzueignen.

9. Wir versuchen mit unserem Programm, hier in Brasilien eine Bewegung anzustoßen, um Druck auf unsere Regierung auszuüben, damit sie eine andere Position gegenüber den internationalen Regierungen einnimmt. Die Wertschätzung des IWF, der Weltbank, der G20 muss ein Ende finden. Es ist offensichtlich, dass wir einen anderen internationalen Rahmen brauchen, eine andere internationale Regierungsführung. Mit Begeisterung sehen wir die Initiative der ALBA-Länder, sie haben bereits eine alternative Währung, den Sucre, geschaffen. General Sucre war ein antikolonialistischer Kämpfer. Aber in Wirklichkeit ist SUCRE ein Akronym und steht für Sistema Unitario de Compensación Regional (einheitliches System des regionalen Ausgleichs). Die sozialen Bewegungen müssen Druck auf die Regierungen ausüben, um solche Schritte zu gehen.

Dieses populare Projekt ist kein Vorschlag des MST. Es ist ein Vorschlag, den wir in Plenarversammlungen entwickeln; auf der letzten im März waren 88 Bewegungen vertreten. Natürlich würde man gerne dem einen oder anderen Punkt Nachdruck verleihen, aber diese zehn Punkte machen eine gemeinsame Initiative aus, in der sich alle vertreten fühlen. Dies ist kein Vorschlag für den Sozialismus des 21. Jahrhunderts. Der Sinn besteht darin, eine gesellschaftliche Debatte zu beginnen, Bewusstsein zu schaffen und Kräfte zu sammeln. Es geht darum, bei Menschen und Organisationen eine wirkliche Gemeinschaftsanstrengung hervorzurufen. Auswege aus der Krise sind nur umsetzbar, wenn wir gemeinsam einen politischen Kampf führen können. Ohne die Macht organisierter Menschen hinter sich zu haben, ist es keine Politik, dann handelt es sich nur um Ideen oder eine Doktrin. Nicht die einzelnen Punkte des Programms sind zuvörderst von Bedeutung, sondern der Prozess der Mobilisierung und Organisierung. Es ist möglich, dass kurzfristig eine Situation entsteht, in der es zu einer Wiederbelebung der Massenbewegung kommen kann, wenn die Folgen der Krise für jeden spürbar auf uns abgewälzt werden – die Massen lernen in bestimmten geschichtlichen Situationen schnell. Und die brasilianische Bourgeoisie hat kein Projekt für das Land. Dies öffnet den Raum, den die Arbeiterklasse benötigt, um eine Plattform für ein populares Projekt aufzubauen.

Aus dem Brasilianischen von Lars Stubbe und Mario Candeias

 

Anmerkungen

1 Brasilianischer Soziologe und Entwicklungstheoretiker, der federführend an der Entwicklung der Dependenz theorie beteiligt war (1920–2004).
2 Es handelt sich um riesige neue Erdölfunde vor der brasilianischen Küste, die unter einer mehrere Kilometer tiefen Salzschicht in über 7 000 Meter Meerestiefe liegen und um die heftige Verteilungskämpfe aufgeflammt sind.
3 Fernando Henrique Cardoso, ehemals linker Soziologe und Vertreter der Dependenztheorie, war von 1995 bis 2002 brasilianischer Präsident. 4 Große brasilianische Ingeneurs-/Industriekonglomerate 5 Stédile benutzt den umfassenderen Begriff der ruralistas, der die großen Agroproduzenten bezeichnet, d. Üb