- Zeitschrift LuXemburg - https://legacy.zeitschrift-luxemburg.de -

Bildungsfernweh

Von Klaus Weber

»Jeder trägt sein Ablaufdatum,
weil das Leben ein Abfahrtslauf ist.
Immer hinunter. Nur wenige dürfen hinauf.«
Elfriede Jelinek

Wer von unten kommt, bleibt meist dort und krümmt sich. Der Mensch lässt sich viel gefallen, wo käme man sonst hin. Wer zum Licht, zur Welt hin will, stößt nicht selten oben an und wird zurückgestoßen; mangels Kraft und Geld siegt die Gewöhnung. Und nicht nur sie hat hier gedämpft, es wurde von obenher dem nachgeholfen, vor allem bei ärmeren Fragern, damit nicht zu viel und gar unangenehm gefragt würde. Wird einer gebildet genannt, so ist es für die Unteren eine Möglichkeit, ihn nicht ernst nehmen zu müssen.

Noch im Wörterbuch ist der Mensch Objekt des Vorgangs: Sein geistiges und inneres Geformtsein ist dort passivierend gemeint; die liberalen Bürger dachten Bildung als Entwicklung der Person, Persönlichkeit und Psyche. Diese verknüpfen sich mit der Person des Staatsbürgers. Bildung verbindet auf diese Weise Pädagogik und Politik. Der Aufschluss einer ganzen Welt, die uns gehören soll, kommt in solcherlei Denken nicht vor. Dass wir uns mit anderen und gegen die Herrschaft das aneignen, was uns ein schönes und glückliches Leben ermöglicht, ist ins Denken des (Bildungs-)Bürgers nicht eingeschrieben.

bildungsfern – biografisch

Vater Totengräber, Mutter Näherin; nach der Geburt dreier Kinder Hausfrau. So komme ich also von unten. Aufgewachsen direkt neben dem Leichenschauhaus, mein Kinderschlafzimmer (mit meinen Brüdern) neben dem Glockenturm der Friedhofskapelle, die uns bei jeder Beerdigung weckte – was vor allem in den Schulferien grausam war. Bis heute kränkt es mich, wenn über anlagebedingte Fähigkeiten gesprochen wird: Mein Leben, das ich – mit Hilfe vieler – ins Studium, ins Promovieren, Habilitieren hineinlenkte, ist nach den Annahmen der Genetikcracks nicht möglich, wird schier negiert, ausgelöscht. Komme ich doch – mit Gerhard Polt gesprochen – aus genetischem Sondermüll und bin also ein Sonder- bzw. erklärungsbedürftiger ›Fall‹.

Onkel, radikaler Betriebsratsvorsitzender, und Tante, Che-Guevara-Anhängerin, öffneten mir zum ersten Mal den Blick auf ein Leben jenseits kleinstädtischer Verblödung. Sie warnten mich vor Kirche und Bibel und schenkten mir Bücher von Böll und Wallraff. Die Bibel habe ich mir nicht ausreden lassen, weil ich Kohelet so gerne las und den Satz: Es gibt einen Vorteil, den das Wissen bietet, aber nicht das Unwissen; wie es einen Vorteil gibt, den das Licht bietet, aber nicht die Dunkelheit. Gegen die freiwillige Selbstaufgabe meiner ebenfalls klugen Brüder und Eltern und ihr Einfügen in das gewollte Unten (»für ein Arbeiterkind reicht Realschule…«), gemischt und erleichtert durch den Glauben an das private Glück, war für mich das Glück immer jenseits meiner Familie, meines Heimatorts, meiner Herkunft, meines Landes: Gegen bayerisches Biertrinken und gegen das Trachtenwesen mit Dirndlg’wand und Schuhplatt’ln, gegen Böllerschützen- und Gebirgsjägerdumpfheit war mein erstes Zitroneneis beim gerade erst eingewanderten Italiener ein Versprechen auf bessere und glücklichere Gegenden und ein besseres Leben.

Alleine ist das Herauskommen aus dem auch Fesselnden nie leicht. So sucht man sich andere, Gleichgesinnte mit dem ähnlichen Drang zum Glück. Auch hier half Kohelet, selbst, als ich nicht mehr gläubig war: Es gibt kein in allem Tun gründendes Glück, es sei denn, ein jeder freut sich, und so verschafft er sich Glück, während er noch lebt. Kein Verschieben auf die Zukunft; das eine. Privates Glück alleine: never – es geht ums Glück für jeden und die ganze Welt; die ganz andere Welt.

bildungsfern – so what?

Redens verständlich mit mir, ich bin
Wissenschaftler und faß schwer auf.
Bertolt Brecht

Bildung – je genauer man den Begriff anschaut, umso ferner sieht er zurück. Zu abstrakt, zu ungenau ist er, um zu verstehen, wie man/frau dorthin kommen soll.

Besser ist: gemeinsames Lernen, Neugier auf die Welt, Erkunden der Dinge, die unterhalb der Oberfläche liegen. Erproben, erforschen, erleben und das Erfahrene – ob über den Körper oder über den Kopf, am besten über beides – mit den anderen besprechen, Schlüsse daraus ziehen und mit den fraglichen Antworten sich wieder auf neue Wege begeben und – wenn es sie nicht gibt – sie selbst bauen. Das ist bestenfalls Lernen, immer schon ein Leben lang, für die Befreiung. Bildung klingt anders, wird geformter, genormter, geordneter, eingepasster – in die Herrschaftsstrukturen – gedacht. Die sogenannten Bildungsfernen müssen viel wissen, um ihr Leben in kapitalistischen Verhältnissen zu meistern. Sie lernen, sich zurechtzufinden in den Strukturen, selten stoßen sie auf Pfade, welche diese Strukturen und Verhältnisse infrage stellen, Wege in eine andere Welt öffnen und damit eine Gesellschaft bauen ließen, in der die Menschen – welches Wissen, welche Bildung, welche Lerndinge auch immer sie für wichtig erachten – ihr Leben selbst in die Hand nehmen.

Die Krisen dieser Welt, die in Krieg, Elend, Hunger münden, aber auch die tägliche Krise des Lebens, Liebens und Arbeitens in fremdbestimmten Verhältnissen werden nicht von ›bildungsfernen Schichten‹ gemacht. Was uns und der Welt in den letzten Jahren die Finanz- und Wirtschaftskrise brachte, kam nicht von der Dummheit oder Gier der Banker, sondern hängt mit ihren hochqualifizierten Kompetenzen als Finanzmanager, Betriebswirtschaftler und Ökonomen zusammen. Bildung heißt heute Ein- und Anpassung von Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen in Lernstrukturen, die – trotz bester LehrerInnen und DozentInnen – entmündigend, unterwerfend, selektierend und fremdbestimmt sind. Wenn von Bildung gesprochen wird, ist stets das Verwertungsinteresse an den so Zurechtgebildeten gemeint: Bildung ermöglicht Aufstiegschancen, bringt fette Kohle und sichert den Standort Deutschland. Bildung solcherart abzulehnen wäre ein Leichtes – und doch ist nur in diesem System ein Lernen zur Befreiung, zur Überwindung und Aufhebung dieses Systems möglich. Diese Art von Widersprüchen ist zugleich unsere Hoffnung.

Klugheit statt Bildung

Schade, dass der Realismus so viel
Realität enthält, sagte ich, schade
dass die Klugen auch immer die Frechen sind
sagte er und gab dem Henker ein Zeichen.
Volker Braun

Ich kenne keinen, der von sich sagt, er sei ein Gebildeter oder er habe Bildung (außer solchen, die es nötig haben). Bildung schaut immer schon von oben herab, hat keinen Platz beim Leben, beim Lernen, beim Lieben und Arbeiten. Lernen, Wissen wollen, Klugheit: Wir kennen sie aus Fabeln (Reinecke Fuchs) aus Märchen und Erzählungen: Hänsel und Grethel konnten die Hexe nur besiegen, weil Hänsel erkannte, dass sie »trübe Augen hatte« und also nicht gut erkennen konnte, dass Hänsel ihr statt seiner Finger ein Knöchelchen hinhielt – immer wenn sie kontrollierte, ob er bald fett genug sei, um von ihr geschlachtet und gekocht zu werden. Doch nicht Hänsel war es, der den Untergang der Hexe besiegelte; Grethel war so klug, sich dumm zu stellen, als die Hexe sie überreden wollte, den Backofen im Inneren zu kontrollieren, ob er auch schon heiß genug sei. Klugheit also benötigen die beiden, wenn sie aus »ärmlichen Verhältnissen« (bildungsferne Schicht: »armer Holzhacker und seine Frau mit zwei Kindern«) kommend die an Lebensmitteln reiche Hexe überlisten wollen (»Da ward ein gutes Essen aufgetragen, Milch und Pfannekuchen mit Zucker, Apfel und Nüssen«). Klugheit statt Bildung, Neugier statt Wissensreproduktion, Weltzugriff statt Auswendiglernen: Die Frage, ob jemand bildungsfern ist, stellt sich mit solchen Begriffen nicht mehr. Kann es sein, dass Bildung als spaltender Begriff funktional für die Aufrechterhaltung herrschender Verhältnisse ist?

Abgeholt?

Der Lehrer muss dem Schüler eine Zukunft zutrauen.
Er muss eine Erwartung an ihn haben,
die zu erfüllen schwer, aber nicht unmöglich ist.
Ein größeres Geschenk als die Überzeugung,
dass es auf uns ankommt,
kann uns nicht gemacht werden.
Rainer Malkowski

Bildung spaltet, teilt die Menschen ein. Man kann sie haben oder nicht, ihr fern sein oder nah. Die Welt erfassen und klüger werden dagegen können wir alle, indem wir aufeinander hören, voneinander lernen. Und trotzdem: Lehr-Lernverhältnisse sind Machtverhältnisse. EineR weiß Bescheid und die anderen sollen seinen Bescheid, sein Bescheid wissen akzeptieren. »Man muss die Klienten da abholen, wo sie stehen«, schallt es aufklärerisch dort, wo ich arbeite – im Feld der Sozialarbeit. Diese Haltung der scheinbar Gebildeten ist als Haltung eine Simulation von Großzügigkeit, der Sache nach Herablassung. Wenn es um die Befreiung aus ungerechten, knechtenden, demütigenden und unterdrückenden Erfahrungen geht, wissen alle Bescheid – Herren wie Knechte. Es ginge nicht darum, die jeweiligen Verhältnisse aufrechtzuerhalten (Lehrer bleibt Lehrer, Schüler bleibt Schüler), sondern vielmehr darum, sie umzustürzen und konstruktiv aufzuheben: Alle lernen alles von allen.

Dank an Anna Benecke fürs Lesen und Ermutigen.

Die kursiven Stellen sind (in ihrer Reihenfolge) Zitate aus:

Elfriede Jelinek, 2004: Erlkönigin, in: Macht nichts. Eine kleine Trilogie des Todes, Reinbek

Ernst Bloch, 1969: Philosophische Aufsätze zur objektiven Phantasie, Frankfurt/M

Gerhard Wahrig, 1984: Deutsches Wörterbuch, o.O.

Terri Seddon, 1995: Bildung, in: Historisch-Kritisches Wörterbuch des Marxismus Bd. 2, Hamburg, o.S.

Gerhard Polt, o.J.: Longline. Der Standort Deutschland (CD)

Neue Jerusalemer Bibel, 1995: Das Buch Kohelet, 2;13 und 3;12,13, Freiburg

Bertolt Brecht, 1982: Flüchtlingsgespräche, in: GW Bd. 14. Frankfurt/M, 1401ff

Uwe Hirschfeld, 2015: Die kompetente Katastrophe des Kapitalismus, in: ders., Beiträge zur politischen Theorie Sozialer Arbeit, Hamburg, o.S.

Volker Braun, 2009: Werktage 1977–1989. Ein Arbeitsbuch, Frankfurt/M

Rainer Malkowski, 2013: Aphorismen und kleine Prosa, Göttingen

Roland Reuß, 2012: Ende der Hypnose. Vom Netz und zum Buch, Frankfurt/M