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Bosnien-Herzegowina: eine Rebellion an der Peripherie Europas

von Mate Kapović

Mit ihren radikalen Forderungen und Volksversammlungen zeigt die Rebellion in Bosnien und Herzegowina, dass der weltweite Kampfzyklus noch lange nicht vorbei ist.

Am Freitag, dem 7. Februar 2014, standen Regierungsgebäude in ganz Bosnien-Herzegowina in Flammen. Dessen Einwohner, die lange still gewesen waren, entschlossen sich schließlich, ihre Meinung zu äußern. Und als sie das taten, erklangen nicht nur Worte – es war ein Aufschrei: Feuer, Steine und schwere Auseinandersetzungen mit der Polizei. Das eindrucksvollste und symbolischste Bild dieser ersten Tage der Rebellion zeigte ein brennendes Regierungsgebäude in Tuzla, in der Stadt, in der alles begann. Dort stand ein Graffiti zu lesen: „Tod dem Nationalismus“. Da der Nationalismus lange Zeit die bevorzugte Zuflucht der politischen Eliten des Landes gewesen war, die ihn benutzten, um ihre politische und ökonomische Unterdrückung zu rechtfertigen, war dies in der Tat eine kraftvolle Botschaft.

Die Premierminister mehrerer Kantone in Bosnien und Herzegowina begannen, einer nach dem anderen, ihren Rücktritt zu erklären. Am Sonntag, dem 9. Februar, begab sich der kroatische Premierminister Zoran Milanović nach Mostar, einer Stadt in Bosnien-Herzegowina mit großer kroatischer Bevölkerung, um sich mit den kroatischen Spitzenpolitikern dort zu treffen. Währenddessen wurde der Präsident der Republika Srpska (der serbische Teil von Bosnien und Herzegowina), Milorad Dodik, nach Serbien einbestellt, um den ersten Vize-Präsidenten Aleksandar Vučić, den inoffiziellen Präsidenten Serbiens zu treffen. Die Gründe dafür sind klar. Die politischen Eliten sowohl in Kroatien als auch in Serbien fürchten, unter anderem, dass das, was einige bereits als „Bosnische Revolution“ bezeichnen, über die Grenzen hinweg auf ihre Länder übergreifen könnte.

Explosive Wut

Die wirtschaftliche Situation in Bosnien-Herzegowina ist ohne Zweifel furchtbar. Einst war das Land bekannt für seine vielen Fabriken und eine starke Arbeiterklasse – selbst das Wappen der früheren Sozialistischen Republik Bosnien und Herzegowina (eine Teilrepublik Jugoslawiens) führte Fabrikschornsteine. Nun sind viele dieser Fabriken geschlossen, die übrigen sind privatisiert und im Besitz ausländischer Firmen oder einer neu entstandenen kapitalistischen Klasse; und in einigen davon arbeiten die Arbeiterinnen und Arbeiter, aber sie erhalten ihre Löhne nicht (was in der postjugoslawischen Ökonomie recht geläufig ist). Das Land hat eine Arbeitslosenrate von rund 45%. Die benachbarten Länder Kroatien und Serbien sind nicht in einer derart schlechten Verfassung, deren Eliten haben aber dennoch Grund zur Sorge, da die allgemeine Situation doch sehr weit davon entfernt ist, auch nur halbwegs befriedigend zu sein. Die Jugendarbeitslosigkeit in Kroatien zum Beispiel liegt bei fast 53%, was in der Europäischen Union (EU) nur von Griechenland und Spanien übertroffen wird.

Sicherlich hatte die explosive und in einigen Fällen ziemlich gewaltsame Rebellion in Bosnien und Herzegowina ihre eigenen, lokalen Gründe – grassierende Armut, ungeheure Ungleichheiten, ein riesiger bürokratischer Apparat und der politische und kapitalistische Alb an der Spitze. Aber dieser Aufstand ist auch ein integraler Teil der weltweiten Aufstände, die wir in den letzten Jahren erlebten. Nach dem Ausbruch der Wirtschaftskrise 2008 und einigen Jahren einer anfänglichen Schockstarre, begann im Jahr 2011 mit dem Arabischen Frühling, mit den indignados in Spanien und mit Occupy Wall Street (OWS) in den USA eine Welle großer Proteste und Aufstände. Im vergangenen Jahr wurden wir Zeuge enormer Aufstände in der Türkei und in Brasilien. Das frühere Jugoslawien blieb von dieser Welle nicht verschont.

Schon 2011 gab es in Kroatien große „Facebook-Proteste“, die im März vier Wochen lang andauerten. Es war auch das erste Mal, dass in einem der postjugoslawischen Länder offen antikapitalistische, wenn auch ziemlich heterogene Äußerungen wahrzunehmen waren. In vielerlei Hinsicht nahmen die Proteste die indignados und OWS vorweg, teilten sie mit ihnen doch einen klaren gemeinsamen Zeitgeist. In den Jahren 2012/13 wurde Slowenien von einem „slowenischen Aufstand“ der Bevölkerung erschüttert, der die öffentliche Meinung in dem Land enorm beeinflusste und neuen politischen Kräften Auftrieb verlieh (so etwa der potenziell vielversprechenden Initiative für Demokratischen Sozialismus, Iniciativa za demokratični socializem). 2014 nun war es Zeit für Bosnien und Herzegowina. Sie reagierten als letzte, aber ihre Reaktion war die bei weitem kraftvollste.

Eine soziale Rebellion

Seit die Rebellion begann, haben fast alle Beobachter darauf insistiert, dass sie unvermeidlich gewesen ist und dass sie sich die ganze Zeit sicher waren, dass so etwas früher oder später hatte passieren müssen. Natürlich ist das nicht wahr. Obwohl die Situation in Bosnien und Herzegowina tatsächlich katastrophal war, hätten wohl alle dieser Mehrzahl der Beobachter behauptet, dass diese Art von Aufstand unmöglich sei, weil die Menschen passiv, kraftlos und vom Nationalismus gespalten sind. Aber es gab, wie das so oft der Fall ist, einen unvorhersehbaren Funken und von da an ging alles sehr schnell.

Der Aufstand begann im nordöstlich gelegenen Tuzla, einer Stadt mit einer langen linken und Arbeitertradition. „Diese Stadt ist anders“, wie oft gesagt wird, weil sich dort der Nationalismus, anders als im übrigen Land, nie fest verankern konnte. So nimmt es nicht Wunder, dass es diese Stadt war, die sich im Auge des Orkans wiederfand. Dort hatten die ArbeiterInnen einer Reihe privatisierter Fabriken (wie Dita[1] [1], Polihem und Konjuh) aus verschiedenen Gründen schon eine geraume Zeit lang friedlich protestiert. Aber am Mittwoch, dem 5. Februar, schlossen sich ihnen die Jugendlichen der Stadt, die Erwerbslosen und andere Leute an – und der Protest begann schnell, zu eskalieren, und breitete sich in den folgenden Tagen fast im ganzen Land aus. Die wichtigsten Aktionen gab es in Tuzla, Sarajevo, Zenica, Mostar und Bihać, die zu den größten Städten des Landes zählen, wo es am Freitag, dem 7. Februar, zur Mehrzahl der gewaltsamen Zusammenstöße und Brandlegungen kam.

Die Proteste waren eindeutig spontan und hatten soziale Forderungen zum Ausgangspunkt. Viele der Protestierenden erklärten, dass sie einfach nichts zu essen haben, dass sie seit Jahren arbeitslos sind, und formulierten eine tiefe Verachtung für die kriminelle politische und ökonomische Elite. Obwohl die Rebellion zumeist in den Teilen Bosniens stattgefunden hat, die von muslimischen Bosniaken bewohnt werden (worüber kroatische und serbische Nationalisten froh waren und worauf sie bald hinwiesen), war die Rebellion – von einigen Provokationen, Sabotageakten und verwirrten Einzelpersonen abgesehen – eindeutig eine soziale und keine nationalistische Rebellion. Natürlich sind die Proteste, wie das oft der Fall ist, sehr heterogen; auch eine große Zahl von Fußballfans schloss sich dem militanten Flügel der Mobilisierung an. Heute gehen die Proteste zumeist in den Teilen des Landes weiter, in denen die Bosniaken die Mehrheit stellen, aber es gibt auch eine Reihe von Ausnahmen. Im südwestlich gelegenen Mostar beteiligten sich sowohl Kroaten als auch Bosniaken an der Inbrandsetzung der Hauptquartiere der wichtigsten sowohl kroatischen als auch bosniakischen nationalistischen Parteien (HDZ und SDA). Ethnische Kroaten haben auch in Livno und Orašje protestiert, während ethnische Serben ein paar kleinere Proteste und Versammlungen in Prijedor, Banja Luka, Bijeljina und Zvornik organisierten.

Obwohl die Proteste eindeutig sozial sind, ist die nationale Frage, die von den politischen Eliten zu ihrem Vorteil instrumentalisiert wird (obwohl, im Fall der Kroaten in Bosnien-Herzegowina, nicht völlig unbegründet), immer noch ein großes Problem. Viele Kroaten und Serben in Bosnien und Herzegowina sind immer noch argwöhnisch und fürchten, die Proteste könnten eine andere politische Wendung nehmen, wobei zum Beispiel auf die islamistische Wende der Ägyptischen Revolution verwiesen wird (obwohl ein solches Szenario für Bosnien und Herzegowina höchst unwahrscheinlich ist). Diese Furcht wird von den politischen Eliten und den Medien aktiv genährt, die versuchen, Proteste in den kroatischen und serbischen Teilen Bosnien-Herzegowinas zu verhindern. Im Zuge dessen hat eine große Bandbreite von Verschwörungstheorien einige Popularität erlangt. So behaupten bosniakische Nationalisten und Politiker, dass das Ganze eine Verschwörung gegen die Bosniaken ist; kroatische Nationalisten und Politiker behaupten, dass das Ganze eine Verschwörung gegen die Kroaten ist; und serbische Nationalisten und Politiker behaupten, dass das Ganze eine Verschwörung gegen die Serben ist. Sehr beachtlich ist auch, dass kroatische und serbische nationalistische Intellektuelle und Medien stillschweigend bei dem verzweifelten Versuch zusammenarbeiten, den Nachweis zu erbringen, dass wir es hier nur mit einem „bosniakischen Frühling“ zu tun haben.

Über nationalistische Positionen hinaus

Doch nicht alle neigen zu solch nationalistischer Propaganda. Unlängst zeigte eine Umfrage, dass 88% der Menschen in ganz Bosnien-Herzegowina die Proteste unterstützen. Zum Beispiel unterstützte eine Gewerkschaft aus Drvar (deren Mitglieder zumeist serbischer Nationalität sind) die mehrheitlich kroatischen Protestierenden in Livno. Und die Veteranenorganisation des serbischen Landesteils hat dessen Präsidenten Milorad Dodik offen unter Druck gesetzt, sich mit sozialen Problemen, Ungerechtigkeit und Privatisierungsverbrechen zu befassen. Dennoch, in Bijeljina (im serbischen Teil Bosnien-Herzegowinas) waren die Protestierenden, die die Rebellion unterstützen, mit einem Gegenprotest seitens serbischer Nationalisten konfrontiert. Dasselbe passierte während eines Solidaritätsprotestes in Belgrad (Serbien) – dort erklärte die Polizeigewerkschaft aber gleichzeitig, dass sie im Falle eines Übergreifens der Proteste auf Serbien nicht (!) gegen die Protestierenden vorgehen würden. In Kroatien wiederum organisieren sowohl die Linke als auch die Rechte in den kommenden Tagen Proteste, die von dem inspiriert sind, was direkt hinter der Grenze passiert.

Die Situation in Bosnien und Herzegowina bleibt sehr angespannt. Einige eher linke Intellektuelle und Personen des öffentlichen Lebens unterstützen die Proteste, aber die meisten Medien und die gesamte politische Klasse stehen vereint gegen sie. Es gibt viele nationalistische Behauptungen, Verschwörungstheorien, gefälschte Manifeste, falsche Stellungnahmen, erfundene Berichte und Erzählungen. Die Eliten und Regime-Intellektuellen versuchen nach Kräften, den Status quo aufrechtzuerhalten. Immer noch gibt es in liberalen, konservativen und nationalistischen Kreisen eine Menge Verwirrung. Der Analyse-Apparat des Establishments ist nicht wirklich gerüstet, um mit dieser Art von Entwicklungen umzugehen, da er die Arbeiterklasse, die Arbeitslosen und die Armen nicht als aktives politisches Subjekt wahrnehmen kann. Hinzu kommt (das sollte nicht unerwähnt bleiben) das übliche kleinbürgerliche Moralisieren über abgebrannte Gebäude, „Hooligans“, unnötige Gewalt, usw. Die Liberalen und Konservativen rufen nach „friedlichen und würdevollen“ Protesten, ungeachtet des offensichtlichen Faktes, dass ohne Gewalt nichts von alledem passiert wäre, und ungeachtet des Faktes, dass die sorgsame Koordination zwischen Politikern und Medien klar gezeigt hat, wofür bürgerliche Demokratie und die „Pressefreiheit“ wirklich stehen: für den Schutz von Klassenprivilegien.

Wie immer haben die Medien ein großes Aufheben davon gemacht, dass die Protestierenden nicht wüssten, was sie tun, dass sie keine klaren Ziele und kein politisches Programm hätten. Das ist nicht wahr. Die Forderungen der Protestierenden werden mit jedem Tag klarer. Die ArbeiterInnen und Protestierenden von Tuzla zum Beispiel, die die fortschrittlichsten, politisch schlüssigsten und artikuliertesten sind, haben folgendes gefordert: gleichere Löhne und Gesundheitsversorgung für ArbeiterInnen; juristisches Vorgehen gegen Wirtschaftskriminalität; Beschlagnahmung illegal erworbenen Reichtums; Überprüfung des Privatisierungsprozesses der Fabriken Dita, Polihem, Poliolhem, Gumara und Konjuh; Verstaatlichung der Fabriken und Wiederaufnahme der Produktion unter Arbeiterkontrolle; Beschneidung der Privilegien der politischen Elite; und so weiter. Natürlich ist es immer noch schwierig zu sagen, wie sich dieses entstehende politische Programm entwickeln wird und was davon nur Rhetorik ist.

Beginn eines demokratischen Prozesses von unten: die Plena

Einer der interessantesten und aufregendsten Aspekte der Mobilisierung war, in Tuzla – mitten im Zentrum der Rebellion, als die frühere Regierung kurz nach Beginn der Proteste ihren Rücktritt einreichte –, das Auftauchen einer revolutionären Organisationsstruktur, „Plenum“ genannt. Dieses Plenum (oder: Vollversammlung) ähnelt den ursprünglichen russischen Sowjets sehr stark. Die Protestierenden nutzen es, um auf direktdemokratische Weise zu kollektiven Entscheidungen und Forderungen zu gelangen. Danach tauchten Plena auch in anderen Städten auf und nahmen sich Tuzla zum Vorbild.

Die folgenden Städte haben jetzt ihr eigenes Plenum: Sarajevo (die Hauptstadt), Tuzla, Zenica, Mostar, Travnik, Brčko, Goražde, Konjic, Cazin, Donji Vakuf, Fojnica, Orašje und Bugojno. Gerade jetzt finden regelmäßige Sitzungen statt, in denen die Leute politische Probleme diskutieren und Forderungen an die Regierung aufstellen (die geläufigste ist die Revision von Privatisierungsfragen, verschiedene soziale Forderungen, Abschaffung der Privilegien der politischen Klasse, usw.). Es gibt weiter auch Anstrengungen, alle bereits bestehenden Plena auf landesweiter Ebene zu koordinieren, um allgemeine und nicht nur lokale Forderungen zu entwickeln.

Es ist nicht das erste Mal, dass das Wort Plenum in der Region in dieser konkreten Bedeutung, mit Bezug auf eine direktdemokratische „Vollversammlung“, gebraucht wird. Zum ersten Mal wurde das Wort mit Bezug auf Vollversammlungen 2009 während der großen Welle von Universitätsbesetzungen in Kroatien verwendet. Derselbe Begriff taucht später bei den Universitätsbesetzungen in Österreich und Deutschland 2010 auf (obwohl nicht klar ist, ob dies irgendeinen direkten Bezug zur kroatischen Studierendenbewegung hat oder ob es sich nur um einen sehr seltsamen Zufall handelt) sowie bei den Universitätsbesetzungen in Slowenien und Serbien 2011 (wo es einen direkten Einfluss der kroatischen Studierendenbewegung gegeben hat).

Die Protestierenden, die die Plena in Bosnien und Herzegowina organisieren, räumen offen ein: Sie nutzen die Erfahrungen der kroatischen Studierendenbewegung (vgl. Milat in LuXemburg 1/2013 [2])und deren Wie-organisiere-ich-eine-Vollversammlung-Handbuch namens „Das Besetzungskochbuch“ [3]. Natürlich sind diese Plena den Vollversammlungen sehr ähnlich, die die Welt 2011 während OWS in New York und anderswo beobachten konnte, so dass man eine indirekte Verbindung ziehen kann zur „Occupy-Tradition“ der letzten paar Jahre. Jedenfalls ist ziemlich klar, dass man rund um die Globus gemeinsame Muster horizontaler Organisierung finden kann, die sehr alte Wurzeln haben, aber in jüngerer Zeit auch wiederbelebt wurden.

Interessant ist, dass die Idee des Plenums als politischer Struktur für demokratische Entscheidungsfindung von der Besetzungswelle der Studierenden in Kroatien 2009 stammt, während die kroatische Studierendenbewegung selbst diese Idee von der Belgrader Studierendenbewegung von 2006 hatte. Dies ist, anders gesagt, ein schönes Beispiel für die postjugoslawische Kooperation linker AktivistInnen und deren gegenseitige Inspiration.

Das Plenum ist offen, alle können teilnehmen, diskutieren und abstimmen, außer die Mitglieder der alten Parteien und der Regierung (was es im Grunde in „die Diktatur des Proletariats“ verwandelt, um es in klassischen Begriffen zu fassen). Während diese Art demokratischer Entscheidungsfindung sehr löblich ist, erscheint sie derzeit natürlich zumeist als vorübergehendes Phänomen, das hochproblematisch sein könnte, wenn es auf eine ganze Stadt (oder gar ein ganzes Kanton) übertragen wird. (Die Sitzungen des Plenums in Tuzla waren, TeilnehmerInnen zufolge, von annähernd 200 Menschen besucht, wobei die Bevölkerung von Tuzla rund 130.000 umfasst.)

Jedenfalls können wir nur hoffen, dass irgendeine Art von Forderung nach der Institutionalisierung der Plena (oder direkter Demokratie im Allgemeinen) in die zukünftigen Forderungen der Bewegung aufgenommen wird. Natürlich sollte man sich davor hüten, zu naiv oder optimistisch zu sein, aber dies gilt ebenso für unnötigen Pessimismus.

Ja, es ist wahr: Die Rebellion in Bosnien und Herzegowina ist kaum eine offen antikapitalistische. Es gibt dort zwar tatsächlich eine Menge unbewusster und „organischer“ antikapitalistischer Gefühle (wenn beispielsweise das Problem der Privatisierungen diskutiert wird), aber man ist immer noch weit davon entfernt, eine offen und bewusst antikapitalistische Bewegung zu sein. Das heißt jedoch nicht, dass der Kampf für direkte Demokratie in Bosnien und Herzegowina Zeitverschwendung ist, da Praktiken direkter Demokratie ganz wesentlich auch Teil eines umfassenderen antikapitalistischen Kampfes sind.

Eine Vertiefung des demokratischen Prozesses kann sich inmitten des Kampfes für soziale und ökonomische Gerechtigkeit ebenso entwickeln, wie auch das Beharren auf die Entwicklung der Plena nicht bedeutet, dass andere Organisationsformen (wie kämpferische Gewerkschaften, verschiedene formelle oder informelle systemfeindliche Initiativen, oder sogar antikapitalistische politische Parteien) ignoriert werden müssen.

Über „genuine Engstirnigkeit“ hinaus

Es ist unmöglich zu sagen, wie sich diese Ereignisse in der Zukunft entwickeln werden. Eines aber ist sicher: Bosnien-Herzegowina (und die Region als Ganzes) wird danach nicht dasselbe sein. Man könnte sagen, dass schon viel erreicht wurde (zumindest symbolisch), vor allem wenn man sich die Tatsache vor Augen führt, dass es in Bosnien und Herzegowina – und allgemein im früheren Jugoslawien – keine echten linken Massenorganisationen gibt. Schon jetzt beginnen die Vorstellungen in der Bevölkerung und die öffentliche Meinung, sich zu ändern. Die Elite wird in der Zukunft definitiv mehr Angst vor den Menschen haben, nicht nur in Bosnien und Herzegowina. Man kann nur hoffen, dass all das in der Bildung und im Wachstum fortschrittlicher Kräfte und Organisationen im Land münden wird.

Die dramatischen Entwicklungen der letzten Woche haben im Land und bei seinen Nachbarn ziemlich für Wirbel gesorgt. Im Westen aber sind die Ereignisse bisher weitgehend ignoriert worden. Während die internationalen Medien der Ukraine jede Menge Aufmerksamkeit schenken, wo die EU und die USA konkrete Eigeninteressen verfolgen, wird der soziale Aufruhr in Bosnien und Herzegowina (das zugegebenermaßen ein sehr viel kleineres Land ist) weitgehend ignoriert. Klar, eine Rebellion von ArbeiterInnen und Arbeitslosen ist aus der Perspektive des neoliberalen Status quo Europas keine sehr positive Entwicklung, zumal das benachbarte Kroatien das jüngste EU-Mitglied ist. Seltsam ist aber, dass auch die europäische Linke weitgehend schweigsam bleibt. Das ist nicht sehr rühmlich für eine politische Kraft, die viel auf ihren eigenen Internationalismus hält.

Die Linke in den entwickelten Ländern des Westens sollte sehr viel stärker daran arbeiten, ihre eigene „genuine Engstirnigkeit“ zu überwinden. Linker Internationalismus und globale Solidarität können nicht nur eine theoretische Übung bleiben; beide müssen auch praktiziert werden. Radikale und fortschrittliche gesellschaftliche Kräfte in Europa und Nordamerika sollten sich nicht damit begnügen, „ausgewählte Themen“ in ihrer unmittelbaren Umgebung Beachtung zu schenken. Es ist nicht nur so, dass die Menschen in Bosnien und Herzegowina internationale Unterstützung brauchen; es ist auch so, dass ihre Rebellion eine sehr interessante und wichtige Entwicklung für die internationale Linke darstellt. Sie zeigt, dass der weltweite Kampfzyklus, der 2011 begann, noch sehr lebendig ist.

Dieser Artikel ist eine bearbeitete und aktualisierte Version eines Artikels, der ursprünglich am 12. Februar im ROAR Magazine veröffentlicht wurde. Übersetzung von Andreas Förster.


[1] [4] Anm. d. Übers.: Siehe auch das Video-Interview mit Dita-ArbeiterInnen auf labournet.tv [5]