| Alle Artikel von Bernd Belina

| HKWM-Stichwort: Miete

Juli 2019
Von Bernd Belina (zuerst in HKWM 9/I, 2018, Spalten 858-870)

M wird im deutschsprachigen Raum v.a. mit Wohnungs-M in Verbindung gebracht. Das fundamentale Bedürfnis nach Wohnraum kann im Kapitalismus nur durch Kauf oder Erbe von Wohneigentum oder durch M befriedigt werden. Mietwohnverhältnisse erzeugen bes. bei der städtischen Bevölkerung regelmäßig soziale Probleme, angefangen beim knappen Angebot über die Belastung des Haushaltseinkommens oder die erzwungene Mobilität bis hin zur Wohnungs- bzw. Obdachlosigkeit (die auch überschuldete Wohneigentümer treffen kann). Dies führt immer wieder zu Protesten und politischer Organisierung.
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| Armut relativieren mittels Raum

Mai 2017
Von Bernd Belina

Zur räumlichen Dimension der Armutsgefährdung im „Fünften Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung“

Im Fünften Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung (Bundesministerium für Arbeit und Soziales 2017; im Folgenden: 5. ARB) wird auf gut 15 Seiten auch explizit die räumliche Dimension der Verteilung und Entwicklung der „Armutsgefährdung“ (zur Kritik dieser Operationalisierung vgl. Sablowski 2017) diskutiert. Nur dies wird im Folgenden im Lichte einer kritisch-materialistischen Raumtheorie (vgl. Belina 2013) einer knappen Kritik unterzogen, nicht – was nötig und grundsätzlich wäre – die Armutsberichterstattung überhaupt (vgl. Frieling 2009). Die räumlich differenzierte Betrachtung von Armut (wie auch von Reichtum) hat einerseits große Vorteile: Sie hilft dabei, sofern tauglich durchgeführt, zu „erkennen, welche problematischen Strukturen oder Entwicklungen sich unter Bundes- oder Landesdurchschnitten verbergen“ (Martens 2011: 163; vgl. zur Wohnungsfrage im 5. ARB: Schipper 2017), und sie erlaubt es „den Zusammenhang von regionaler Wirtschaftsentwicklung und Armut deutlich zu machen, der gerne übergangen wird“ (ebd.). Gleichwohl geht eine räumlich differenzierte Betrachtung von Armut stets mit der Gefahr der ihrer Relativierung einher, was sie zur Legitimation des weiteren Sozialstaatsabbaus machen kann (ebd.: 164-166). Eben dies, so die zentrale These im Folgenden, geschieht im 5. ARB – wenn auch weitgehend offen und daher gut erkennbar.

Es ist kein Zufall, dass es das Kapital-nahe Institut der deutschen Wirtschaft (IW) in Köln war, das in den letzten Jahren eine regionalisierte Betrachtung von Armut besonders medienwirksam (Eckert 2017; beb 2017) gepusht hat. Durch eine Berücksichtigung der Lebenshaltungskosten sind es in dieser Betrachtung vor allem westdeutsche Städte (mit hohen Mieten), in denen die Armutsgefährdung besonders ausgeprägt ist, nicht mehr ostdeutsche und/oder ländliche Regionen (Röhl/Schröder 2016). Deshalb solle „Regionalförderung […] zukünftig kleinräumiger und zielgerichteter erfolgen“ (ebd.: 3), wozu ein Fokus auf Individuen und Gruppen (statt Regionen) sinnvoll sei. Nur die stärkere Einbeziehung „personenbezogener“ (Röhl 2016: 1) und „zielgruppenspezifischer“ Maßnahmen (ebd.: 3), so die IW-Autoren, ermögliche es, „betroffene Menschen in die Lage zu versetzen, durch eigene Tätigkeit ihre wirtschaftliche und damit auch soziale Situation zu verbessern“ (ebd.: 1), anstatt mittels „umverteilender Sozialpolitik“ (ebd.) Geld zu verschwenden und Abhängigkeiten zu verhärten. Auf die IW-Studie von Röhl und Schröder (2016) wird auch im 5. ARB positiv bezuggenommen (Bundesministerium für Arbeit und Soziales 2017: 155) – so wie die Ausführungen zur räumlichen Dimension der Armutsgefährdung insgesamt vor allem in Richtung einer Relativierung von Armut mittels Raum gehen.

Zunächst aber stellt der 5. ARB – in Einklang mit der einschlägigen Forschung – fest, dass die räumlichen Ungleichheiten der Lebenslagen im Bundesgebiet auf allen Maßstabsebenen stark ausgeprägt sind und zunehmen. Bei kleinräumigen Unterschieden der Armutsgefährdung wird dabei zu Recht betont, dass „auch das Umland der Großstädte einzubeziehen [ist]“ (Bundesministerium für Arbeit und Soziales 2017: 148), wodurch sich die deutliche Konzentration des Reichtums im Umland von z.B. Hamburg, Frankfurt am Main, Stuttgart oder München zeigt. Wie der Geograph Neil Smith vor 30 Jahren (1987: 64) betonte: „Wenn man Elemente von einer räumlichen Maßstabsebene aus betrachtet, sieht man das eine Muster (oder das Fehlen eines Musters), wenn man es von einer anderen räumlichen Maßstabsebene aus betrachtet, sieht man ein anderes.“ Beispielsweise kommen so die in der funktionalen Region Frankfurt/Rhein-Main jedem*r Bewohner*in bekannten Unterschiede zwischen der Armut in den westlichen Stadtteilen und dem Reichtum sowohl im Frankfurter Westend als aber eben auch in den Umlandstädte Königstein und Kronberg erst durch die regionale Betrachtung in den Blick. Auch im Unterkapitel „Sozioökonomische Disparitäten zwischen Regionen“ wird für die Unterschiede zwischen Landkreisen bzw. Kreisfreien Städten auf Bundesebene gezeigt: „Die beiden Kennzahlen Bruttoinlandsprodukt je Erwerbstätigen und Arbeitslosenquote illustrieren, dass sozioökonomische Disparitäten in Deutschland deutlich ausgeprägt sind.“ (Bundesministerium für Arbeit und Soziales 2017: 152)

Solche räumlichen Ungleichheiten sind und bleiben ein Skandal. Dem ist nicht nur so wegen des im Grundgesetz Art. 72 Abs. 2 genannten Ziels der „Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse im Bundesgebiet“ (auf das im 5. ARB verwiesen wird; Bundesministerium für Arbeit und Soziales 2017: 151), und auch nicht nur, weil räumliche Ungleichheit in „abgehängten Regionen“ und in „abgehängten Stadtteilen“ zu Gefühlen der Benachteiligung und der Nicht-Repräsentation führen kann, was Wahlerfolge von AfD und NPD begünstigen kann (vgl. Belina 2017), sondern dem ist vor allem so, weil die individuellen Möglichkeiten der Lebensgestaltung einzig und allein durch den Wohnort stark (mit-) geprägt werden. Auch letzteres wird, in abgeschwächter Formulierung, im 5. ARB anerkannt, auch hier ist der aktuelle ARB „weniger blauäugig und einseitig ausgefallen […] als seine Vorgänger“ (Butterwegge 2017: 24): „Aufstiegschancen und andere Teilhabefaktoren hängen auch von der Wohnregion ab.“ (Bundesministerium für Arbeit und Soziales 2017: 161) Das könnte auch der eigentliche Inhalt der zum „leeren Signifikanten“ (Mießner 2017) verkommenen Formulierung von der „Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse“ sein: politisch anzustreben, dass soziale Verhältnisse nicht zusätzlich zu all den durch kapitalistische Produktionsweise, patriarchale Geschlechterverhältnisse und rassistische Ein- und Ausschlüsse sowie deren neoliberale Regierung verursachten Ungleichheiten auch noch durch die nackte Lage im Raum verstärkt werden.

Doch in diese Richtung geht der 5. ARB gerade nicht weiter. Stattdessen erfolgen Relativierungen mittels Raum. Erstens wird der o.g. Bezug des Armutsrisikos auf die Lebenshaltungskosten des Instituts der Wirtschaft aufgegriffen und im Anschluss daran davon geschrieben, dass sich bei dieser Betrachtung das „Verhältnis zwischen den Regionen angleicht“ (Bundesministerium für Arbeit und Soziales 2017: 155). Zweitens werden unterschiedliche räumliche Maßstabsebenen der Berechnung genutzt. Solche strategischen Bezugnahmen auf je spezifische räumliche Scales (räumliche Maßstabsebene), um einen gewünschten Zusammenhang belegen zu können, bezeichnet Hilda Kurtz (2003) als Scale Frames. An anderer Stelle diskutiere ich die bei jeder räumlichen Betrachtung gegebene Möglichkeit durch geschickte Wahl von Scale Frames Interessen durchzusetzen als die erste zentrale Leistung der Raumform Scale (Belina 2013: 102f.). Immerhin wird im 5. ARB nicht einfach jener Scale Frame gewählt, der Armutsgefährdung am niedrigsten erscheinen lässt. Stattdessen werden verschiedenen Möglichkeiten der Berechnung vorgestellt, was einerseits transparent erscheint, andererseits den Eindruck vermittelt, dass es eben so oder so sein könne. Zu den Unterschieden der Armutsgefährdungsquote zwischen den 95 Raumordnungsregionen, die auf Basis von Pendlerströmen von der Bundesraumordnung berechnet werden und aus mehreren Landkreisen bestehen, heißt es: „Legt man 60 Prozent des Medianwerts der 95 Raumordnungsregionen zu Grunde, schwanken die Armutsrisikoquoten zwischen 10 und 18 Prozent. Beim Landesmedian sind es schon zwischen 10 und 24 Prozent, bei Zugrundelegung des einheitlichen Schwellenwertes für Deutschland zwischen 8 und 33 Prozent.“ (Bundesministerium für Arbeit und Soziales 2017: 156) Je nachdem, welcher Schwellenwert für „Armutsgefährdung“ von welcher räumlichen Maßstabsebene verwendet wird, schwankt also der Anteil der „Armen“. „So richtig sagen“, so könnte diese Strategie gelesen werden, „kann man es eben nicht.“ Und dann wird es schon auch nicht so schlimm sein. Dies wird auf die Spitze getrieben durch den Vergleich mit anderen EU-Staaten (Bundesministerium für Arbeit und Soziales 2017: 157-161). Dort ist etwa zu erfahren, dass das Einkommen (in Kaufkraftstandards) der ärmsten 20% der deutschen Bevölkerung nur wenig unter jenem der reichsten 20% in Rumänien liegt (ebd.: 159). Immerhin wird betont, dass der wiederum ärmere Teil der 20% einkommensschwächsten Bewohner*innen Deutschlands zu den einkommensschwächsten 20% der EU zählen, „obwohl Deutschland eines der wohlhabenderen EU-Länder ist“ (ebd.).

Politische Folgerungen in Bezug auf den Abbau räumlicher Disparitäten fehlen im 5. ARB ganz, sowohl in Bezug auf Armut und Reichtum von Individuen und Haushalten als auch in Bezug auf die durch die öffentliche Haushaltslage bestimmten Möglichkeiten von Ländern und Kommunen etwa Infrastrukturen zu finanzieren. Die Veränderungen der Regionalpolitik von Bund, Ländern und EU, der Umbau des Finanzausgleich zwischen den Ländern sowie zwischen den Kommunen innerhalb der Länder, die räumlich ungleichen Auswirkungen bundespolitischer Entscheidungen in Bezug auf z.B. Bankenrettung oder die Sozialgesetzgebung, der ruinöse kommunale Gewerbesteuerhebesatzabsenkungswettbewerb sowie insgesamt der schrittweise Abschied vom räumlichen Ausgleichsziel zugunsten der Entfachung der Konkurrenz zwischen Stadtteilen, Städten, Regionen und Bundesländern werden mit keinem Wort erwähnt. Dabei wäre eben hier anzusetzen, sollten der Skandal, dass hierzulande die individuellen Möglichkeiten der Lebensgestaltung einzig und allein durch den Wohnort stark (mit-) geprägt werden, angegangen werden. Ein Ausgleich räumlicher Unterschiede durch Marktkräfte, wie ihn neoklassische Regionalwirtschaftstheorien unterstellen, findet im Kapitalismus gerade nicht statt. Das stellt auch der 5. ARB fest: „Dass sich regionale Disparitäten von Armut und Reichtum von selbst nivellieren, ist nicht wahrscheinlich.“ (Bundesministerium für Arbeit und Soziales 2017: 161) Ganz im Gegenteil ist räumlich ungleiche Entwicklung eines der Wesensmerkmale des Kapitalismus (vgl. Harvey 1982), die nur – und nur begrenzt – durch politische Maßnahmen der Investitionslenkung und der Umverteilung begrenzt werden können. Eben diese aber fehlen im 5. ARB.

 

Literatur

  • beb (2017): Armutsquote ist in westdeutschen Großstädten am höchsten. Spiegel Online; www.spiegel.de/wirtschaft/soziales/deutschland-armutsquote-besonders-hoch-in-westdeutschen-staedten-a-1136449.html; letzter Zugriff 03.05.2017.
  • Belina, Bernd (2013): Raum. Münster: Westfälisches Dampfboot.
  • Belina, Bernd (2017): Zur Geographie der Abstiegsgesellschaft. Der Aufstieg der Rechten – Anmerkungen zu Oliver Nachtwey und Didier Eribon. In: PROKLA 47(1): 97-104.
  • Bundesministerium für Arbeit und Soziales (2017): Lebenslagen in Deutschland. Der Fünfte Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung. Berlin: Bundesministerium für Arbeit und Soziales.
  • Butterwegge, Christoph (2017): Daten statt Taten? Anmerkungen zu den Armuts- und Reichtumsberichten der Bundesregierung. In: Sozialismus (43)2: 19-25.
  • Eckert, Daniel (2017): Kaufkraftarmut ballt sich in westdeutschen Städten. Die Welt; www.welt.de/wirtschaft/article162392927/Kaufkraftarmut-ballt-sich-in-westdeutschen-Staedten.html; letzter Zugriff 03.05.2017.
  • Frieling, Hans-Dieter von (2009): Armut und Agenda 2010 in Göttingen: ein kritischer Armuts- und Reichtumsbericht. Göttingen: Geographisches Institut der Georg-August-Universität.
  • Harvey, David (1982): The Limits to Capital. Oxford: Blackwell.
  • Kurtz, Hilda E. (2003): Scale frames and counter-scale frames: constructing the problem of environmental injustice. In: Political Geography 22(8): 887-916.
  • Martens, Rudolf (2011): setzt sich in einem Beitrag mit der „Armutsberichterstattung und Regelsatzanpassung für Ballungsräume: das Beispiel München. In: Belina, Bernd; Norbert Gestring, Wolfgang Müller, Detlev Sträter (Hrsg.): Urbane Differenzen. Disparitäten innerhalb und zwischen Städten. Münster: Westfälisches Dampfboot: 163-185.
  • Mießner, Michael (2017): Staat – Raum – Ordnung. Zur raumordnungspolitischen Regulation regionaler Disparitäten. Münster: Westfälisches Dampfboot.
  • Röhl, Klaus-Heiner (2016): Regionale Wirtschaftsstrukturen und Armutsgefährdung. IW-Kurzberichte 77.2016. Köln: Institut der deutschen Wirtschaft.
  • Röhl, Klaus-Heiner / Schröder, Christoph (2016): Welche Regionen sind in Deutschland besonders von Armut betroffen? IW-Kurzberichte 49.2016. Köln: Institut der deutschen Wirtschaft.
  • Sablowski, Thomas (2017): Die Armut des Armuts- und Reichtumsberichts. LuXemburg-online.
  • Schipper, Sebastian (2017): Wie die Wohnungsfrage hinter Durchschnittswerten verschwindet. Das Thema Wohnen im fünften Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung von 2017. LuXemburg-online.
  • Smith, Neil (1987): Dangers of the Empirical Turn: Some Comments on the CURS Initiative. Antipode 19(1): 59-68.