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Was dürfen wir hoffen? Ernst Bloch mit Gramsci lesen

Von Jan Rehmann

Ernst Bloch ist bekanntlich nach dem Ungarn-Aufstand 1956 vonseiten der Partei- und Staatsführung der DDR zum Dissidenten gestempelt worden, seine Philosophie wurde für utopisch und daher unmarxistisch erklärt. Im Dezember 1956 wandte sich Walter Ulbricht im Neuen Deutschland gegen Bloch (ohne Namensnennung), der die These vertrete, »man könne das Morgen nur vom Übermorgen aus verstehen«. Dies zeige, wie weit sich manche Philosophen vom Volk und vom Kampf um die sozialistische Gesellschaftsordnung entfremdet hätten. Bloch wurde 1957 zwangsemeritiert, was ihn dann bewogen hat, 1961 nicht mehr von einer Reise nach Westdeutschland zurückzukehren.

Vor dem Hintergrund dieser repressiven Ausgrenzung ist es erstaunlich, dass viele der damals von den Parteiideologen vorgebrachten Gründe für das Berufsverbot unbesehen in die aktuelle Literatur übernommen wurden. Bloch sei im Grunde idealistisch, spekulativ, metaphysisch im Sinne der traditionellen Systemphilosophie. Terry Eagleton (2016, 169, 171) spricht von einem »mystischen Materialismus«, der der Materie »quasi-göttliche Eigenschaften« unterschiebt. Hans-Ernst Schiller (2017, 35) zufolge handelt es sich um eine »utopische, metaphysisch-religiöse Philosophie« mit eschatologischen Zügen. Nach Ulrich Müller-Schöll und Francesca Vidal (2017, 22f, 31ff, 381f) ist es Bloch nur um eine »neue Philosophie des Neuen« gegangen, die mit dem Marxismus eigentlich nichts zu tun habe. Dem liegt allerdings zugrunde, dass der Marxismus immer noch stillschweigend mit der Offizialversion des »Marxismus-Leninismus« identifiziert wird. Das macht es leichter, ihn immer wieder neu als veraltet zu verabschieden.

Ich möchte dagegen vorschlagen, Blochs Ansatz als originellen Beitrag einer »Philosophie der Praxis« zu interpretieren. Damit ist eine von den Marx’schen Feuerbachthesen ausgehende Richtung gekennzeichnet, die von Antonio Labriola erstmals so genannt und im Anschluss daran vor allem von Gramsci weiterentwickelt wurde. Obwohl der »Marxismus-Leninismus« solche Ansätze zur Häresie erklärt und verfolgt hat, handelt es sich um eine Strömung im Marxismus, die im Gegensatz zur untergangenen Staatsphilosophie seine lebendige Seele verkörpert. Im »neuen Materialismus« der Feuerbachthesen wird nicht von einer »Materie« ausgegangen, die unabhängig von menschlichem Handeln und Denken existiert, sondern die Wirklichkeit wird als »sinnlich-menschliche Tätigkeit, Praxis« aufgefasst (MEW 3, 5). Wie vor ihm Labriola hat auch Bloch sein Materialismusverständnis gegen eine objektivistische »Klotzmaterie« (MP 17) aus den Feuerbachthesen entwickelt. Zum archimedischen Punkt seines Materialismus wird der »arbeitende Mensch« in seinen praktischen Beziehungen zu anderen Menschen und zur Natur (PH 333). Auch »Bewusstsein« und »Geist«, die die traditionelle Philosophie (und mit ihr der »Marxismus-Leninismus«) als ideelle Gegenpole zur »Materie« festschreibt, kann Bloch in seinen integralen Materiebegriff integrieren (TE 234). Sobald man sich auf Blochs Praxisphilosophie konzentriert, stößt man auf Schritt und Tritt auf überraschende Übereinstimungen mit dem ihm unvertrauten Gramsci, der ebenfalls ausgehend von den Feuerbachthesen den historischen Materialismus von der »elementaren geschichtlichen Zelle« der »praktischen Tätigkeit« als der dialektischen Vermittlung zwischen Menschen und Natur her bestimmt (Gramsci, Gef 3, 512).

Ich möchte zunächst an vier zentralen Themen der Bloch’schen Philosophie zeigen, warum eine praxisphilosophische Re-Lektüre sachgerecht und fruchtbar ist. Im zweiten Teil soll thesenhaft umrissen werden, wo Blochs Ansatz korrektur- und erneuerungsbedürftig ist.

Antizipation und Hoffnung

Blochs Anthropologie ist zentriert um die menschliche Fähigkeit, Zukünftiges vorwegzunehmen. Er knüpft dabei an Marx’ berühmtes Argument an, wonach sich der schlechteste Baumeister von der besten Biene dadurch unterscheide, »dass er die Zelle in seinem Kopf gebaut hat, bevor er sie in Wachs baut« (MEW 23, 193). Obwohl auch manche Tiere darüber verfügen, ist unbestritten, dass diese Fähigkeit im Verlauf der Menschwerdung im Zusammenhang mit Werkzeugherstellung, kooperativer Arbeit und Sprachentstehung eine neue Reichweite und Qualität erhalten hat (vgl. Holzkamp 1985, 260ff). Bloch zufolge bilden sich »genau an dieser Stelle« menschlich Wunschhaftes und Tagträume aus (PH 85). Von dieser spezifisch menschlichen Antizipationsfähigkeit aus entwirft Bloch nun seine Stufenfolge der Bedürfnisse – vom noch unspezifischen Drängen zum ausmalenden Wünschen und dann zum Wollen (als Tun-Wollen), bei dem schon konkret berücksichtigt ist, was man kann und was nicht, bis hin zur Unterscheidung von gefüllten Affekten und längerfristig antizipierenden Erwartungsaffekten. Diese Stufenfolge läuft schließlich auf die Hoffnung zu, die den passiven Charakter der negativen Erwartungsaffekte (v. a. der Angst) überwinden könne, weshalb sie »die menschlichste aller Gemütsbewegungen« sei (PH 83).

Diese anthropologische Bestimmung ist häufig als willkürliche, politisch motivierte oder zumindest einseitige Setzung kritisiert worden. Dabei wird übersehen, dass Bloch die Vorrangstellung der Hoffnung auf einen aktiv weltzugewandten Handlungsbegriff gründet. Hierzu rekurriert er implizit auf die Affekt-Ethik von Spinoza, nämlich auf dessen Unterscheidung zwischen erlittenen Gefühlen (passionibus), denen wir ausgeliefert sind, und selbstbestimmt-ausgreifender Handlungsmacht (potentia agendi). Im Gegensatz zur Furcht sei die Hoffnung aktiv, gehe aus sich heraus, mache die Menschen weit und verlange »Menschen, die sich ins Werdende tätig hineinwerfen, zu dem sie selber gehören. Sie erträgt kein Hundeleben, das sich ins Seiende nur passiv geworfen fühlt« (PH 1). Polemisch gegen Heideggers »Geworfenheit« entwickelt Bloch den Begriff der Hoffnung als docta spes, das heißt als einer informiert begründeten und von allen lernbaren Haltung (PH 5). Sein Vorschlag, »das Hoffen zu lernen«, um Verwirrung und Angst zu überwinden (PH 1), kann in Anlehnung an Gramsci als Projekt einer Kohärenzgewinnung gelesen werden, und dies sowohl emotional als auch intellektuell. Denn Hoffnung ist nicht nur ein hochentwickelter »Erwartungsaffekt«, sondern auch ein »Richtungsakt kognitiver Art« (PH 10f), »fähig zu logisch-konkreter Berichtigung und Schärfung« (PH 126). Die Stärke von Blochs Hoffnungsbegriff liegt darin, dass er organisch mit der Entwicklung gesellschaftlicher Handlungs- und Denkfähigkeiten verbunden ist.

An den Tagträumen ansetzen

Gegen die vorschnelle Festlegung Blochs auf eine »Eschatologie« der Fernziele gilt es, zunächst seinen eigenen methodischen Anspruch ernst zu nehmen, die utopischen Elemente aus der Nähe selbst zu gewinnen: Das »Jetzt und Hier, das immer wieder Anfangende in der Nähe, [ist] eine utopische Kategorie, ja die zentralste« (PH 11). Deshalb sucht Bloch die Sehnsüchte nach einer besseren Welt zunächst in den Tagträumen auf, von denen »das Leben aller Menschen durchzogen ist« (PH 1). Ausgangspunkt ist also ein wichtiger Aspekt des »lebendigen Seins« in Verbindung mit einer »möglichen neuen Zukunft«, wie Enrique Dussel (2013, 335f) hervorhebt. Hier sieht Bloch deutlich, was in seiner allgemeinen Anthropologie zuweilen unterbelichtet bleibt, nämlich dass die Alltagswünsche von den herrschenden Klassenverhältnissen wesentlich mit geformt und ideologisiert sind, zum Beispiel wenn die »Wunschbilder im Spiegel« vor allem wiedergeben, »wie die herrschende Klasse das von den Schwachen Gewünschte wünscht« (PH 12). Aber für entscheidend hält er, dass auch das unwissendste wishful thinking dem bewusstlosen Gänsemarsch vorzuziehen ist, »denn es kann informiert werden« (PH 1616).

Man kann in diesem Ansatz einige überraschende Ähnlichkeiten mit Gramscis Überlegungen zur bizarr-widersprüchlichen Zusammensetzung des Alltagsverstands entdecken. Wenn Gramsci (Gef 6, 1384) meint, in diesem Alltagsverstand finden sich »Elemente des Höhlenmenschen« und Prinzipien der modernen Wissenschaft sowie Intuitionen einer künftigen Philosophie, überschneidet sich dies mit Blochs in »Erbschaft dieser Zeit« untersuchten Ungleichzeitigkeiten im gesellschaftlichen Bewusstsein, die von den Nazis erfolgreich besetzt und mobilisiert werden konnten (EdZ 104ff). Auch die Arbeiterbewegung müsse hier anknüpfen, ihre Aufgabe sei es, »die zur Abneigung und Verwandlung fähigen Elemente auch des ungleichzeitigen Widerspruchs herauszulösen […] und sie zur Funktion in anderem Zusammenhang umzumontieren« (EdZ 123). Wenn Bloch in den Tagträumen die rebellischen und befreienden Dimensionen aufspürt, sucht er – gramscianisch gesprochen – nach einem gesunden Kern im Alltagsverstand, einem »gesunden Menschenverstand« (buon senso), mit dem eine Philosophie der Praxis sich verbünden muss, um den Alltagsverstand auf eine höhere und kohärentere Stufe anzuheben. Tatsächlich verwendet Bloch beide Begriffe ähnlich wie Gramsci: Nichts sei der marxistisch geübten Nüchternheit ferner als der Common Sense, »jenes gar nicht so Gesunde, gar nicht so Menschliche«, typisch Undialektische, das »voll kleinbürgerlicher Vorurteile sein mag«; aber nichts sei ihr näher »als jener vom common sense so verschiedene bon sens, […] dies Gütezeichen, Füllezeichen wirklich gesunder Nüchternheit«, das keine Perspektive aus- und abschließt, außer derjenigen, »die zu Dingen führen könnte, an denen kein Segen ist« (PH 1619). Gramscis Projekt, den popularen Alltagsverstand, gestützt auf den buon senso, kohärent zu arbeiten, findet bei Bloch eine Analogie in der Aufgabe, die privaten Tagträume mit den großen Entwürfen einer gerechten und unentfremdeten Gesellschaft zu vermitteln – über die beiden gemeinsame Antizipation eines besseren Lebens.

Summum bonum, das höchste Gut

Angesichts der Vorherrschaft deterministischer Auffassungen sowohl in der Sozialdemokratie als auch im »Marxismus-Leninismus«, die zu einer Verkümmerung antizipatorischer Potenziale führte, hatte Bloch gute Gründe, den Stab in die entgegengesetzte Richtung zu biegen. Der von Engels ausgerufene Übergang von der Utopie zur Wissenschaft habe in der darauffolgenden Generation dazu geführt, »dass mit der Wolke auch die Feuersäule der Utopie liquidiert werden konnte« (PH 726). Mit der Unterscheidung zwischen marxistischem »Kältestrom« (konkrete Bedingungsanalyse und Ideologiekritik) und »Wärmestrom« (gerichtet aufs Fernziel einer unentfremdeten Gesellschaft) versucht Bloch, die abgesprengten utopischen Gehalte wieder mit den analytischen Errungenschaften der Marx’schen Kritik zu verbinden (PH 240f). Eine wichtige Inspirationsquelle für die Formulierung der Fernziele ist die Perspektive des jungen Marx, derzufolge eine klassenlose Gesellschaft auch eine »vollendete Wesenseinheit des Menschen mit der Natur« beinhalten muss (MEW 40, 537). Diese Aussöhnung zwischen den Menschen, ihrer Welt und der Natur wird zum Kern von Blochs Ausführungen zum »höchsten Gut« (summum bonum). In den unterschiedlichsten Hoffnungsbildern gebe es eine »Spitze der Träume vom besseren Leben« (PH 356), die sich mit Goethes »Verweile doch, Du bist so schön« ausdrücken lässt. Was traditionell als Gott, Reich Gottes oder Reich der Freiheit projektiert wurde, sei »die Identität des zu sich gekommenen Menschen mit seiner für ihn gelungenen Welt« (PH 364).

Diese Orientierung auf »zu-guter-Letzt-Mögliches« (PH 1557) wird in der Literatur häufig als abstrakte Utopie oder als quasi-religiöse Lehre von den letzten Dingen (Eschatologie) angesehen. Aber diese Kennzeichnung ist insofern irreführend, als es in Blochs marxistischer »Wärmelehre« weder einen religiös-jenseitigen, von einem Erlöser herbeigeführten Endzustand noch eine Garantie für eine befreite Gesellschaft gibt. Johan Siebers (2012, 582, 587f) zufolge handelt es sich hier um eine »Versuchsgestalt von Identität«, bildhaft auch als »Heimat« formuliert, wobei das Endziel für Bloch »exterritorial« zum Geschichtsprozess steht. Ich werde auf das Problem dieser »Exterritorialität« zurückkommen.

Dass auch Blochs Überlegungen zum »höchsten Gut« praktisch-politische Sprengkraft haben, zeigt sich an seinem Begriff »Allianztechnik«, die fähig sei, »Naturallianzen« einzugehen und sich mit der »Mitproduktivität der Natur zu vermitteln« (PH 807). Während unsere bisherige Technik in der Natur steht wie eine »Besatzungsarmee im Feindesland«, ohne vom Landesinnern zu wissen, habe ein »Marxismus der Technik« die Aufgabe, die »Übertragung des Ausbeuter- und Tierbändigerstandpunktes auf die Natur« zu beenden und stattdessen »ein nicht ausbeutendes Verhalten zur Natur« zu entwickeln (PH 813f; EM 251). Blochs »Allianztechnik« kann – trotz ihres hohen Allgemeinheitsgrads und trotz seiner naiven Befürwortung der zivilen Atomenergie (PH 769f, 773f) – als perspektivische Alternative zur kapitalistischen wie auch staatssozialistischen Umweltzerstörung angesehen werden. Tatsächlich war Bloch einer der ersten marxistischen Philosophen, der unter Berufung auf den jungen Marx die Allianz zwischen Mensch und Natur ins Zentrum seiner »konkreten Utopie« stellte. Ein Begriff menschlicher Praxis muss Mensch-Natur-Verhältnisse umfassen und auf ihre Nachhaltigkeit orientieren.

Teleologie oder »offene Möglichkeit«?

Ob man Blochs Ontologie des Noch-Nicht als »utopisches«, mit dem Marxismus unvereinbares System oder als materialistische Verankerung seiner Anthropologie in der Wirklichkeit ansieht, hängt davon ab, ob man sie als eine spekulative, in Geschichte und Natur angelegte Teleologie interpretiert oder mit dem hermeneutischen Schlüssel der offenen Möglichkeit liest. Für beide Lesarten lassen sich Belege finden. Die erste Lesart praktiziert zum Beispiel Adorno (1959, 248), wenn er meint, Bloch möchte eine »ultima philosophia« entwerfen, die aber doch als »prima philosophia« angelegt sei: »Sie denkt das Ende als Weltgrund, der das Seiende bewegt, dem es als telos schon innewohnt.« Und Terry Eagleton (2016, 170f) spottet, dass Bloch den Kommunismus in der Struktur der Amöbe aufzufinden versuche.

Tatsächlich können sich solche Interpretationen darauf berufen, dass Bloch von einer »nach vorwärts« treibenden Materie spricht und es zuweilen so aussieht, als seien die Fernziele als »Anlage« oder als »Drang« in ihr schon enthalten. Aber eine Lesart, die sich auf solche Passagen versteift, verfehlt den eigentlich interessanten Vorgang, dass Bloch seine Praxisphilosophie in die Systemphilosophie einschreibt, um diese zu unterlaufen und von innen aufzusprengen. Das macht er, indem er traditionelle philosophische Begriffe wie Ursprung, Wesen oder Entelechie aufnimmt, aus ihrer Verbindung mit vorgefertigten Zwecken herausbricht und zu einer »Ontologie des Noch-Nicht« umpolt, bei der die »wirkliche Genesis nicht am Anfang, sondern am Ende« steht (PH 1628). Wenn Bloch Begriffe wie »Keim« oder »Anlage« benutzt, tut er dies subversiv, um zu zeigen, dass die Ziele keineswegs vorher schon »eingeschachtelt« seien: »Der ›Keim‹ sieht selbst noch vielen Sprüngen entgegen, die ›Anlage‹ entfaltet sich in der Entfaltung selber zu immer neuen […] Ansätzen« (PH 274), im Prozess entsteht »eine Unzahl realer Möglichkeiten, die dem Anfang nicht an die Wiege gesungen worden sind« (PH 234f).

In den Kapiteln 17 und 18 von »Das Prinzip Hoffnung«, in denen Bloch seine Anthropologie in eine Ontologie des Noch-Nicht übergehen lässt, steht der Begriff der offenen Möglichkeit im Zentrum, in der die utopische Phantasie ihr »konkretes Korrelat« in der Welt hat (PH 226). Hier in diesem »Noch-nicht-Gewordenen« der Welt, in diesem Möglichkeitsraum der Wirklichkeit verortet er die Hoffnung als weithin unerforschte »Weltstelle« (PH 5). Aber die zentralen Begriffe des Bloch’schen »Systems« wie Ultimum, Latenz, Tendenz und Novum sind keineswegs notwendig aufs gute Endziel gerichtet, sondern können auch auf ein »schlechthinniges Umsonst des Geschichtsprozesses« hinauslaufen (PH 268f, 364). Dies erklärt, warum Bloch den »automatischen Fortschritts-Optimismus« als »neues Opium fürs Volk« bezeichnet hat (PH 228) – wiederum ähnlich wie Gramsci (Gef 6, 1386), der den Determinismus im Marxismus als »Form von Religion und von Reizmittel« kritisierte.

Liest man Blochs Ontologie des Noch-Nicht vom Begriff der offenen Möglichkeit her, stößt man unterhalb der »starken« teleologischen Proklamationen einer »Materie nach vorwärts« mit hypothetischem »Natursubjekt« und eigener »Utopie« (PH 236; EM 251) auf eine weitaus vorsichtigere Vorstellung, die man in Anlehnung an Benjamins »schwacher messianischer Kraft« als »schwache teleologische Kraft offener Möglichkeiten« bezeichnen könnte. Sie hat ihren bescheidenden Kern darin, dass noch nicht »aller Tage Abend« ist und jede Nacht noch einen Morgen hat (PH 355). Das konkrete Hoffen, das auch bei Rückschlägen nicht aufgibt, richtet sich darauf, dass Möglichkeiten offenbleiben und die Welt damit ein »laborierendes Laboratorium« bleibt.

Bloch erneuern

Blochs Philosophie ernst zu nehmen bedeutet zugleich, sie kritisch den Herausforderungen des 21. Jahrhunderts auszusetzen. Im Folgenden möchte ich vier Thesen zu ihrer bleibenden Aktualität sowie zu ihrem Aktualisierungs- und Erneuerungsbedarf formulieren.

1 | Verteidigen möchte ich ihn zunächst, wo er am heftigsten angegriffen wird, nämlich bei seiner Rückholung »utopischer« Fernziele in die Gesellschaftstheorie. Selbst wenn es richtig wäre, dass es nach dem Zusammenbruch des sowjetischen Blocks zu einer »Erschöpfung von Utopien« (Habermas) gekommen ist, wäre dies kein tragfähiger Einwand gegen eine Philosophie des Noch-Nicht, die die alltäglichen Tagträume und ausgearbeiteten Gesellschaftsentwürfe auf ihre utopischen Gehalte hin auswertet. Dies gilt auch für Blochs Mut, die religiösen und utopische Ausmalungen eines »zuletzt möglichen« summum bonum aufzunehmen und philosophisch zu durchdenken. Gerade in Zeiten neoliberaler Fragmentierung und Passivierung haben emanzipatorische Bewegungen die Aufgabe, anziehende und überzeugende Perspektiven eines »guten Lebens« für alle zu entwickeln. Ohne sie kann linke Politik keinen Schwung, keine Visionen, keine Phantasie entwickeln.

Für nicht tragfähig halte ich es aber, wenn Bloch die Aufhebung der Entfremdung zwischen Menschen und zwischen ihnen und der Natur als Zusammenfallen der Bereiche denkt, als eine »Identität«, in der es keine Widersprüche und Konflikte mehr zu geben scheint. Denn dann würde die Geschichte zum Stillstand kommen. Bloch selbst ist sich dieser »Aporie« bewusst gewesen: Käme es zu einer gelungenen Identität, »gäbe es keinen Anlass zum Prozess mehr« (PH 1387; vgl. MP 116). Auch wenn das »höchste Gut« in Religion und Philosophie konfliktlos imaginiert wurde, sollten wir es als dynamischen Prozess reformulieren, durch den unvereinbare Gegensätze immer wieder in nicht-antagonistische und bearbeitbare Widersprüche und Differenzen verwandelt werden.

2 | Dort, wo Bloch eine »starke« Teleologie formuliert, bei der es so aussieht, als seien Natur und Geschichte auf das kommunistische Endziel ausgerichtet, müssen wir seine Philosophie ent-teleologisieren. Ansätze hierzu gibt es auch bei Bloch selbst, etwa wenn er fordert, den Fortschrittsbegriff aus seiner einlinigen Engführung herauszulösen und mit dem Konzept eines vielstimmigen, raum-zeitlichen »Multiversums« zu verbinden (TE 146). Sowohl die Prozesse der menschlichen Natur als auch die der menschlichen Geschichte sind ohne großes, intentional steuerndes Subjekt zu denken. Eine »Naturallianz«, bei der menschliche Arbeit und Technik sich umweltverträglich mit der Natur verbinden, kann auch ohne unterstelltes Natursubjekt und ohne Teleologie konzipiert und entwickelt werden.

Anders verhält es sich mit Blochs schwacher teleologischer Kraft offener Möglichkeiten. Auf der Grundlage der Tatsache, dass wir Menschen mit der Fähigkeit ausgestattet sind, Zukünftiges vorwegzunehmen, können wir von einer »Teleologie der Praxis« sprechen, die nach Antonio Negri (2013, 8, 78f ) auf die Herstellung des Gemeinsamen gerichtet ist. Auch politische Projekte kommen nicht darum herum, Teleologien und dazugehörige Genealogien zu entwickeln, nur sollten sie sich ihres jeweiligen Projektcharakters bewusst sein und ihn offenlegen.

3 | Tatsächlich gibt es in Blochs Tagtraumanalysen symptomatische Leerstellen, zum Beispiel hinsichtlich patriarchaler Geschlechterverhältnisse oder wenn er sich bei der Behandlung von Christopher Kolumbus auf dessen utopische Phantasien eines irdischen Paradieses konzentriert (PH 904ff), ohne den damit einhergehenden Völkermord zu thematisieren (zur Dekonstruktion des Bloch’schen Eurozentrismus vgl. Dietschy 2017, 236f). Soweit Bloch die Hoffnung essenzialistisch als eigentlich gute und heilsame Kraft behandelt, die allenfalls nachträglich durch Machthaber und ihre Demagogen manipuliert wird, müssen wir sein »Prinzip Hoffnung« de-essenzialisieren. Bloch hat seine Anthropologie und Ontologie zuweilen in einer philosophischen Allgemeinheit konzipiert, die die Ambivalenzen der Hoffnung zu kurz kommen lässt. In der gesellschaftlichen Wirklichkeit agieren wir nicht unmittelbar als hoffnungsfähige »Gattungswesen«, sondern als spezifische Subjekte, deren Habitus und soziale Distinktionen durch Klassenherkunft, Geschlechterverhältnisse und Rassenzugehörigkeit geformt werden. Auch die Hoffnung ist von sozialen Gegensätzen durchzogen, bis zu dem Punkt, dass die Hoffnung der einen die Hoffnungslosigkeit der anderen verursacht und bedingt. Die ideologischen Apparate vermitteln nicht nur bestimmte Bewusstseinsinhalte, sondern formen die ideologischen Subjekte selbst, ihre Haltungen, Fühlweisen und nicht zuletzt ihre Hoffnungen. Deshalb muss Blochs Philosophie vermittelt werden mit einer kritischen Theorie ideologischer Vergesellschaftung, die zu untersuchen hätte, wie die Subjekte aktiv und hoffnungsvoll an ihrer eigenen ideologischen Unterwerfung arbeiten. Hier ist ein stärkerer »Kältestrom« gefragt, um die unterschiedlichen und gegensätzlichen Ausprägungen der Hoffnung zu analysieren.

4 | In diesem Sinne bietet es sich an, Blochs Philosophie mit Gramscis Hegemonietheorie zu verbinden, um mit dieser nach den Bedingungen der Hoffnung bzw. Hoffnungslosigkeit zu fragen. So zeigt sich die Hegemonie des Neoliberalismus unter anderem darin, dass ihr weitgehend eine Privatisierung der Hoffnung gelungen ist, bei der die »Träume einer besseren Welt« auf den individuellen Aufstieg und das Wohl der eigenen Familie begrenzt sind. Und umgekehrt konnte man etwa bei Occupy Wall Street oder bei der Wahlkampagne von Bernie Sanders beobachten, dass linke Projekte dann massenhaft Hoffnungen freisetzen, wenn sie die neoliberalen Fragmentierungen in abgegrenzte Identitätspolitiken durchbrechen und auf neuartige inklusive Weise den großen sozialökonomischen Klassengegensatz thematisieren (vgl. hierzu Rehmann 2012 u. 2016 sowie Candeias 2018).

Gramsci hat eine solche Dynamik mit dem Begriff der Katharsis gefasst. Sie bezeichnet den Moment, in dem eine Bewegung ihre korporatistischen, gruppenegoistischen Beschränkungen überwindet und sich mit anderen subalternen Gruppen zusammenschließt. Diesen »kathartischen« Moment hält er für so bedeutsam, dass er ihn zum »Ausgangspunkt für die gesamte Philosophie der Praxis« erklärt. Denn hier erfolge der Übergang von der »Notwendigkeit zur Freiheit«, von einer »äußerlichen Kraft, die den Menschen erdrückt, ihn sich assimiliert, ihn passiv macht«, zu einer neuen »ethisch-politischen Form«, die neue Initiativen hervorbringt (Gef 6, 1259; Gef 7, 1560f). Aus solchen Momenten kann die Hoffnung, deren allgemeine anthropologische und ontologische Grundlagen Bloch herausgearbeitet hat, konkret entspringen. In der vom neoliberalen Hightech-Kapitalismus geprägten Konstellation lässt sie sich begreifen als »kathartischer« Effekt des Zusammenfließens und Sich-Zusammennehmens vormals verstreuter subalterner Subjekte zu einem gemeinsamen Projekt, das Unterschiede und innere Widersprüche nicht verdrängt, sondern solidarisch bearbeitet.

 

Modifizierte und gekürzte Fassung des 2018 in der Zeitschrift Das Argument (325) erschienenen Aufsatzes »Ernst Bloch als Philosoph der Praxis«

 

Bloch-Sigel

EdZ = Erbschaft dieser Zeit, 1935, Gesamtausgabe, Bd. 4
EM = Experimentum Mundi. Frage, Kategorien des Herausbringens, Praxis, 1975, Gesamtausgabe, Bd. 15
MP = Das Materialismusproblem, seine Geschichte und Substanz, 1972, Gesamtausgabe, Bd. 7
PH = Das Prinzip Hoffnung, 1938–1947 (1954–1959), Gesamtausgabe, Bd. 5
TE = Tübinger Einleitung in die Philosophie, 1963, Gesamtausgabe, Bd. 13

Literatur