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Beweglicher Werden. Zum Verhältnis von Empörten, Jugend und Gewerkschaft


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Paula Guisande

Interview mit Paula Guisande, Gewerkschaftssekretärin des Sindicato Joven, Comisiones Obreras, Madrid.

Das Sindicato Joven (junge Gewerkschaft) in Madrid ist eine Jugendorganisation der der CCOO (den Arbeiterkommissionen, dem kommunistisch orientierten Gewerkschaftsdachverband) als auch weiterer Gruppen junger Leute, die ohne Mitgliedsbeitrag beitreten können: SchülerInnen, StudentInnen oder junge Arbeitslose. Sie ist zwar formal Teil der Gewerkschaftsstruktur, funktioniert aber informeller und lässt mehr Raum zum Mitmachen.

Videointerview (Spanisch) [2]

 

Welche Rolle spielt das Sindicato Joven bei den Massenmobilisierungen in Spanien?

Wir sind wohl der zuerst und am stärksten involvierte Teil der Gewerkschaften bei den Mobilisierungen. Wir arbeiten eng mit anderen Gruppen zusammen, z.B. dem Consejo de la Juventud (Rat der Jugend, der allerdings nicht mehr existiert), zur Bewegung 15M (den Empörten des 15. Mai), der Bewegung Juventud sin Futuro (Jugend ohne Zukunft). Aus letzterer ist ja der 15M entstanden. Diese Bewegung entstand nicht aus dem Nichts, sondern wurde von verschiedenen Organisationen getragen. Nichtsdestoweniger waren es unzufriedene städtische Jugendliche hier aus Madrid, die mit den Aktionen der Juventud sin Futuro begonnen haben. Sie organisierten sich insbesondere für das Recht auf Wohnen. Die Jugend hat tatsächlich eine führende Rolle in den Kämpfen gehabt. Wir wussten zwar damals nicht, wohin das Ganze führen würde, und ich will unsere Rolle darin auch nicht übertreiben, aber diese Vorgeschichte der Kämpfe von Jugendlichen ist nicht zu bestreiten. Und das Sindicato Joven hat sich als erster Bereich in der Gewerkschaft überhaupt mit dieser Bewegung beschäftigt, hat sich mit der Juventud sin Futuro schon in dem Moment auseinandergesetzt, als sie entstand. Wir sahen, dass sich da etwas Neues entwickelte und versucht, möglichst nah an diesem Prozess dranzubleiben, offen zu sein.

Auch die Generalstreiks sind zunehmend von jungen Leuten getragen: Beim ersten Generalstreik 2010 gegen Zapateros Kürzungspolitik waren noch etwa zehn Prozent der Streikenden junge Leute, beim zweiten Generalstreik im März 2012 schon 20 Prozent und beim letzten Streik im September 2012 gehörte praktisch die Hälfte der Streikenden zur jungen Generation. Es sind insbesondere junge Leute, die eine Situation der Krise erleben. All dies blieb nicht ohne Auswirkungen auf unsere kleine Welt des Sindicato Joven.

Welchen Beitrag hat die Bewegung 15M für die CCOO geleistet?

Die Bewegung hat viele Fragen in die Debatte gebracht – vor allem die Frage der Partizipation. Oft gibt es von außen eine etwas irrtümliche Wahrnehmung von den Gewerkschaften. Die Leute denken, dass hier die Entscheidungen von oben getroffen werden und alle sich denen dann unterordnen. Es mag schon mal vorkommen, dass wir anderer Meinung sind als die ein oder andere Bewegung. Aber Partizipationsmöglichkeiten gibt es bei uns: Das gilt nicht nur für die besondere Situation des Sindicato Joven, sondern ganz generell für alle Gewerkschaften. Viele Entscheidungen werden z.B. bei Versammlungen in großen Betrieben getroffen – aber die Leute gehen oft nicht hin. So haben in den letzten Jahren nicht nur die Gewerkschaftsstrukturen die Frage der Partizipation verdrängt – die Leute selbst haben vergessen, dass sie sich beteiligen könnten. Viele haben nicht gemerkt, dass sie das Terrain für Mitbestimmung preisgegeben haben.

Im öffentlichen Gesundheitssektor erleben wir eine enorme Privatisierungswelle und seit Jahren haben die Gewerkschaften dagegen protestiert, aber kaum jemand hat sich dafür interessiert und das unterstützt. Seit dem 15M hat sich das geändert: die Leute in den Unternehmen, den Stadtteilen, in den verschiedenen Branchen und in der Jugendarbeit sind viel motivierter, sich zu beteiligen. Das hat uns enormen Aufwind verschafft. Zudem haben wir gelernt, agiler zu werden in bewegten Zeiten. Die Gewerkschaft hat eine statische und auch komplexe Struktur, die für viele unverständlich ist. Das hat zwar alles seine Logik, wie wir uns organisieren und nach und nach wächst man auch hinein. Aber zu Beginn erscheint es den Einzelnen als komplizierte und verhärtete Struktur. Diese Strukturen sind nicht einfach zu verändern; aber es ist klar, dass Gewerkschaftsarbeit verändert werden muss – sie muss näher an die Menschen heran, beweglicher werden und auf eine gewisse Weise auch mutiger als sie es bisher war.

Agieren Gewerkschaftsmitglieder, die Kontakt mit dem 15M hatten, seitdem anders?

Als Gewerkschafterin, egal ob an der Basis oder im Vorstand, ist es zentral zu verstehen, was sich in der Gesellschaft und bei den ArbeiterInnen tut, um sie überhaupt gut vertreten zu können. Ich habe wie viele andere an vielen Asambleas (Versammlungen) der Bewegung teilgenommen.

Am Anfang war die Bewegung 15M für viele GewerkschafterInnen ein Schock. Es gibt ja unter den GewerkschafterInnen bei den CCOO sehr unterschiedliche Leute: Manche sind ideologisch geschult und haben klare Vorstellungen. Andere sind den CCOO beigetreten, weil sie schlimme Arbeitsbedingungen haben und daran ganz unmittelbar etwas verändern wollen, haben aber keine klare Vision davon, wie und in welche Richtung dies geschehen soll. Gerade für letztere waren die neuen Bewegungen etwas völlig Unerwartetes, was sie sich vorher nicht hatten vorstellen können und was ihre Art, gewerkschaftlich aktiv zu sein, stark beeinflusste. Das war sicherlich eine positive Erfahrung. Dennoch: Die Praxis bleibt weitgehend die gleiche, auch bei jenen, die stark vom 15M beeindruckt waren: Es bleibt ihnen nichts anderes übrig: Alle vier Jahre gibt es Betriebsratswahlen, die musst du gewinnen, nicht aus Machtgier, sondern weil du nur dann Kollektivverträge aushandeln kannst. Nur so kannst du verhindern, dass von den Unternehmern gesteuerte „gelbe“ Gewerkschaften die Macht übernehmen und das Unternehmen praktisch mit sich selbst verhandelt. Um solche Dinge auf Dauer zu gewährleisten, eine hohe Kohärenz in der Gewerkschaftsarbeit zu erreichen und Kräfte zu bündeln, braucht es einen gewissen Organisationsgrad. Zudem dürfen wir auch nicht die Leute verraten, die Mitglieder geworden sind, alltäglich in der Gewerkschaftsarbeit aktiv sind, sich den Wahlen stellen und ein bestimmtes Programm vertreten. Sie sichern Kontinuität, eine Bewegung kann das nur zeitweilig. Insgesamt hatte der 15M aber einen sehr positiven Einfluss auf die Gewerkschaftsarbeit. Es entstand viel Neugier, mal über den eigenen Tellerrand hinaus zuschauen, andere Situationen kennenzulernen und das eigene Handeln zu überdenken. Nicht nur Gewerkschaftskader, sondern auch viele Leute in ihrem Umfeld haben sich geändert, sich mehr eingemischt und informiert und versucht, vieles besser zu machen. Die Gewerkschaften sind kämpferischer geworden. Solange wir die einzige Option der Organisierung waren, konnten wir es uns leisten, mittelmäßig zu sein. Wenn aber alles in Bewegung ist, müssen wir so gut wie möglich sein, um zu überleben und werden auch von unserem Umfeld mehr herausgefordert. Einmal so richtig durchgeschüttelt zu werden, ist ja für alle gut.

Warum gibt es Spannungen und Konflikte zwischen Gewerkschaften, Parteien und sozialen Bewegungen?

Die Herrschenden wollen nicht, dass wir über die Zeit hinweg Kräfte bündeln und die etablierte Macht herausfordern. Sie tun alles dafür, diese Nicht-Politik wieder durchzusetzen, mit der alle Probleme als individuelle erscheinen, und auch die Kämpfe individualisiert werden. Solche Spannungen sind im Interesse der Gegenseite und werden von ihr geschürt. Wenn wir von den 99% sprechen, dann gibt es eben auch dieses eine Prozent, das daran interessiert ist, dass die 99% gespalten bleiben, auch in der Frage, wie wir uns organisieren. Die spontane Bewegung des 15M entstand zwar mit viel Kraft – aber sie hat sie auch wieder verloren und zwar gerade zu dem Zeitpunkt, als versucht wurde, gemeinsame Ziele zu definieren.

Viele Ideen sind in diesem Strudel der Unruhe entstanden und vieles ist auch durcheinander geraten. Plötzlich sagen Leute, ich bin nicht rechts und nicht links, aber die Frage der öffentlichen Gesundheitsversorgung ist nicht unabhängig davon, auch nicht davon, ob du für die Interessen der Privatunternehmen oder für die Gesundheitsversorgung der BürgerInnen eintrittst. Sie drücken damit ihre Distanz zur „politischen Klasse“ aus. Viele fordern, die PolitikerInnen sollten nichts verdienen, Politik als Ehrenamt – doch könnten dann nur die Reichen PolitikerInnen werden. Und auch wenn sie nichts verdienen, aber dafür die öffentliche Gesundheit privatisieren, kann ich nicht einverstanden sein. Derzeit werden viele Themen breit politisch diskutiert, die absolut zweitrangig sind. Die Aufregung über die himmelschreiende Korruption und die Gehälter der Politiker lenkt ab davon, welche Entscheidungen sie für wen fällen. Wir wollen uns die Politik wieder aneignen, von links.

Diese Art von leeren Diskursen betrifft auch die Gewerkschaften. Manche Leute sagen: Wenn der Staat die Gewerkschaften nicht cofinanzieren würde, könnten sie freier agieren. Das können aber nur Leute sagen, die nicht Gewerkschaftsmitglieder sind. Sie fordern, dass die Gewerkschaften sich allem widersetzen und die gegen die ArbeiterInnen gerichtete Politik stoppen – aber all dies ohne Ressourcen und ohne Mitgliedschaft! Meines Erachtens sind viele Konflikte Scheingefechte: Wenn es Irrtümer in der Gewerkschaftspolitik gibt – und die gibt es, wie können sie geändert werden? Indem die Leute teilnehmen: Wenn deine Vertreter nicht deine Forderungen vertreten oder nicht so ehrlich sind, wie du das erwartest, dann präsentiere dich das nächste Mal bei den Wahlen, um es besser zu machen. Es gibt oft diese Haltung etwas einzufordern, ohne selbst etwas für die Veränderung zu tun. Selbstverständlich wissen wir auch um unsere Irrtümer und verteidigen auch nicht blind die Partei der Vereinigten Linken, von der wir wissen, dass sie mehr als einen Irrtum begangen hat. Irrtümer zu diskutieren gehört gerade zu unserem täglich Brot. In der derzeitigen Kongressvorbereitung sprechen wir viel darüber: Die Strukturen müssen verändert werden ebenso wie die Abhängigkeit von öffentlichen Geldern.

Welche Beziehungen gibt es zwischen der Izquierda Unida (Parteienbündnis der Vereinigten Linken) und den CCOO?

Sicher gab es ursprünglich eine enge Beziehung zwischen den CCOO und der PCE (Kommunistische Partei Spaniens, als größter Partei innerhalb der IU). Heute gibt es aber keine formelle Beziehung mehr, anders als bei der UGT (dem anderen großen Gewerkschaftsdachverband) mit der PSOE (der Sozialistischen Partei). Dennoch zeigt sich die IU von allen Parteien am aufgeschlossensten gegenüber den Problemen der Arbeitenden, das gilt für ihr Programm und auch für ihre direkte Beteiligung in gewerkschaftlichen Kämpfen. Viele der älteren Gewerkschaftsmitglieder haben sich in den letzten Jahren parteipolitisch umorientiert – früher waren die meisten in der PCE. Bei den Jüngeren ist die große Mehrheit entweder direkt Parteimitglied der IU oder steht ihr zumindest nahe. Die IU ist einfach auch am präsentesten in unserer Arbeit. Sie öffnet politische Räume für uns und übernimmt Forderungen, ist in ihrer programmatischen Ausrichtung uns am nächsten. Wir haben also gute Beziehungen, sind aber nicht parteigebunden.

Entscheidend ist für alle GewerkschafterInnen, sich aktiv an politischen Prozessen zu beteiligen, sei es in den Parteien, im Stadtteil oder in der Gewerkschaft. Manche Leute engagieren sich nur in der Gewerkschaft. Eigentlich können wir es uns aber nicht leisten, in dieser Hinsicht Spezialisten zu sein. Die soziopolitische Rolle der Gewerkschaften ist unverzichtbar. Wenn wir uns etwa für Bildung einsetzen, dann geht es nicht nur darum, die Arbeitsrechte der dort Beschäftigten zu verteidigen, sondern um die Frage, wie wir eine Gesellschaft schaffen können, in der sich Leute frei entscheiden können. Wenn es um den Gesundheitssektor geht, dann fordern wir auch gleiche Zugänge zur Gesundheitsversorgung für alle.

Kannst Du uns etwas über die Forderungen der Bergarbeiter und deren Marsch nach Madrid im Sommer 2012 sagen?

Der Bergbausektor ist hier in Madrid ja gar nicht vertreten. Dennoch hat uns die Lage der Bergarbeiter im Sommer alle bewegt, es haben sich sogar viele solidarisiert, die sich sonst wenig für die Situation von ArbeiterInnen interessieren. Die harten Arbeitsbedingungen haben viele beeindruckt, aber auch die Situation der Prekarisierung und die Zerstörung ganzer Dörfer und Kleinstädte, die vom Bergbau ökonomisch abhängen. In Madrid kommen ja alle aus irgendeiner Region und jeder hat auch irgendeinen Kontakt dahin.

Die CCOO überlegte, ein unbefristeter Streik war riskant, weil die Verhandlungen mit der Regierung nicht absehbar waren und vielleicht in einigen Monaten noch ganz andere Probleme dazukommen würden. Deshalb kamen wir auf die Idee, aus dem ganzen Land Demonstrationen zu organisieren, um den Protest auch wirklich sichtbar zu machen. Am Ende waren kamen alle vor dem Museo del Prado in Madrid zusammen und das Problem wurde sichtbar. Über die 15 Tage des Marsches wurde in allen Medien über das Problem der Minenarbeiter und Bergbauregionen diskutiert. Die Bergarbeiter nahmen diese Idee auf: Sie änderten ihre Strategie und wir konnten uns in diesem kampfstarken Sektor besser verankern. Gemeinsam entschieden wir uns für einen unbefristeten Streik. Eine absolut außergewöhnliche Maßnahme, die Mut verlangt. Die Situation ist verfahren. Ich frage mich oft, welche Lösung es geben kann. Man muss verstehen, woher das Problem kommt: Die Minenbesitzer kassierten enorme Subventionen, nutzten diese aber nicht, um den Sektor zu modernisieren und alternative Beschäftigungsmöglichkeiten aufzubauen, obwohl klar war, dass insbesondere der Kohleabbau weder ökologisch noch ökonomisch eine Zukunft hat. Der Subventionssumpf sorgt für Korruption und hohe Profite für wenige. Für Bergarbeiter ist es schwer, nach 25 Jahren Minenarbeit eine andere Arbeit zu finden – meist gibt es in der Region kaum andere Möglichkeiten. So sitzen sie mit den Unternehmern ‘in einem Boot’ und sind gezwungen, für die Aufrechterhaltung der Subventionen zu streiten, um überhaupt eine Zukunft zu haben. Unsere Rolle darin ist kompliziert: Wir können nicht viel mehr tun, als sie zu unterstützen, um ihre Situation und die rigide Haltung der Regierung in den Verhandlungen sichtbar zu machen. Letztendlich mussten die Bergleute nachgeben und wieder an die Arbeit zurückkehren. Es ist schwer, sich von solchen Niederlagen nicht demotivieren zu lassen. Vielleicht haben wir zumindest bestimmten Entwicklungen Einhalt geboten. Und man kann die Mobilisierung selbst als Erfolg werten, weil so Widerstand geprobt wird. Es bedarf einer Förderung eines sozial-ökologischen Umbaus der Energieproduktion, alternativer Produktion und Investitionen in öffentliche Infrastrukturen mit mehr Beschäftigung. Die Regierung kürzt nur, alternativlos.

 

Das Gespräch führte Lara Hernández. Aus dem Spanischen von Susanne Schulz