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Arbeiter-Selbstverwaltung in Jugoslawien

Von Boris Kanzleiter

Eine ambivalente Erfahrung

»Produzentendemokratie« und »Arbeiterselbstverwaltung« – diese Begriffe aus der Diskussion über eine alternative Wirtschaftsordnung sind untrennbar mit dem »jugoslawischen Experiment« verbunden. Seit der Abkehr der Kommunistischen Partei von Moskau 1948 stand Jugoslawiens »Dritter Weg« für den erfolgreichen Bruch eines sozialistischen Landes mit dem »Stalinismus«. Die Proklamation der »Arbeiterselbstverwaltung« bildete weltweit einen wichtigen Referenzpunkt für die Ideen einer demokratischen Linken jenseits der konservativen Sozialdemokratie im Westen und des bürokratisierten »Staatssozialismus« im Osten. In Jugoslawien selbst war das Selbstverwaltungssystem jedoch stets umkämpft.

Beim Bruch mit Moskau verfügten die jugoslawischen Kommunistinnen und Kommunisten zunächst über keine Alternative zum Sowjetsystem, das sie nach dem Zweiten Weltkrieg zu kopieren versucht hatten. Es gab allerdings die Erfahrung der lokalen »Volksräte«, welche im Krieg zur Unterstützung der Partisanenbewegungen als revolutionäre Verwaltungsorgane entstanden waren. Sie sollten in den Konzeptionen der jugoslawischen Parteitheoretiker zum Ausgangspunkt eines sozialistischen Modells werden, das in Anlehnung an Marx’ Überlegungen zur Pariser Kommune sowohl im politischen System als auch in der Wirtschaft Formen der direkten Demokratie verwirklichte.

In einer ersten Phase der »Arbeiterselbstverwaltung« ab Beginn der 1950er Jahre wurden in großen Schlüsselbetrieben »Arbeiterräte« gebildet. Deren Kompetenzen waren aber noch beschränkt und zentralen Planungsmechanismen unterstellt. Mit dem Elan der Aufbauzeit wurden große Erfolge bei der Modernisierung, Industrialisierung und Urbanisierung erreicht. Trotz verheerender Kriegszerstörungen konnte die Infrastruktur schnell wieder das Vorkriegsniveau erreichen. Bildungs- und Gesundheitssysteme expandierten genauso wie der Wohnungsbau und der Aufbau industrieller Kerne. Die Gesellschaft stand allerdings unter relativ autoritärer Parteikontrolle. Dieses extensive und zentral gelenkte Wachstumsmodell hatte sich am Ende der 1950er Jahre erschöpft und konnte keine Antworten auf eine notwendige Diversifizierung der Produktion geben.

Innerhalb und außerhalb des Bundes der Kommunisten Jugoslawiens (BdKJ) entbrannten heftige Auseinandersetzungen um das wirtschaftliche Modell. Seit Beginn der 1960er Jahre profilierte sich zunehmend ein »liberaler Flügel« in der Partei, der von einer Reihe jüngerer Politikerinnen und Politiker getragen wurde und auch auf Titos Unterstützung zählen konnte. Auf dem VIII. Parteikongress im Dezember 1964 setzten die »Liberalen« ein groß angelegtes Reformprogramm durch, das auf die Einführung von Marktmechanismen setzte, um eine Effektivierung und Intensivierung der Produktion zu erzielen. »Selbstverwaltung« interpretierten die »Liberalen« als Ausbau der Entscheidungsbefugnisse der Unternehmen. Unter dem Stichwort der »Entstaatlichung« wurden zentralstaatliche Planungsmechanismen auf wenige Kernbereiche reduziert. In der neuen »sozialistischen Marktwirtschaft« sollten die unter Arbeiterselbstverwaltung stehenden Betriebe in verstärkte Marktbeziehungen zueinander treten. Durch fiskalische Maß­ nahmen sollte außerdem die Integration der jugoslawischen Ökonomie in den Weltmarkt intensiviert werden. »Föderalisierung« und »Dezentralisierung« sollten gleichzeitig die Kompetenzen der Republiken und Gemeinden stärken. Auch die Partei sollte föderalisiert werden.

Der Leitgedanke, den Betrieb in seiner Selbständigkeit zu stärken und zum Drehund Angelpunkt einer Wirtschaftsreform zu machen, wurde am Beginn der 1960er Jahre auch in anderen sozialistischen Ländern diskutiert. Ausgehend von Überlegungen des sowjetischen Ökonomen Jevsej Liberman wurde diese Vorstellung etwa durch das 1963 von Walter Ulbricht in der DDR initiierte »Neue Ökonomische System«, das wirtschaftliche Reformprogramm von Ota Šik im Prager Frühling oder den »Neuen Ökonomischen Mechanismus« in Ungarn aufgenommen.

In Jugoslawien opponierte zunächst ein »konservativer« Flügel der Partei unter dem langjährigen Innenminister und Geheimdienstchef Aleksandar Ranković gegen die Reformanstrengungen der »Liberalen«. Die »Konservativen« lehnten vor allem die Stärkung der Republiken ab und wollten an einem zentralistischen Modell festhalten. Ranković, der seine Bastion in Serbien hielt, wurde im Juli 1966 gestürzt. In der Folgezeit kam es zu sozialen und politischen Krisenerscheinungen. Die wirtschaftspolitischen Hauptziele der Reform, eine Beschleunigung des Wachstums und die Rationalisierung der Produktion, wurden nicht erreicht. Stattdessen wuchsen soziale und regionale Ungleichheiten. Lohndifferenzen nahmen genauso zu wie die Arbeitslosigkeit. Die Kürzungen beim zwischen reichen und armen Regionen umverteilten nationalen Einkommen verstärkten die ohnehin ausgeprägten interregionalen Disparitäten. Im Gewand eskalierender Verteilungskonflikte zwischen den zunehmend um Ressourcen konkurrierenden Republikführungen brachen die überwunden geglaubten Differenzen in der »nationalen Frage« wieder auf. Höhepunkt dieser Auseinandersetzungen war der »Kroatische Frühling«, in dem die kroatische »liberale« Parteiführung 1970/71 eine nationalistische Massenmobilisierung in Gang setzte, um unter anderem die Devisen aus dem Tourismusgeschäft für sich zu beanspruchen.

In einem »Manifest der 3000 Wörter« warnten linke Studentenaktivisten bereits 1969 vor regressiven Tendenzen in Folge des Reformprogramms. Unter anderem beklagten sie wachsende »nationale Intoleranz«, »Republiks-Egoismus« und »regionalen Partikularismus«. Diese seien das Resultat des »gemeinsamen Wirkens von Bürokratismus und kleinbürgerlichem Neoliberalismus«. Das »einseitige Insistieren auf ein Marktchaos bei offenem Einsatz für das Prinzip des Überlebens der Stärkeren und des Ruins der Schwächeren« führe zum »Vordringen kleinbürgerlicher Auffassungen, Bedürfnisse und Bestrebungen in allen Bereichen und in allen Gesellschaftsschichten«. (Redaktion Praxis 1971, 442ff) Die Verfasser waren Teil einer linken Oppositionsströmung um die »PraxisGruppe« und die jugoslawische »Neue Linke«, die sich ebenfalls seit Beginn der 1960er Jahre zunehmend offen artikulierte. Sie stellte sich gegen die Marktreform der »Liberalen«, in der sie die Gefahr einer »Restauration des Kapitalismus« sah, aber auch gegen die zentralistischen »Konservativen«.

Den Höhepunkt der Mobilisierungen der »Neuen Linken« bildeten die Proteste im Juni 1968, als ausgehend von einer Universitätsbesetzung in Belgrad in allen Teilen Jugoslawiens Studierende demonstrierten. Die »Praxis-Gruppe« und die studentische »Neue Linke« setzten auf eine tiefgehende gesellschaftliche Demokratisierung. Unter dem Stichwort der »integralen Selbstverwaltung« wurde die Aufhebung der Parteikontrolle und die Entwicklung einer direkten Produzentendemokratie gefordert. Im Gegensatz zu den »Liberalen« zielten die Neuen Linken dabei nicht auf eine »sozialistische Marktwirtschaft« und mehr »Effektivität«, sondern in Anlehnung an den »jungen Marx« und zeitgenössische Autoren wie Herbert Marcuse auf eine Veränderung der Arbeitsweise und die »Überwindung der Entfremdung«. Svetozar Stojanović, Mitarbeiter der Zeitschrift Praxis, schrieb 1967: »Die sozialistische Selbstverwaltung muss als ein integriertes gesellschaftliches System konzipiert sein«, das »alle Teile der Gesellschaft« umfasse und die Gesellschaft »als Ganzes« (Hervorhebung im Original) verwalte. Stojanović forderte die »Konstituierung vertikaler Assoziationen von Selbstverwaltungsgruppen, das Hervorwachsen der Vertretungsorgane von unten, die Unterstellung aller staatlichen Organe und des ganzen gesellschaftlichen Lebens unter Kontrolle der Vertretungsorgane, eine grundlegende Demokratisierung und Anpassung der politischen Organisationen (vor allem der kommunistischen) an ein solches System« (Stojanović 1967, 5f).

Die offene Auseinandersetzung zwischen »Liberalen«, »Konservativen« und »Neuen Linken« wurde in der ersten Hälfte der 1970er Jahre durch eine Repressionswelle beendet (vgl. dazu Kanzleiter 2011). In der Folgezeit wurde das System der Arbeiterselbstverwaltung in der Verfassung von 1974 als ein Hybrid konsolidiert, der in sich widersprüchlich blieb. Wie der Soziologe Laslo Sekelj bemerkte, zeigte sich in Jugoslawien eine »paradoxe Inkorporation« des leninistischen Konzeptes der »Avantgarde und hierarchisch organisierten Partei« in ein theoretisches »System der ›direkten Demokratie‹ und des ›antielitistischen Egalitarismus‹«, das auf der Grundlage rätekommunistischer Überlegungen ausgearbeitet worden war (Sekelj 1993, 88). Die Macht wurde nur nominell auf die Belegschaften übertragen, von einer Produzentendemokratie konnte keine Rede sein. Wie Arbeitssoziologen feststellten, kontrollierten die an die Partei gebundenen politischen und wirtschaftlichen Eliten die Entscheidungsprozesse.1 Die Belgrader Soziologin Nada Novaković (2007, 153ff) resümiert, die jugoslawische Arbeiterklasse sei aufgrund ihrer sozialen und politischen »Atomisierung« immer eine »Klasse an sich« geblieben und niemals zur »Klasse für sich« geworden. Deshalb habe sie kein »Klassenbewusstsein über ihre gemeinsamen Interessen« entwickeln können.2

Trotz dieser ernüchternd ausfallenden Bilanz des »jugoslawischen Experiments« waren aus heutiger Sicht die Erfahrungen im sozialistischen Jugoslawien keine durchweg negativen. Unter dem Motto der »Arbeiterselbstverwaltung« wurde zwar keine Produzentendemokratie entwickelt, aber immerhin eine relativ offene Gesellschaft. So konnten im sozialistischen Jugoslawien wichtige soziale Rechte durchgesetzt werden. Das Land und die Gesellschaft schafften den Sprung von einem peripheren Agrarland zu einer relativ modernen Industrienation. Diese Erfolge wurden in den Kriegen der 1990er Jahre weitgehend zerstört. Es ist daher kein Wunder, dass nach aktuellen Umfragen 81 Prozent der Bevölkerung der Meinung sind, dass sie im Sozialismus besser gelebt haben als heute.3 In Arbeitskämpfen gegen die Privatisierung beziehen sich Arbeiterinnen und Arbeiter heute positiv auf die Selbstverwaltung. In der Industriestadt Zrenjanin in der Vojvodina (Serbien) beispielsweise haben Belegschaften mehrerer Betriebe die Organisation »Ravnopravnost« (Gleichheit) gegründet, die sich für ein Modell der Arbeiterselbstverwaltung einsetzt, das auf Belegschaftseigentum beruht. Um die ambivalenten historischen Erfahrungen des »jugoslawischen Experiments« für aktuelle Debatten nutzbar zu machen, bedarf es einer kritischen und differenzierten Auseinandersetzung. Leider steckt die empirische Forschung dazu aber noch in den Kinderschuhen.4

 

Literatur

Arzenšek, Vladimir, 1985: Struktura i pokret, Belgrad
Kanzleiter, Boris, 2011: Die »Rote Universität«. Studentenbewegung und Linksopposition in Belgrad 1964–1975, Hamburg
Mihailović, Srećko (Hg.) 2010: Kako građani Srbije vide tranziciju. Iztraživanje javnog menja tranzicije, Belgrad
Musić, Goran, 2011: Yugoslavia: Worker Self-Management as state paradigm, in: Immanuel Ness, Dario Azzellini (Hg.), Ours to Master and to Own. Workers’ Control from the Commune to the Present, Chicago
Novaković, Nada G., 2007: Propadanje radničke klase, Belgrad
Redaktion Praxis (Hg.), 1971: 3000 reči, in: dies., jun-lipanj 1968, Dokumenti, Zagreb, 442–47
Sekelj, Laslo, 1993: Yugoslavia: The Process of Desintegration, New York Stojanović, Svetozar, 1967: Društveno samoupravljanje i socijalistička zajednica, in: Praxis 3, 5–6

Anmerkungen

1 Der Soziologe Vladimir Arzenšek (1985) fasst die Ergebnisse einer Langzeituntersuchung über die Mechanismen der Arbeiterselbstverwaltung so zusammen: »Staats- und politische [BdKJ, Anmerk. B.K.] Bürokratie besetzten die dominanten Positionen, während die partizipatorischen Strukturen (Selbstverwaltungsorgane und Delegiertensystem) untergeordnet blieben. Am machtlosesten waren Arbeiter und Bauern« (34).
2 Mit den Begriffen von der »Klasse an sich« und »Klasse für sich« rekurriert Novaković auf Marx, der in seiner Schrift »Elend der Philosophie« (1847) die soziale Herausbildung einer Klasse von der Entstehung eines Klassenbewusstseins trennt. Eine durch ihre Stellung in den Produktionsverhältnissen »an sich« gegebene Klasse könne nur zur politisch »für sich« handelnden Klasse werden, wenn sie gemeinsam lerne, kämpfe und Erfahrungen sammle.
3 Dieses Umfrageergebnis bezieht sich auf Serbien, dürfte aber in den meisten anderen ehemaligen Republiken ähnlich ausfallen (vgl. Mihailović 2010).
4 Junge, linksorientierte WissenschaftlerInnen leisten erste Ansätze für eine historische Analyse. Siehe dazu Musić 2011.