| Bedingt selbstbestimmt. Warum der Kampf um Schwangerschaftsabbruch erst begonnen hat

September 2018  Druckansicht
Von Kate Cahoon

Als in dem katholisch geprägten Land am 
25. Mai 2018 eine überwältigende Mehrheit für die Streichung des quasi totalen Abtreibungsverbotes aus der Verfassung stimmte, sprach der irische Premierminister von einer »stillen Revolution«. Doch die Freudentränen und der laute Jubel in den Straßen von Dublin erzählten eine andere Geschichte: Seit 35 Jahren demonstrieren und kämpfen Aktivist*innen gegen das Abtreibungsverbot. Die emotional geführte Debatte hat das Land gespalten – die Gegner der Liberalisierung arbeiteten mit Schreckbildern und Fehlinformationen. Wir waren also weniger Zeug*innen einer stillen Revolution als eines langen, lauten und hart geführten Kampfes um sexuelle Selbstbestimmung.

Ob in Irland, Spanien, Polen oder Deutschland – in Europa wie in der ganzen Welt sind sexuelle und reproduktive Rechte keine Selbstverständlichkeit, sondern immerwährend umkämpft. Im katholischen Lateinamerika gehen regelmäßig Hunderttausende gegen das Recht auf Abtreibung auf die Straße. In Polen hat es seit Amtsantritt der rechten PIS-Regierung bereits zwei Versuche gegeben, das restriktive Abtreibungsverbot abermals
zu verschärfen. In Spanien konnte 2014 nur durch massive Proteste verhindert werden, dass ein erst vier Jahre zuvor verabschiedetes liberales Abtreibungsgesetz zurückgenommen wurde. Die von der Frauenbewegung erkämpften Rechte sind in Zeiten der Krise und des Rechtsrucks wieder bedroht. Dies gilt auch und zunehmend für Deutschland, wo die lange stillgestellte Debatte neu aufflammt.

Verschwiegenes Verbot –
 die Situation in Deutschland

Dass das Thema Schwangerschaftsabbruch in der Bundesrepublik zum tagespolitischen Thema wird, war bis zum Herbst 2017 nicht vorherzusehen. Selbsternannte »Lebensschützer« drängen zwar seit einigen Jahren mit ihren Kampagnen gegen Schwangerschaftsabbrüche in die Öffentlichkeit, doch eine breite Debatte über Abtreibung hat es seit den 1990er-Jahren nicht mehr gegeben. Auch in Deutschland gibt es eine lange und bewegte Geschichte
des feministischen Kampfes für das Recht
auf Abtreibung, mit Höhepunkten in den 1920er- und 1970er-Jahren. Die Beratungsregelung, die 1995 nach der Wiedervereinigung eingeführt wurde, gilt im Mainstream als historischer Kompromiss, der nicht anzutasten sei. Dabei stellte sie eine wesentliche Verschlechterung gegenüber der Rechtslage
in der ehemaligen DDR dar und verschleiert die Tatsache, dass ein Abbruch nach den bis heute gültigen Paragrafen 218 und 219 im Strafgesetzbuch (StGB) verboten ist. Er bleibt nur straffrei bei medizinischer Indikation oder wenn er innerhalb der ersten drei Monate und nach einer Pflichtberatung durchgeführt wird. Damit wurde das Thema gesellschaftlich ad acta gelegt, in der Annahme, es gäbe in Deutschland ein Recht auf Schwangerschaftsabbruch und eine ausreichende medizinische Versorgung.

Doch aufgrund der Paragrafen 218
und 219 im StGB bewegen sich ungewollt Schwangere, die abtreiben wollen, wie auch Ärzt*innen in einer Grauzone der Legalität. Die Ärztin Kristina Hänel wurde im November 2017 zu einer Geldstrafe verurteilt, weil sie auf ihrer Webseite Informationen zu Schwangerschaftsabbrüchen bereitgestellt hatte: § 219a stellt die »Werbung für den Abbruch der Schwangerschaft« unter Strafe und damit das »Anbieten«, »Ankündigen« oder »Anpreisen« der Eingriffe aus einem finanziellen Vorteil heraus (oder in »grob anstößiger Weise«). Da alle Ärzt*innen in ihrem Beruf auch »ihres Vermögensvorteils wegen« handeln, werden sie gezielt von Abtreibungsgegner*innen angezeigt, und das immer häufiger. Zwischen 2010 und 2016 gab es mindestens zehn solcher Anzeigen,1 von denen vier zu einer Verurteilung führten. Das Verfahren gegen Hänel wurde zu einem Präzedenzfall, weil
die Ärztin bereit war, durch alle Instanzen zu gehen, und breite Unterstützung mobilisieren konnte. Die mediale Berichterstattung machte vielen erstmals bewusst, wie restriktiv die gesetzlichen Regelungen zum Schwangerschaftsabbruch und zum Zugang zu entsprechenden Informationen sind. Dass das Werbeverbot in Wirklichkeit ein Informationsverbot darstellt, das ungewollt Schwangere daran hindert, eine selbstbestimmte Entscheidung zu treffen, ist inzwischen auch im liberalen bürgerlichen Spektrum angekommen. Laut Umfragen wird diese Einschätzung inzwischen von einer Mehrheit der Bevölkerung geteilt (vgl. Schaible 2018). Für eine Streichung von § 219a scheint es aber aktuell keinen parlamentarischen Spielraum zu geben. Nach dem politischen Rückzieher der SPD wird ein mit der CDU/CSU erarbeiteter Kompromiss vermutlich zu keinen zufriedenstellenden Ergebnissen führen.

Durch die gesamte Debatte wurde einmal mehr deutlich, dass wichtige Positionen der sogenannten Lebensschutzbewegung im Bundestag vertreten sind, und zwar nicht nur durch die AfD, sondern auch von Teilen der CDU/ CSU. Der organisierte »Lebensschutz« ist eine durchaus heterogene Bewegung, die aber im Kern von christlichen Fundamentalist*innen und zunehmend von Parteien und Organisationen der »Neuen Rechten« mitgetragen wird. Die Argumente der CDU/CSU unterscheiden sich kaum von den Positionen radikaler Abtreibungsgegner*innen und der AfD. Mit dem Erstarken des rechtskonservativen Flügels der Union sind nun mehrere prominente Lebensschützer*innen im Kabinett vertreten, darunter Gesundheitsminister Jens Spahn, sodass eher mit Angriffen auf reproduktive Rechte und dem Versuch einer Verschärfung der Gesetzeslage zu rechnen ist.

Tabuisierung und Sichtbarkeit

Zugleich hat die öffentliche Debatte zu § 219a gezeigt, wie stark Schwangerschaftsabbrüche nach wie vor tabuisiert werden. Die Aktion »Wir haben abgetrieben!« auf der Titelseite des Stern von 1971 wirkt heute erstaunlich zeitgemäß. Sie wurde von der tageszeitung 2018 aktualisiert und mit Ärzt*innen, die Abbrüche durchführen, auf § 219a zugeschnitten. Erfahrungsberichte können heute leicht in den sozialen Medien geteilt werden: Im englischsprachigen Raum hat sich der Hashtag #shoutmyabortion etabliert. Mit der Fotokampagne des Bündnisses für sexuelle Selbstbestimmung hat die Forderung #wegmit219a auch den Mainstream erreicht: Die Protestbilder von Menschen mit zugeklebtem Mund werden von den Medien seither regelmäßig genutzt. Dies ist ein nicht zu unterschätzender Erfolg, denn bislang dominierten die eher reaktionären und stigmatisierenden Bilder der Abtreibungsgegner*innen, etwa von Föten, dem Bauch einer Hochschwangeren oder Märschen mit Kreuzen. Die Bildhoheit auf dem Gebiet der sexuellen und reproduktiven Selbstbestimmung zu erlangen ist ein bedeutsamer Schritt Richtung Enttabuisierung (vgl. Mattes 2018).

Dass diese Stigmatisierung sogar rechtlich gewollt ist, ist eine wichtige Erkenntnis seit der Verurteilung von Hänel. Die Begründung der vorsitzenden Richterin lautete, dass der Gesetzgeber nicht wolle, »dass über den Schwangerschaftsabbruch in der Öffentlichkeit diskutiert wird, als sei es eine normale Sache«. Die Gesellschaft für Freiheitsrecht, die Kristina Hänel aktuell in ihrem §219a-Verfahren unterstützt, betont, dass das Informationsverbot – anders als das Verbot des Schwangerschaftsabbruchs – nicht unmittelbar dem Schutz des ungeborenen Lebens dienen soll, sondern eine Normalisierung und Kommerzialisierung von Schwangerschaftsabbrüchen verhindern und »die gesellschaftliche Haltung zu Abtreibungen beeinflussen« soll. Der Kampf für die Streichung von § 219a ist darum ein wichtiger Schritt gegen die Stigmatisierung und Tabuisierung von Schwangerschaftsabbrüchen und damit auch für deren Entkriminalisierung, also die letztendliche Streichung des § 218 aus dem Strafgesetzbuch.

Für die Streichung des § 219a gibt es unter dem Motto »Informationsfreiheit« offenbar einen breiten gesellschaftlichen Konsens. Zugleich kann in der Debatte darüber ein neues gesellschaftliches Bewusstsein entstehen, das dazu führt, dass das gesamte Rechtskonstrukt der § § 218 und 219 hinterfragt wird. So kommen immer weitere Aspekte der Problematik ans Licht, etwa der Mangel an Ärzt*innen
in manchen Regionen Deutschlands, die Schwangerschaftsabbrüche durchführen, und die Tatsache, dass die Eingriffe nicht Teil der ordentlichen gynäkologischen Ausbildung
sind, sodass engagierte Medizinstudierende
sie in selbstorganisierten Workshops, etwa anhand von Papayas erlernen müssen. Solche »Skandale« werden erstmals in einer größeren Öffentlichkeit thematisiert. Solange Schwangerschaftsabbrüche nicht als Teil der normalen medizinischen Versorgung gelten und die Kosten hierfür von den Krankenkassen nicht regulär übernommen werden, solange sie weiterhin im Strafgesetzbuch geregelt werden, kann in Deutschland von einem »Recht« auf Schwangerschaftsabbruch und sexueller wie reproduktiver Selbstbestimmung keine Rede sein.

Forderungen des Bündnisses für sexuelle Selbstbestimmung:

  • sofortige Streichung von § 219a StGB und freier Zugang zu Informationen über die Möglichkeiten eines Schwangerschaftsabbruchs
  • uneingeschränkter Zugang zu einem legalen Schwangerschaftsabbruch und die Streichung von § 218 aus dem Strafgesetzbuch
  • umfassende Informationen über Verhütungsmittel und ein kostenfreier Zugang zu diesen
  • 
kostenfreie Vergabe der »Pille danach« als Notfallverhütung
  • Ausbildung in den Methoden des Schwangerschaftsabbruchs in den Studiengängen für Medizin
  • 
geschlechter- und kultursensible Sexualaufklärung für alle
  • umfassende rechtliche Anerkennung aller Formen des Zusammenlebens
  • 
staatliche Unterstützung in Form von sozialen und ökonomischen Leistungen und benötigter Infrastruktur für alle, die sich für ein Kind entscheiden, damit sie ihre eigene Lebensplanung aufrechterhalten können

Der Kampf geht weiter

Die künftige Gesetzgebung in Irland zu Schwangerschaftsabbrüchen dürfte progressiver ausfallen als die deutsche. Auch andere Länder innerhalb und außerhalb Europas
mit liberaleren Regelungen können Vorbild sein und zeigen, dass Erfolge möglich sind. Darum muss hierzulande weiterhin Druck aufgebaut werden, um das Informationsverbot für Ärzt*innen zu kippen und Abtreibungen zu entkriminalisieren. Aber wie? Der zentrale Faktor für den Erfolg in Irland wie auch für den Erfolg der Proteste in Spanien und Polen in den letzten Jahren war die Größe und Breite der Bewegungen, die sowohl feministische Gruppierungen und Verbände als auch klassische Massenorganisationen wie Parteien und Gewerkschaften umfassten. In Irland hatte sich der »Together-for-Yes-Kampagne« ein breites Gewerkschaftsbündnis angeschlossen, das seine Mitglieder im Vorfeld der Abstimmung mit eigenen Publikationen und Veranstaltungen mobilisierte.2 Therese Caherty von der Trade Union Campaign to Repeal the 8th Amendment (Gewerkschaftskampagne zur Streichung des achten Verfassungszusatzes) erläutert die Motivation dahinter: »Der achte Zusatz betrifft uns alle, Frauen und Männer. Die Gewerkschaftsbewegung steht für Gleichberechtigung und Solidarität. Wir glauben, dass wir keine gleichberechtigte Gesellschaft schaffen können, wenn das Recht von Frauen auf Gesundheitsversorgung eingeschränkt wird.« Auch
in Deutschland haben die Gewerkschaften – neben der GEW auch der DGB auf seinem Bundeskongress im Juli 2018 – Beschlüsse gefasst, in denen sie die Streichung von § 219a verlangen. Der Verband Evangelischer Frauen in Deutschland, der Deutsche Juristinnenbund e.V., die Bundesärztekammer und die Deutsche Gesellschaft für Allgemeinmedizin und Familienmedizin haben sich ähnlich positioniert.

Eine breite Bewegung, die von Initiativen, Parteien und Gewerkschaften getragen wird, ist nicht nur zentral, um Druck aufzubauen, damit der § 219a fällt. Sie ist auch nötig, um einen gesellschaftlichen Konsens zum Recht auf sexuelle und reproduktive Selbstbestimmung zu erreichen und damit Angriffe von rechts abzuwehren. Aus diesem Grund hat sich 2012 das Bündnis für sexuelle Selbstbestimmung gegründet. Seither organisiert das Bündnis Proteste gegen den jährlich stattfindenden bundesweiten »Marsch für das Leben« (vormals »1000-Kreuze-Marsch»). Mit dem jährlichen Aktionstag im September wird versucht, neben den anderen Protestformen ein vielfältiges, aber auch niedrigschwelliges Angebot mit einem Schwerpunkt auf Aufklärung und Solidarität mit internationalen Pro-Choice-Bewegungen zu schaffen. Mittlerweile hat das Bündnis über 40 Mitglieder. Dabei werden bewusst diverse Akteure angesprochen. Auch Massenorganisationen wie Parteien und Gewerkschaften sind grundsätzlich willkommen.

Auf den Demonstrationen sprachen Vertreter*innen der Behindertenbewegung, Migrant*innen, Gewerkschafter*innen sowie viele internationale Aktivist*innen. Ihre Geschichten und Perspektiven sind unterschiedlich und fließen in die gemeinsame Auseinandersetzung ein. Die Treffen des Bündnisses sind grundsätzlich für alle offen, um über unterschiedliche Erfahrungen, Sprachen und Herangehensweisen hinweg eine gemeinsame Stärke zu entwickeln.

Zugleich ist in Deutschland wie in anderen europäischen Ländern ein wachsender Einfluss der Bewegung für »Lebensschutz« und deren Verflechtung mit rechten Kräften zu beobachten. In Frankreich gelang es dem Front National im vergangenen Jahr, Abtreibung zum Wahlkampfthema zu machen, gemeinsam mit einer Bewegung junger Leute, die sich »Überlebende« nennen und online zu Flashmobs und Aktionen des zivilen Ungehorsams mobilisieren (vgl. Krause 2017). Ihr digitaler Auftritt ähnelt der antifeministischen Kampagne der Identitären Bewegung in Deutschland, die Frauen dazu aufruft, sich gegen die angeblich überbordende Gewalt von geflüchteten Muslimen zu wehren. Die Ideologie der »Lebensschutz«-Bewegung ist Ausdruck eines reaktionären bis extrem rechten Weltbilds: Eine »natürliche« Geschlechterordnung zementiert die heterosexuelle Ehe und Familie als Keimzelle der Gesellschaft, worin die Frau die Rolle der Hausfrau und Mutter erhält. Alles, was das Bild der alten Ordnung bedroht, wie etwa die Homo-Ehe oder Trans*Sexualität, wird aktiv bekämpft. Die AfD fordert in ihrem Grundsatzprogramm eine »Willkommenskultur für Neu- und Ungeborene« und die Erhöhung der Geburtenrate von »deutschstämmigen Frauen«, um das »Überleben« des deutschen Volkes zu sichern. Feministische Kämpfe mit Antirassismus und dem Kampf gegen rechts zu verbinden, bleibt deswegen eine zentrale Aufgabe der Bewegung und der Proteste gegen Abtreibungsgegner*innen in Deutschland und auf europäischer Ebene. Denn es wird deutlich: Hier stehen die Freiheitsrechte von vielen auf dem Spiel.

Gute Bedingungen und
 Wahlfreiheit für alle

In den USA werden antirassistische feministische Praxen rund um das Thema sexuelle Selbstbestimmung häufig unter dem Begriff »reproduktive Gerechtigkeit« subsumiert, wobei das uneingeschränkte Recht auf Schwangerschaftsabbruch hier nicht der alleinige Fokus ist. Für viele insbesondere indigene und schwarze Frauen* geht es nämlich nicht nur um das Recht auf den Abbruch ungewollter Schwangerschaften, sondern angesichts von Rassismus und eugenischer Bevölkerungspolitik vielerorts auch um das Recht, Kinder zu bekommen (vgl. Fried 2017). Darüber hinaus sind es auch in Deutschland regelmäßig soziale Gründe, die für einen Abbruch angegeben werden: befristete Arbeitsverhältnisse, Wohnraummangel, Armut. Insofern schließt reproduktive Gerechtigkeit auch das Recht aufs Kinderkriegen ein und thematisiert somit, dass es bestimmter gesellschaftlicher und sozialer Bedingungen bedarf, damit es tatsächlich für alle, die es wollen, möglich wird, Kinder zu bekommen und großzuziehen. Die Notwendigkeit, gesellschaftliche Rahmenbedingungen für Kinder und Eltern zu verbessern, wird von den »Lebensschützern« häufig als Scheinargument gegen Abtreibung benutzt.

Sie fokussieren jedoch allein auf den Schutz »des ungeborenen Lebens«, wobei ihnen die Konsequenzen für ungewollt Schwangere völlig gleichgültig sind. Darum ist es unsere Aufgabe als Linke, diesen Widerspruch zu thematisieren und politische Forderungen zu entwickeln, die vernünftige soziale und gesellschaftliche Absicherung beinhalten, unter anderem gute Arbeitsverhältnisse sowie Wohn- und Lebensformen, Maßnahmen zur Entprekarisierung, mehr Beratung, Kitaplätze und Bildungsangebote sowie gute Strukturen für Menschen mit Behinderung und vieles mehr. Außerdem ist es wichtig, sich mit weiteren Aspekten der sexuellen und reproduktiven Selbstbestimmung zu befassen, zum Beispiel mit dem kostenlosen Zugang zu Verhütungsmitteln und medizinischer Versorgung für alle, einschließlich geflüchteter Frauen und LGBTI*-Menschen.

Auf diese Weise kann dem Missverständnis entgegengewirkt werden, es handele sich allein um eine Frage von individueller Autonomie und Abwehrrechten gegenüber dem Zugriff des Staates. Es geht auch um die notwendigen gesellschaftlichen Bedingungen für wirkliche Wahlfreiheit für alle. Beide Aspekte – Autonomie und gesellschaftliche Verantwortung – gleichermaßen zu thematisieren, ist in der Praxis nicht immer einfach und funktioniert nicht widerspruchsfrei. Denn innerhalb des bestehenden stigmatisierenden Diskurses geht es auch darum, einen klaren Punkt zu setzen gegen jede Bevormundung und moralisierende Vereinnahmung individueller Entscheidungen. Ein Beispiel ist die Debatte um Pränataldiagnostik und Spätabtreibungen. Neben der notwendigen Kritik an der Pathologisierung und Stigmatisierung von Behinderung als »privatem« Problem und dem Druck, der auf Frauen ausgeübt wird, muss zugleich verhindert werden, dass Lebensschutz wiederum gegen das individuelle Entscheidungsrecht von Frauen ausgespielt wird.

In der politischen Arbeit geht es nicht zuletzt darum, ein oft fragiles Bündnis aus äußerst unterschiedlichen Akteuren mit unterschiedlichen politischen Verortungen anhand eines gemeinsamen Interesses (dem Recht auf sexuelle Selbstbestimmung) zusammenzuhalten und in seiner Arbeit nicht zu überfrachten. Reproduktive Gerechtigkeit ist zudem in der deutschen Debatte als Begriff kaum eingeführt und mit wenigen konkreten Praxen verknüpft. Darum bleibt es vorerst ein inspirierendes Leitbild, das verhindern kann, den Blick zu sehr auf eine einzige Forderung zu verengen. Als nächster Schritt steht jedoch zunächst an, die Schlagkraft der immer noch wachsenden und äußerst diversen Bewegung für das Recht auf Abtreibung auszubauen und zu stärken.

Wir haben mit der Debatte um § 219a den langersehnten Impuls und neuen Schwung
für den Kampf um sexuelle Selbstbestimmung bekommen. Diesen Moment der Enttabuisierung sollen wir perspektivisch nutzen, um gesellschaftliche Mehrheiten für ein breit gefasstes Recht auf sexuelle und reproduktive Selbstbestimmung sowie reproduktive Gerechtigkeit zu schaffen. In Münster, Frankfurt und Hamburg haben Aktivist*innen in den letzten Monaten neue Bündnisse für sexuelle Selbstbestimmung gegründet. Feministische Proteste waren überall dort zu beobachten, wo die »Lebensschutzbewegung« auf die Straße geht und wo rechte Kräfte Druck auf Ärzt*innen, Beratungsstellen und ungewollt Schwangere ausüben. Das legt den Grundstein für den Aufbau einer gut vernetzten, bundesweiten Pro-Choice-Bewegung, die dem Rechtsruck und den Angriffen auf sexuelle und körperliche Selbstbestimmung etwas entgegensetzen kann.

 

Literatur

 

Anmerkungen

1 Angabe der Kriminalstatistik des Bundeskriminalamts (BKA). Die tatsächliche Zahl dürfte wesentlich höher liegen, da die Kriminalstatistik nur diejenigen Verfahren erfasst, die an die Staatsanwaltschaft abgegeben wurden.

2 Vgl. www.yumpu.com/en/document/view/60053485/yesrepealreferendumspecial#