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Aufbruch Ost. Entsteht hier eine rebellische Arbeiter- und Jugendbewegung?  

Gespräch mit Olaf Klenke, Thomas Lißner und Hanna Pleßow

Hanna, du engagierst dich bei »Aufbruch Ost«. Anfangs stand die Aufarbeitung der ostdeutschen Nachwendegeschichte im Mittelpunkt, seit zwei Jahren unterstützt ihr Arbeitskämpfe in der Region. Wie bist du dazu gekommen?

Hanna: Meine Eltern sind aus dem Wes­ten in den Osten gezogen, als ich noch klein war. Ich bin hier groß geworden, aber meine Eltern haben mir nichts von der DDR erzählen können. Auch im Ge­schichtsunterricht kam das Thema praktisch nicht vor. Aber irgendwann habe ich gemerkt, dass es überall präsent war, das Gefühl, übergangen worden zu sein, abgehängt zu sein. Nach der Bundestagswahl 2017 ist in meinem Freundeskreis die Idee entstanden, eine andere Perspektive auf die Wende stark­zumachen. Diese Ungerechtigkeiten lassen sich auch heute noch in Zahlen festhalten: Wie kann es sein, dass ostdeutsche Arbeiter*innen 30 Jahre nach der Wende im Schnitt fast ein Fünftel weniger verdienen als Arbeiter*innen im Westen, obwohl sie mehr arbeiten? Das sind Verhältnisse, die wir nicht länger hinnehmen wollen.

Thomas: Die Wende habe ich damals im Erzgebirge erlebt. Als ich elf oder zwölf war, wurde mein Vater arbeitslos, wie viele andere auch. Damals ging alles den Bach runter. Die Folgen merke ich bis heute auch in meiner Arbeit. Diese Erfahrungen wurden nie richtig aufgearbeitet, vor allem nicht von und mit den Leuten, die es betrifft.

In der öffentlichen Debatte war der Tenor sehr lange: Nach und nach wird dieses Ost-West-Thema verschwinden – gerade für die junge Generation, die nach dem Mauerfall aufgewachsen ist. Jetzt scheint es mit Wucht zurückzukommen – woran liegt das?

Olaf: Da spielen auch die Erfahrungen der 2010er Jahre eine Rolle, das Gefühl: Die fetten Jahre sind an uns vorbeigezogen und es ist nichts passiert. Nach der Finanzkrise gab es zehn Jahre Aufschwung, aber die Unterschiede zwischen Ost und West wurden nur zementiert. Daraus entsteht ein enormer sozialer Unmut. 2015 ist es der AfD gelungen, diesen Frust politisch zu kanalisieren.

Thomas: Da sind nach wie vor die enormen Lohnunterschiede. Die Leute machen dieselbe Tätigkeit und verdienen 700 Euro weniger als ihre Kolleg*innen im Westen. Das macht etwas mit den Menschen. Zumal das seit 30 Jahren so geht. Wenn du außerdem aus Sachsen kommst, wirst du auch noch ausgelacht, weil du so einen komischen Dialekt sprichst. Du kommst in eine Runde und hörst die westdeutsche Eloquenz. Na, dann traut man sich nicht unbedingt, was zu sagen, obwohl man zu dieser skandalösen Situation sehr wohl etwas zu sagen hätte. Bei mir geht das inzwischen einigermaßen, ich hab ein gutes Selbstbewusstsein. Aber wie geht es Leuten, die seit Jahren hören: Mach bei der Arbeit bloß nicht den Mund auf, hier stehen 100 Leute, die deinen Job übernehmen würden. Da ist viel kaputt­gegangen. Und wie Olaf sagt, das entlädt sich eben bei der AfD.

»Aufbruch Ost« und NGG arbeiten seit einiger Zeit zusammen. Wie kam es dazu?

Thomas: Das hat 2019 in der Auseinandersetzung bei Teigwaren Riesa begonnen. Da hat es zum ersten Mal so richtig gescheppert, weil sich Beschäftigte zusammengeschlossen haben, um Missstände aufzudecken und gemeinsam dagegen vorzugehen. Nach vielen Monaten Kampf stand am Ende ein Tarifvertrag. In diesem Konflikt hat uns »Aufbruch Ost« das erste Mal mit Öffentlichkeitsarbeit unterstützt.

Hanna: Wir hatten damals das Gefühl, dass da ein Funke überspringt, dass bei Riesa etwas passiert, worum es uns die ganze Zeit geht: Leute stehen gemeinsam auf und kämpfen dafür, dass die Zustände gerechter werden. Das haben wir erstmal einfach über Social Media begleitet. Dann kam relativ schnell die Idee von der NGG, dass wir Videointerviews machen. Ein Format, das wir zuvor schon zum Thema Nachwendezeit in Ostdeutschland ausprobiert hatten. Also sind zwei Leute von uns hingefahren und haben Interviews mit den Arbeiter*innen und dem Betriebsrat geführt. Diese Filmchen haben wir dann auf Youtube veröffentlicht, um den Konflikt sichtbar zu machen und andere zu motivieren. Die Hoffnung war, dass sich das auch auf andere Betriebe überträgt, denn solche Kämpfe müssen überall geführt werden.

Wie war das für die NGG, dass da plötzlich so eine Initiative von jungen Leuten auftaucht, ohne gewerkschaftlichen Hintergrund?

Thomas: Bei dem Konflikt mit Teigwaren Riesa war ich einfach für jede Unterstützung dankbar. Alles, was positiv gewirkt hat, haben wir zugelassen. In der Vergangenheit kam es oft so rüber, als ob die NGG eher still und leise ist, wir hatten keine mediale Schlagkraft. Deshalb waren wir dankbar, dass »Aufbruch Ost« uns genau dabei unterstützt hat.

Was hat sich daraus entwickelt?

Thomas: »Aufbruch Ost« ist jetzt auch beim Konflikt um Haribo in Wilkau-Haßlau dabei und bei anderen Aktionen. Unsere Leute kriegen mit, dass sie nicht allein kämpfen, dass es Menschen gibt, die sie solidarisch unterstützen. Das ist, glaube ich, das Entscheidende.

Ihr habt im letzten Jahr eine Reihe von Konflikten zu einem erfolgreichen Ende gebracht.

Thomas: Es gab eine große Tarifauseinandersetzung, an der viele Betriebe beteiligt waren. Wir haben das ziemlich gut vorbereitet, weil wir wussten, dass es ein harter Kampf wird. So war es auch, aber die Leute haben mitgezogen, und wir haben es geschafft, die verschiedenen Betriebe miteinander zu verbinden. Das hat enorm viel Potenzial freigesetzt. Da sind Leute nach vorn gegangen, die waren früher einfache Produktionsmitarbeiter, ganz leise. Und jetzt wurden sie richtige Tarifkämpfer.

Warum ist das nicht schon früher passiert? Habt ihr irgendwas anders gemacht? Haben sich die Bedingungen verändert? Oder ist bei den Leuten was passiert?

Olaf: 2019 haben sich die Leute von Teigwaren Riesa bei uns gemeldet und um Unterstützung gebeten. Signale kamen aber auch aus vielen anderen Betrieben. Da haben wir gesagt, wir müssen das diesmal anders anpacken. Wir sind zu allem bereit, wenn die Leute in den Betrieben mitziehen. Kann sein, dass wir auf die Nase fallen, kann sein, dass vielleicht ein Tarifvertrag über den Jordan geht, der aber eigentlich ohnehin nur noch eine Hülle ist und die kämpferischen Betriebe zurückhält. Wir haben uns einfach getraut und mutiger agiert.

Thomas: Damals haben wir auch gelernt: Wir brauchen viel mehr Beteiligung. Es geht nicht, dass wir den Leuten sagen, was für sie gut ist. Wir müssen die Themen der Leute zu unseren Themen machen. Weg von diesem Denken: »Ach, die Gewerkschaft wird es schon machen.« Stattdessen ist das Ziel, die Leute dazu zu befähigen, selbst aktiv zu werden. Unterstützen, organisieren, aber keine Stellvertreterpolitik. Und wenn die Leute das Gefühl haben, sie können sich einbringen, es ist ihre Bewegung, dann gehen sie auch voll mit. Das war das ganze Geheimnis.

Erleben wir hier den Beginn einer vielleicht kleinen linken, rebellischen Arbeiter- und Jugendbewegung in Ostdeutschland?

Hanna: Ich denke schon, dass es da eine gewisse Veränderung gibt. Für unsere Initiative ist es zentral, dorthin zu gehen, wo es wichtig ist, wo Unterstützung gebraucht wird, statt sich die ganze Zeit nur in der linken Szene miteinander zu beschäftigen, abgeschottet von der Lebensrealität so vieler Menschen.
Wir versuchen, verschiedene Kämpfe zu verbinden: Das sind Leute außerhalb unseres Stadtviertels oder unserer Szene, vielleicht eher im ländlichen Raum, aber die haben ganz ähnliche Probleme. Dieses Bewusstsein wächst langsam.

Thomas: Selbst Politiker merken: Das ist eine Bewegung, die ernst zu nehmen ist. In früheren Tarifauseinandersetzungen sind wir denen hinterhergerannt. Wenn wir ganz viel Glück hatten, ist mal einer vorbeigekommen. Jetzt ist das anders. Wir haben Unterstützung von Abgeordneten der LINKEN, der SPD, von den Grünen. Und wir bekommen auch mit, dass das für viele eine gute Erfahrung ist, aus ihrem abgehobenen Politikbetrieb rauszukommen, in Kontakt mit einer wirklichen Bewegung zu treten.

Olaf: Es geht uns nicht darum, den Riss zwischen dem Politikbetrieb und den Menschen zu reparieren. Diese Entfremdung hat reale Gründe. Aber wir sind bereit, mit denen zusammenzuarbeiten, die an einem Aufbruch von unten mitwirken wollen – aus welcher Partei sie kommen, ist dabei egal. Es geht darum zu zeigen, dass Politik auch anderes sein kann. Es kann nicht sein, dass die AfD damit durchkommt, sie sei die einzige Opposition und alle anderen Teil des Establishments. Wir wollen zeigen, dass man links vom Establishment Politik machen kann.

Hanna: Arbeitskämpfe und Gewerkschaftsarbeit sind ein guter Weg, für Veränderungen einzutreten und Menschen zu erreichen. Denn auch linke Politik, wie die Leute sie erleben, kommt oft eher ›von oben‹. In diesen Arbeitskämpfen merken die Menschen dagegen, dass sie selbst etwas verändern können. Sie merken: Irgendwie geht was, wenn wir uns zusammenschließen und gemeinsam für unsere Sache kämpfen.

Es gibt ja grob zwei Möglichkeiten, wie man mit Ohnmachtserfahrungen und Frustrationen umgeht – Ausgrenzung oder Solidarität. Die erste wird von AfD und Pegida betrieben: Der Islam und die Migrant*innen sind schuld. Wie sich Leute dann entscheiden, hat viel mit ihren Alltagserfahrungen zu tun. Die spannende Frage ist nun, ob sich durch die kollektive Erfahrung solcher Kämpfe bei Menschen etwas verändert. Bemerkt ihr sowas?

Hanna: Die politische Landschaft in Ostdeutschland ist sehr stark von rechten und rechtsextremen Netzwerken geprägt. Diese Gruppen sind nicht zu erreichen und man darf ihnen auf keinen Fall eine Bühne bieten. Aber nicht alle, die diese Gruppen unterstützen, haben eine fest gefügte rechtsextreme Weltanschauung. Da spielt Unzufriedenheit über die ökonomische Situation eine Rolle, Frustration darüber, keine politische Stimme zu haben.
Wir können es nicht zulassen, dass sich die AfD als diejenige aufspielt, die sich um die »Sorgen des kleinen Mannes« kümmert. Letztlich geht es darum, wer tatsächlich eine Veränderung herbeiführen kann. Aber auch, wer die bessere Erzählung hat, wer die jüngere ostdeutsche Geschichte besser einordnen kann. Das wird am Ende entscheiden, welche Richtung sich durchsetzt – links oder rechts.

Thomas: Ich denke, wir werden die Leute nicht so schnell auf unsere Seite ziehen können. Das wird ein langwieriger Prozess sein. Wichtig ist aber, dass wir Leute, die  AfD wählen, nicht von oben herab belehren. Wir müssen zeigen, dass unsere Bewegung, unsere Sichtweise auf die Dinge besser ist und dass die Blauen keine Lösung für ihre Probleme haben.
Das ist uns in vielen Betrieben schon teilweise gelungen, bei einzelnen Köpfen, aber sicherlich noch nicht bei einer großen Menge der AfD-Wähler*innen. Wenn zwei Betriebsräte, zwei große Kämpfer, bei der #unteilbar-Demo in Dresden vor 30 000 Menschen sprechen, ist das ein Statement, das mit Teigwaren Riesa in Verbindung gebracht wird. Das hat eine Strahlkraft, und das ist es, was wir viel mehr hinbekommen müssen.

Olaf: Wir sind an einem Streiktag durch die Innenstadt gelaufen. Als wir am AfD-Büro vorbeikamen, meinte eine Kollegin: »Ich gehe mal rein und gebe denen unsere Flugblätter, dann können die uns auch unterstützen.« Sie kam aber ziemlich des­illusioniert wieder heraus, denn die AfD hat sich gegen unsere Arbeitskämpfe gestellt. In solchen Situationen merken die Leute: Es passt nicht zusammen, die AfD ist nicht die Stimme der Entrechteten. Das sind interessante Brüche.

Es ist aber nicht so, dass wir einen Streik führen und die Leute schmeißen alle Vor­urteile über Bord, die sie bisher im Kopf hatten. So schnell geht das nicht. In den Verhandlungspausen sprechen wir aber auch über Rassismus. Wenn man solche Möglichkeiten nutzt, schafft man zumindest bei einigen wichtigen Leuten  im Betrieb ein anderes Verständnis von Politik. Die können dann weiterwirken. Das sind kleine Ansätze. Aber ich denke nicht, dass jetzt auf einmal alles in die andere Richtung kippt. Die nächsten Jahre werden das entscheiden, es hängt davon ab, ob wir mehr solche Aufbrüche organi­sieren können.

Das Gespräch führte Jörn Boewe.