| Bildung gibt es nicht gratis. Die „Grüne Welle“ der Proteste in Spanien

April 2013  Druckansicht

Jose María Ruiz Herranz, Sekretär für Information und Kommunikation, Verband für Bildungswesen in der Gewerkschaft Comisiones Obreras (CCOO), Madrid. Das Gespräch führte Lara Hernández.

In Spanien symbolisieren verschiedenfarbige T-Shirts jeweils Teilbereiche einer umfassenden gesellschaftlichen und gewerkschaftlichen Protestwelle, im Gesundheits-, Kultur-, Medienbereich etc. Die Protestierenden im Bildungsbereich tragen ein grünes T-Shirt und bilden die „Grüne Welle“.

Videointerview (Spanisch)

Wie ist die Situation der Lehrer angesichts der Kürzungen, die Spanien erlebt?

In Madrid aber auch in Castilla la Mancha oder Valencia ist die Lage besonders zugespitzt: Die ohnehin hohe Arbeitsbelastung der Lehrerinnen und Lehrer nimmt weiter zu, mit
Blick auf die Menge der Unterrichtsstunden als auch die Schülerzahlen. Das Bildungsministerium hat eine Erhöhung der Schülerzahl pro Klasse beschlossen. Dabei wurde den Gemeinden zwar ein gewisser Spielraum zugestanden, aber in Madrid wurde die Klassengröße in den verschiedenen Stufen stark erhöht, sodass wir hier in der Oberstufe bis zu 35 Schüler vorfinden, bei den Kindergärten sind es bis zu 30 Kinder in einer Gruppe. Erst wenn es mehr sind, kann eine zweite Klasse eingerichtet werden, in der die Schüler dann eine bessere Betreuung erhalten. Die Klassengröße hat natürlich Einfluss auf die Unterrichtsqualität und auf die Bedingungen, unter denen die Lehrer arbeiten können.

Das sind die Ursachen dafür, dass die mareas, die Protestwellen,  in den unterschiedlichen Bereichen entstanden.

Kürzungen in Madrid, um bei dem Beispiel zu bleiben, gibt es ja schon länger. Etwa 2007 begannen hier eine ganze Reihe von Angriffen auf öffentliche Schulen, angefangen mit öffentlich-privaten Partnerschaften (PPP). Auf diese Weise wurde der Stadtverwaltung Stück für Stück die Steuerung und Verantwortung entzogen. Die Regelungen zur Effektivierung des Unterrichts verminderte die Qualität sehr. Durch neue Verordnungen wurde auch die Qualität in Vorschulen und Kindergärten und der Arbeitsbedingungen beeinträchtigt. Die Kürzungen kamen nicht auf einen Schlag, sondern Stück für Stück in verschiedenen Bereichen. Dagegen erhoben sich eine Reihe von Mobilisierungen. 2008 gab es große Streiks an Vorschulen und Kindergärten,  im selben Jahr fanden in Madrid zwei große Streiks für die öffentliche Schule statt, auch 2009. Der Anlass war typisch für die Politik in Madrid: Erst baut man eine öffentliche Schule, um sie dann privaten Investoren zu überlassen. Wir sprechen zu diesem Zeitpunkt noch nicht von einer „Welle“ der Mobilisierungen, aber es gab doch konstant wachsende Unruhe. Und das ging so weiter: Am 4. Juli 2011 wurde per Verordnungen unterschiedslos für alle Schultypen die Unterrichtsstundenzahl erhöht. Das bedeutet zugleich eine beträchtliche Verringerung des Lehrpersonals, Verträge werden nicht verlängert, die Zahl der Unterrichtsstunden für die Einzelnen erhöht. Viele bleiben auf einem Warteplatz sitzen. Das ist die Situation im Juli 2011.

Daraufhin haben wir verschiedene große Versammlungen abgehalten, zu denen alle Gewerkschaften, besonders die CCOO und die Plattform für die öffentliche Schule, aufriefen. Zu diesem Zeitpunkt sprechen wir schon von sehr großen Mobilisierungen: eine Versammlung in der Aula der Universität, an der ungefähr 2200 Beschäftigte teilnehmen und Leute draußen bleiben müssen, weil kein Platz ist. Von den CCOO aus unterstützten wir ein „Sich-Einschließen“ in der Junta de Personal, den Büros der Personalvertretung. Vom 1. September an 21 Tage lang. Das ist der Beginn der marea verde, der grünen Welle der Bildungsproteste. Die Gemeindeverwaltung von Madrid wollte nur die Arbeitsstruktur reorganisieren, also speziell die Menge der Unterrichtsstunden. Wir stellten mit der Aktion die Qualität der Bildung insgesamt zur öffentlichen Diskussion. Es kann doch nicht sein, dass jemand, nur um auf seine vorgeschriebene Arbeitszeit zu kommen, Fächer unterrichten muss, die er gar nicht gelernt hat, z.B. ein Sportlehrer auch Biologieunterricht geben muss. Wir fragten also: Welches Modell von Bildung wollen wir?

Auf der Ebene der Region Madrid – wie wird da die marea verde organisiert? Welche Struktur gibt es?

Wie jede Bewegung waren wir zu Beginn desorganisiert. Alles war improvisiert. Die CCOO haben versucht, den Konflikt und die Mobilisierung den üblichen Formen eines Arbeitskampfes zu kanalisieren. Wir sahen jedoch die Notwendigkeit, etwas viel Breiteres zu organisieren, nicht nur für Gewerkschaftsdelegierte, etwas, zudem viel mehr Leute kommen  und mitreden konnten. Ich spreche von „Mikrozentren der Arbeit“, wo vielleicht maximal 30 Leute arbeiten. Das ist etwas andres als an der Universität, wo über 1500 Leute arbeiten. Es ist nahezu unmöglich, dazwischen Verbindungen zu knüpfen. Das Prinzip der Delegierten, um alle wirklich umfassend zu informieren über das, was gerade passiert, funktioniert hier nicht mehr. Deshalb organisierten wir eine Versammlung am 31. August 2011, einer erste von vielen: Dort haben die Menschen ihre Unzufriedenheit ausgedrückt und verschiedene Vorschläge gemacht. Diese reichten vom Generalstreik zu Streiks für einen Tag oder länger, begrenzt oder unbegrenzt, Ausständen, Sich-Einschließen, Besetzungen, verschiedene Arten der Mobilisierung. Die zweite Versammlung machten wir am 8. September, zeitgleich zu unserem Einschluss in der Personalvertretung. Und wir organisierten eine Regionalkonferenz, an der alle Vertreter aus der Region teilnehmen konnten, um Stimmungen und Vorschlägen zu diskutieren. Das wiederholten wir alle 14 Tage. Wir analysierten die vergangenen Mobilisierungen und besprachen Vorschläge für neue. Bei der Versammlung am 31. August konnte jeder kommen, der wollte, und vorn am Tisch saßen Vertreter aller Gewerkschaften, die im Regionalrat vertreten sind, aber auch andere Organisationen. Beim nächsten Treffen kamen dann nur noch die CCOO und Vertreter einer anderen Gewerkschaft.

Welche Rolle hat die CCOO bei den mareas und im besonderen bei den mareas verdes gespielt?

Im Wesentlichen haben die CCOO die Rolle, die verschiedenen Vorschläge und Mobilisierungen zu koordinieren, die Konflikte so zu kanalisieren, dass sie realistisch angegangen werden, und Entscheidungen widerspiegeln, was die Mehrheit der Zentren sich vorstellt. Es konnte z.B. passieren, dass ein einzelnes Zentrum etwas vorschlug, womit die  übrigen Arbeitszentren und wir als Gewerkschaft nicht einverstanden waren. In der Mobilisierung gab es dann zwei Gruppen: eine stark mobilisierte Gruppe in den Sekundarstufen, eine weniger mobilisierte in Grundschulen und Kindergärten. Nicht weil die Betreffenden unterschiedliche Probleme hatten, sondern weil letztere mehr Zeit benötigten. Auch hier brauchte es die Präsenz der Gewerkschaft in den verschiedenen Versammlungen der verschiedenen Arbeitszentren, um die Mobilisierungen zusammenzuhalten. Es ist ausgeschlossen, bei 1500 Ausbildungszentren, mit teilweise 25 Leuten eine vollständige Information über die einzelnen Zentren zu haben. Aber nach ungefähr sechs Wochen hatten wir einen Überblick und konnten einen Plan entwerfen, welche Mobilisierungen und Streiks in einer zweiten Etappe bis zum 20. Oktober 2011 in Angriff genommen werden konnten.

Welche Entscheidungen führten dann zu dieser Dynamik der Mobilisierung?

Die CCOO sind an verschiedenen Punkten aktiv, nicht nur in den regionalen Versammlungen. Zum Beispiel macht die „Plattform für die öffentliche Schule“ eine wichtige Arbeit in den Stadtvierteln und Gemeinden, schon seit vielen Jahren. Das heißt, eine neue Mobilisierung und Organisierung traf auf eine schon lange existierende, die von der Plataforma und den Gewerkschaften ausging. Wir setzen auf diese neue Form der Mobilisierung und Organisierung, denn nicht alle wollen innerhalb der Gewerkschaft mitwirken. Trotzdem ist uns natürlich auch wichtig, neue Mitglieder zu bekommen. Die Mitglieder entscheiden. Das heißt, vor jeder allgemeinen Versammlung trifft sich die Mitgliederversammlung, die Mitglieder werden befragt, sie machen Vorschläge und entscheiden darüber, welche Strategien von der Gewerkschaft umgesetzt werden sollen. Die vorherige Beteiligung der Mitglieder erleichtert die Teilnahme an den allgemeinen Versammlungen. Viele, die in den regionalen Versammlungen als Vertreter eines Zentrums, eines Bezirks oder einer Organisation aktiv mitmachen, sind von den CCOO. Die Gewerkschaft ist bei der Organisierung sehr präsent.

Was änderte die 15M-Bewegung, verstanden als die Bewegung, die die Bewegungen zusammenführt?

Die marea verde, die grüne Welle ohne die 15M, aber auch ohne die CCOO verstehen zu wollen, würde an der Sache vorbeigehen. Die 15M bringt eine Mobilisierung auf die Straße, die es zuvor auf diesem Niveau nicht gab. Ohne eine Organisation, die die Zeiten des Konflikts einschätzen kann, hätten wir eine so breite Mobilisierung aber auch nicht so lange aufrechterhalten können. Das eine ergänzt das andere. Man sollte das nicht gegeneinander stellen. Unsere allgemeinen Versammlungen gab es vor dem 15M nicht, aber es gab vielfältige Auseinandersetzungen im Bereich der Bildung/Ausbildung – und das ist der Bereich, über den ich hier sprechen kann. Der Kampf für die öffentliche Schule ist nicht neu.  Seit vielen Jahren arbeiten die Plattformen für die öffentliche Schule, die viel geleistet haben. Es gab auch bereits eine Plattform für die Kindergärten. Es gab viel Bewegung. Die Schwierigkeit bestand darin, dass die Dinge nicht zusammenkamen. Nun wird in derselben Richtung gehandelt und zusammengearbeitet. Auch wenn es in bestimmten Momenten gegenseitige Vorbehalte gibt, so existieren jetzt Übereinstimmungen in den Diskussionen als auch in der Mobilisierung.

Was denkst du, welche Beziehung zwischen Gewerkschaft und 15M-Bewegung besteht, zwischen klassischen Strukturen (Gewerkschaften, Parteien) und sozialen Bewegungen?

Es gibt es immer eine Spannung zwischen beiden, unterschiedliche Vorstellungen und Vorschläge, Diskussionen und manchmal unterschiedliche Entscheidungen. Zweifellos waren viele, die jetzt aktiv an den Versammlungen des 15M und der Stadtteilversammlungen teilnehmen, schon zuvor politisch organisiert, auch bei der Plattform für die öffentliche Schule. Da kam der 15M genau richtig, um bestimmten Themen neues Leben einzuhauchen, die kaum Sichtbarkeit erlangten. Die Probleme in den Stadtvierteln bspw. hat es ja seit vielen Jahren gegeben. Zur Frage der Mitwirkung in klassischen Organisationen wäre es vielleicht gut, eine Diskussion zu beginnen. Meiner Ansicht nach ist es eine Organisation, die den Mobilisierungen Zusammenhalt gibt. Ohne Organisation wäre alles der spontanen Teilnahme  überlassen, wäre es schwierig, Entscheidungen zu treffen, vor allem wird es schwierig, kontinuierliche Arbeit zu leisten. Beim gegenwärtigen Rhythmus der Mobilisierung und der  Angriffe gegen uns, ist das angesichts mäßiger Erfolge unsererseits, von erheblicher Bedeutung. 15M organisiert sich in neuer Form. Wir sind eine klassische Organisation, eine Arbeiterorganisation, schon sehr lange, im Guten wie im Schlechten.

Woher stammt die Idee mit dem grünen T-Shirt für die Protestwelle im Bereich Bildung?

Das grüne T-Shirt kam nicht erst mit der Welle der Proteste. Es gab ja bereits verschiedene Plattformen für die öffentliche Schule, im Viertel, in der Gemeinde, in der Region. Und jede Plattform hatte ein Hemd in einer bestimmten Farbe, orange und gelb sah man, die Plattform für die öffentliche Schule hatte ein grünes T-Shirt. Vor acht oder neun Jahren haben sie es angezogen. Die Parole lautete: „Öffentliche Schule für alle“. Das drückte die allgemeine Stimmung aus. Warum jetzt das grüne T-Shirt für alle? Auf dem Höhepunkt der Angriffe gegen uns wurde eine Kollegin in einer halb-privatisierten Schule von der Verwaltung mit einer Strafe belegt, weil ihr grünes T-Shirt als nicht angemessen betrachtet wurde – also weil sie das grüne Hemd von einer öffentlichen Schule an einer privaten Schule trug. Darauf hat die Plattform reagiert. Sie haben eine Erklärung verlangt und wollten von der Verwaltung empfangen werden. Die Gewerkschaft hat vom ersten Moment an die Kollegin unterstützt. Es folgte eine Mobilisierung mit der Parole „Machen wir die Verwaltung grün“. In der Presse erhielt dies viel Aufmerksamkeit. Das grüne T-Shirt wurde zum Symbol und fand sich auf den Titelseiten der Zeitungen wieder.

Welche Erwartungen hast du in Bezug auf die Zukunft der Protestwellen?

Die “Grüne Welle” ist nicht mehr so stark wie im Jahr 2011, aber weiterhin sehr lebendig und verlässlich. Der klarste Ausdruck davon: Wenn es einen wichtigen Aufruf gibt, dann ist sie da, z.B. beim länderübergreifenden Generalstreik vom 14. November 2012. Das war der wichtigste Streik seit dem Generalstreik von 1988, gerade mit Blick auf Beteiligung aus dem Bildungsbereich, mit einer Beteiligung von 50 Prozent, in manchen Gebieten sogar mehr, und bei Kindergärten teilweise mit einer Teilnahme von 90 Prozent. Die Mobilisierung besteht fort, aber wir wissen jetzt, dass es um einen langfristigen Kampf geht. Jene, die gegenwärtig überall die Kürzungen durchsetzen, werden gehen, wir werden bleiben. Wir brauchen einen langen Atem. Mittelfristig gibt es vielleicht wieder eine große Mobilisierung im ganzen Land, vielleicht einen erneuten allgemeinen Generalstreik. Madrid spielt dabei eine Schlüsselrolle: Hier gab es die größte Mobilisierung, elf Streiks wurden im Bildungsbereich durchgeführt. Wir erwarten weitere, bis wir eine Änderung der Bildungspolitik erreichen. Bildung gibt es nicht gratis, nicht zum Sparpreis. Diese Überzeugung gewinnt Terrain.