| Austerity kills

Mai 2014  Druckansicht
Von Alexis Benos

Kämpfe um Gesundheit in Griechenland

Die strukturelle Krise des Kapitalismus zieht auch in Europa soziale und ökonomische Verwerfungen nach sich. Dass die südeuropäischen Länder stärker betroffen sind, liegt unter anderem daran, dass den Defiziten des Südens die Überschüsse des Nordens gegenüberstehen. Griechenland ist – als schwächstes Glied in der Eurozone – seit Jahren Versuchskaninchen für die Einführung neoliberaler Strukturanpassungspolitiken in Europa – 30 Jahre nachdem diese in Afrika, Südamerika und Südostasien offensichtlich gescheitert waren. Dennoch akzeptierte die griechische Regierung die Finanzierungsauflagen fast widerstandslos. Diese sehen nicht nur weitgehende Kürzungsmaßnahmen vor, sondern auch eine Privatisierung fast aller öffentlichen Güter und Dienstleistungen – auch des Gesundheitswesens.

Austeritätspolitik verändert die Lebensbedingungen…

Sechs Jahre Rezession und vier Jahre Austeritätspolitik haben die soziale und ökonomische Situation für die griechische Bevölkerung dramatisch verschlechtert. Ein Drittel der Bevölkerung ist von Armut bedroht, und die Arbeitslosigkeit unter Jugendlichen ist inzwischen auf fast 60 Prozent angestiegen. Dies hinterlässt auch Spuren, die sich auf den Gesundheitszustand der Menschen auswirken: Die Kindersterblichkeit stieg binnen drei Jahren um 51 Prozent, Selbsttötungen und Tötungsdelikte nehmen insbesondere unter jungen Männern zu, es gibt einen drastischen Anstieg von psychischen Erkrankungen, Drogenmissbrauch und Infektionskrankheiten. Während der Bedarf an öffentlichen Gesundheitsleistungen in Folge der Austeritätspolitik steigt, führt eben jene neoliberale Politik dazu, dass die erhöhte Nachfrage auf ein unzureichendes Angebot trifft. Private Versorgung kann die Ausfälle nicht kompensieren – kaum jemand ist noch in der Lage, die enormen Kosten zu bezahlen.

… und das Gesundheitssystem

Statt dieser Notlage Rechnung zu tragen, setzt die griechische Regierung die Anforderungen der Troika aus IWF, EU-Kommission und Europäischer Zentralbank ungebremst um – zwischen 2010 und 2013 wurden allein 170 Auflagen zum Gesundheitswesen in die Memoranden aufgenommen. Es geht um Austeritätsmaßnahmen wie eine Deckelung der öffentlichen Ausgaben, die Einführung von Nutzungsgebühren, den Einstellungsstopp für Personal im öffentlichen Gesundheitssektor, empfindliche Kürzung von Löhnen und Gehältern des Pflegepersonals sowie Kürzungen der Mittel aus den Sozialversicherungskassen. Auch sogenannte Reformen, die auf die Schaffung eines internen Marktes, auf die Kommerzialisierung und Privatisierung des Gesundheitswesens zielen, sind Teil der Verträge. Im Ergebnis können wir von einer Demontage des öffentlichen Gesundheitswesens sprechen. Steigende Zugangsbarrieren verschärfen darüber hinaus die humanitäre Krise in der griechischen Gesellschaft.

Krise der Sozialversicherungssysteme

In der Krise wird deutlich, dass die Sozialversicherungssysteme nur bedingt in der Lage sind, das Gesundheitswesen zu finanzieren. Historisch betrachtet waren sie eine Errungenschaft der Arbeiterbewegung, verankerten das Prinzip der Solidarität. Angesichts der hohen Arbeitslosenquoten – nicht nur in Griechenland – steckt das Konzept jedoch in einer Sackgasse. In Griechenland bedeutet eine Arbeitslosenquote von 30 Prozent, dass mindestens 30 Prozent der Bevölkerung ohne Sozialversicherung sind und folglich keinen Zugang zum öffentlichen Gesundheitswesen mehr haben. Dieser ›Geburtsfehler‹ der Sozialversicherungssysteme muss ernst genommen werden, soll eine neue Gesundheitspolitik entstehen, die dem realen Versorgungsbedarf der Bevölkerung – auch unter Bedingungen einer ökonomischen Krise – entspricht.

Ein Bericht der Weltgesundheitsorganisation (2009) über die Auswirkungen der Finanzkrise stellte bereits vor fünf Jahren fest: »Einige Länder sind einem besonderen Risiko ausgesetzt. Zu diesen zählen auch entwickelte Länder, die Nothilfe vom Internationalen Währungsfonds angefordert haben, in denen während der Darlehensrückzahlung Ausgabenbeschränkungen angeordnet werden könnten.« Die humanitäre Krise offenbart die Notwendigkeit, neue Wege der Organisierung zu gehen, um auf europäischer Ebene politische Kräfteverhältnisse zu verschieben und die Bürokratien abzusetzen, die für diese Katastrophe verantwortlich sind.

Solidaritätsbewegung und Reorganisierung der Linken

Um die direkten humanitären Folgen der Krise abzufedern, haben sich in Griechenland in den letzten Jahren vielfältige selbstverwaltete Solidaritätsstrukturen gebildet. Sie organisieren Märkte ohne Zwischenhändler, betreiben selbstverwaltete Betriebe, unterstützen Bildungsangebote für MigrantInnen und helfen mit Lebensmittelspenden, wo es am nötigsten ist. Die »Kliniken der Solidarität« bieten außerdem eine kostenlose Grundversorgung für alle, die als Flüchtlinge, wegen ihrer Arbeitslosigkeit oder aus anderen Gründen gar keinen Zugang mehr zum öffentlichen Gesundheitswesen haben. Aber selbst diejenigen, die noch versichert sind, können nicht mehr ausreichend versorgt werden. Es fehlt an allem: Medikamente, Verbandsmaterial, ÄrztInnen, PflegerInnen und Zeit.

Inzwischen gibt es 40 dieser Kliniken im Land – sie werden ausschließlich von unbezahlten Freiwilligen betrieben. In ihnen sind ÄrztInnen genauso aktiv wie PatientInnen, Pflegepersonal zusammen mit Ehrenamtlichen aus der Nachbarschaft, ApothekerInnen und Angehörige, GewerkschafterInnen und politische AktivistInnen aus unterschiedlichen Zusammenhängen. Sie veranstalten regelmäßig landesweite Aktionstage für ein Recht auf bedarfsgerechte Gesundheitsversorgung, organisieren Demonstrationen und Kundgebungen vor Krankenhäusern und unterstützen die Streiks im Gesundheitswesen. In konkreten Fällen setzen sie sich für PatientInnen ein, die eine spezifische Behandlung (z.B. eine Operation) oder teure Diagnoseverfahren benötigen, die die Kliniken der Solidarität nicht anbieten können. Hin und wieder gelingt es auch PatientInnen unter der Hand in offiziellen Krankenhäusern unterzubringen.

Die Kliniken der Solidarität verstehen sich aber nicht als Wohltätigkeitsorganisationen und nicht als Ersatz für die wegbrechenden sozialstaatlichen Strukturen, sondern als Orte des politischen Austauschs und der Bewegung. Sie versammeln Freiwillige, um elementare Gesundheitsdienste für Bedürftige anzubieten und um gleichzeitig Beschäftigte, PatientInnen, Angehörige und sonstige Aktive gegen die aktuelle Krisenpolitik zu mobilisieren. Praktische Solidarität wird mit einer Bewegung von unten gegen die Troika-Politik und für gesellschaftliche Veränderung verknüpft. In Gesprächen mit PatientInnen werden diese dafür sensibilisiert, dass sie nicht nur passive Nutzer von Dienstleistungen sind, sondern gleichwertige Mitglieder dieser Bewegung. Erstmals gelingt es, die Versorgung mit elementaren Gütern der Daseinsvorsorge zum Ausgangspunkt politischer Organisierung zu machen. Oder umgekehrt: Kämpfe um soziale Reproduktion und solidarische Unterstützung werden zum Kristallisationspunkt einer linken Bewegung.

Die meisten Solidaritätsstrukturen sind spontan entstanden und haben sich als Graswurzelbewegung entwickelt, entsprechend prägt sie ein offenes basisdemokratisches Selbstverständnis: Entscheidungen werden ausschließlich von der Vollversammlung ihrer Mitglieder getroffen. Diese Aktivitäten bilden ein neues Paradigma für den Aufbau einer popularen Bewegung und deren Beziehung zu linken politischen Parteien und Strömungen. SYRIZA, die wichtigste Partei der radikalen Linken in Griechenland, unterstützt diesen Bewegungen, respektiert jedoch ganz bewusst deren Autonomie. Ein beachtlicher Teil der Solidaritätsbewegung ist auch bei SYRIZA aktiv. Hier entsteht ein dynamisches Zusammenspiel, in dem Positionen geschärft und Kräfte gebündelt werden. Da der Kampf gegen die neoliberale Sparpolitik in einem Land allein nicht zu gewinnen ist, gilt es die griechischen Erfahrungen in Europa zu verallgemeinern.

Aus dem Englischen von Andreas Förster

 

Literatur

World Health Organization, 2009: The financial crisis and global health. Report of a high-level consultation, Genf