| ANGRIFF DER LEISTUNGSTRÄGER?

Juni 2010  Druckansicht
Von Jan Rehmann und Thomas Wagner

EINE EINFÜHRUNG IN DIE SLOTERDIJK-DEBATTE

Was ist ein Leistungsträger? Wikipedia gibt die knappe Auskunft, dass es die »Besserverdienenden« bezeichne. Wie genau ein überdurchschnittliches Geldeinkommen mit der »Leistung« zusammenhängt, geht daraus nicht hervor. Unter »Besserverdienenden« erhält man die Information, dass es eine allgemein verbindliche Definition nicht gebe, aber wer dafür das Wort »Leistungsträger« benutze, tue dies, um in der politischen Diskussion eine Senkung der Spitzensteuersätze bzw. der Reduzierung der Steuerprogression zu begründen.

Der Begriff führt also nicht nur unmittelbar ins Zentrum der Verteilungskämpfe des gesellschaftlichen Reichtums, er ergreift in ihnen auch sofort energisch Partei. Deshalb wird er gemeinhin als »umstritten« gekennzeichnet. So beklagt Franz Peter Lang, der Präsident des Bundesverbands deutscher Volks- und Betriebswirte e.V., dass der Ausdruck laut Allensbacher Institut für Demoskopie von mindestens der Hälfte der Befragten abgelehnt werde. Dieses negative Image teile er mit Begriffen wie Unternehmen oder Unternehmensgewinn, die sogar mehrheitlich »negative Empfindungen« weckten (Lang 2004). Um dies zu ändern, hat sich der Verband 2002 mit anderen zu einem »Aktionskreis Leistungsträger« zusammengeschlossen.

Schon »Leistung« selbst ist ein abstrakter Begriff, weil er sich von der Frage der Nützlichkeit, des konkreten Wozu der jeweiligen Arbeiten abgelöst hat. Er gehört in den Bereich, den Marx als bürgerliche Wertabstraktion und »Fetischismus« analysiert hat, einen Bereich, in dem die abstrakte, den »Tauschwert« produzierende Arbeit über die konkreten, gebrauchswertorientierten Arbeiten dominiert, die kapitalistische Verwertung die gesellschaftliche Produktion beherrscht, die »shareholder values« den Vorrang vor den »life values«, dem Lebenswerten, Genussvollen am Leben einnehmen. Die Fähigkeit, möglichst viel Vermögen anzuhäufen, koste es die Gesellschaft, was es wolle, wird zum Inbegriff der Tätigkeit. In dieser quasi-religiösen Verkehrung wird die »Leistung« zu einem mit eigenem Leben ausgestatteten Wesen, das dann von den »Leistungsträgern« getragen wird – ein nahezu komisches Bild, das die Absurdität bürgerlicher Vulgärideologien offenlegt.

»Umstritten« ist der Begriff vor allem, weil er den Verdacht nicht abschütteln kann, dass viele der »Besserverdienenden«, die sich als strebsame »Träger« einer solchen Leistung wähnen, in Wirklichkeit von den vielfältigen Leistungen derjenigen leben, die für sie arbeiten. Da die lohnabhängig Arbeitenden die Mehrheit der Bevölkerung ausmachen, ist ein solcher Verdacht gefährlich. Er kann zur allgemeinen Auffassung führen, die Gesellschaft könnte und sollte sich solche »Leistungsträger« nicht mehr leisten.

Der Leistungsträger gehört zum »normalen« Repertoire einer neoliberalen Ideologie. Über den attraktiven Begriff der »Leistung« soll er ermöglichen, eine Gemeinschaft zwischen ökonomischen Eliten, bedrohten Mittelschichten, »qualifizierten« Berufen bis hinein in die Facharbeiterschaft herzustellen – gegen die Ansprüche »sozialer Gerechtigkeit« und gesellschaftlicher Umverteilung, die v.a. von den Interessenvertretungen der »abhängig« Beschäftigten, der Prekarisierten und Arbeitslosen erhoben werden. Aber was ist schon »normal« in einer ökonomischen Krise, wo die Frage, wer für die Werteverluste und leeren Staatskassen zahlen soll, mit neuer Brisanz aufgeworfen wird?

In diesen Kontext fällt die »Steuer debatte«, die von Peter Sloterdijks Beitrag »Die Revolution der gebenden Hand« in der FAZ vom 13. Juni 2009 angestoßen wurde. Sloterdijk überbietet darin die üblichen Steuersenkungsparolen des Neoliberalismus, indem er den »produktiven« Schichten der Leistungsträger das Ziel einer Abschaffung der Steuern und ihre Ersetzung durch freiwillige Gaben vor Augen führt. Er zeigt sich erstaunt, dass sie nicht zum »plausibelsten« Mittel eines »anti- fiskalischen Bürgerkriegs« griffen. Mit der drei Monate später erfolgenden Antwort von Axel Honneth in der Zeit kam es zur »SloterdijkDebatte«, an der sich alle größeren Zeitungen Deutschlands beteiligten.

Viele haben Sloterdijk als Autor der Kritik der zynischen Vernunft (1983) in Erinnerung, der noch nicht alle Bindungen an die kritische Theorie aufgelöst hatte. Sloterdijks Kritik des Zynismus als »aufgeklärtes falsches Bewusstsein« hatte Karl Heinz Götze zufolge ihre Stärke darin, dass sie »einem Phänomen, das viele kennen und wenige wahrhaben wollen, seinen Charakter öffentlich auf den Kopf zusagt«. Aber indem sie sich im Namen eines Guten hier und jetzt gegen die »kritische Sucht des Besserns« wandte, ging sie selbst unablässig in Zynismus über. Sloterdijk führte seinen Argumentationsfaden so, »dass er die Kräfte der Gesellschaftsveränderung fesselt«.

Sloterdijk baut den Übergang vom Zynismus-Kritiker zum »Herrschaftszyniker« in der Folgezeit systematisch aus. Die philosophische Weichenstellung verläuft v.a. über eine Nietzsche-Lektüre, die die »Vertikalspannung« zwischen Eliten und Gewöhnlichen hervorhebt. Man kann sie daher im Unterschied zum postmodernen »Linksnietzscheanismus« (à la Deleuze, Foucault, Vattimo u.a.) als »Rechtsnietzscheanismus« bezeichnen. Nicht erst in der Steuerdebatte, schon in seinem Weltinnenraum des Kapitals (2005) arbeitet Sloterdijk mit der Entgegensetzung von produktiven »working rich« und unproduktiven »parasitären Armen«. Nietzsches Feindschaft gegen die jüdisch-christliche Rassenmischung der »Tschandala« wird in Zorn und Zeit (2006) auf das »aufgebrachte Subproletariat« der Pariser Vorstädte und des politischen Islam übertragen. Nietzsche spricht bei Sloterdijk auch dort mit, wo er nicht explizit erwähnt wird. So argumentiert er in der Revolution der gebenden Hand, das Movens der modernen Wirtschaftsweise sei nicht im Gegenspiel von Kapital und Arbeit zu suchen, sondern in der »antagonistischen Liaison von Gläubigern und Schuldnern«. Der Gedanke geht auf Nietzsches Genealogie der Moral zurück, wo das Verhältnis zwischen Gläubigern und Schuldnern als »ältestes und ursprünglichstes Personenverhältnis« beschrieben wird (KSA 5, 305f). Es erhält damit den Status eines aristokratischen Ursprungsmythos von Gesellschaft. Wo Sloterdijk die »Tendenz zur Ausbeutungsumkehrung« beklagt, bei der die »Unproduktiven« auf Kosten der »Produktiven« leben – noch dazu in dem Glauben, »man tue ihnen unrecht und man schulde ihnen mehr«, erkennt man leicht die Polemik des frühen Nietzsche gegen den sokratisch-optimistischen »Glauben an das Erdenglück aller«, der den »barbarischen Sclavenstand« dazu verführt habe, »seine Existenz als ein Unrecht zu betrachten und für alle Generationen Rache zu nehmen« (KSA 1, 117).

Man muss die nahezu allgegenwärtigen Nietzsche-Bezüge bei Sloterdijk im Auge haben, um Axel Honneths Argument zu verstehen, diesem »nachgeahmten Nietzscheanismus der Ressentimentkritik« liege seinerseits ein Ressentiment zugrunde. Hier geht es um weit mehr als um »intellektuelle Stilarten« und ihre Marktanteile (Hans Ulrich Gumbrecht) oder um den Konflikt zwischen Frankfurter »Hochschulestablishment« und Karlsruher »künstlerischem Freidenkertum« (Richard David Precht). Honneth setzt die sloterdijksche Redeweise von den »Leistungsträgern« der Frage aus, warum z.B. »ein etwa durch Vererbung oder finanzielle Spekulationen erworbenes Vermögen im Sinne irgendeiner Leistung rechtmäßig ›verdient‹ sein soll«. Der Versuch, den Sozialstaat aufs plebejische Ressentiment zurückzuführen, sei Instrument eines »Klassenkampfs von oben«. Darüber hinaus produziere der Kapitalismus, indem er den Einzelnen zur permanenten kreativen Selbstmobilisierung verpflichtet, notwendig jene, »denen ihr Scheitern als Versagen vorgehalten werden kann« (Christoph Menke). Sloterdijk sieht die progressive Einkommensteuer als Enteignung an und vergleicht sie mit sozialistischer Verstaatlichung. Sie führe dazu, dass »eine Handvoll Leistungsträger gelassen mehr als die Hälfte des nationalen Einkommensteuerbudgets bestreitet«. Dem lässt sich entgegenhalten, dass die indirekten Steuern den Hauptteil des staatlichen Steueraufkommens ausmachen und die niedrigeren Einkommen stärker belasten als die höheren (vgl. Rudolf Walther). Der Spitzensteuersatz wurde zwischen 2000 und 2005 von 53 auf 42 Prozent gesenkt und der Anteil der oberen zehn Prozent am gesamten privaten Vermö- gen ist zwischen 2002 und 2007 von 57,9 auf 61,1 Prozent gestiegen (Michael Hartmann). Sloterdijks »Ausbeutungsumkehrung«, bei der die »Leistungsträger« durch eine keynesianische »Staats-Kleptokratie« ausgeplündert werden, ist ein neoliberales Märchen. Zu beobachten ist vielmehr eine umfassende Umverteilung von unten nach oben, die mit Hilfe des neoliberalen Staates durchgesetzt wird.

Vermutlich würden die meisten Kontrahenten dieser Debatte es weit von sich weisen, wenn ihre Beiträge als verschlüsselte Austragungsformen eines Klassengegensatzes interpretiert würden. Und doch stellt dies zumindest eine der Tiefendimensionen dar. Karl-Heinz Bohrer wirft Honneth und Menke vor, »ihrer plebsfreundlichen Entrüstung den Anschein von längst erwiesenen Prinzipien zu geben«. Dagegen beklagt er, vom Sozialstaat um die Pfründe seines »wohlverdienten finanziellen Zugewinns« gebracht zu werden. »Schöner könnte kein Manager das Boni-System verteidigen«, entgegnet Dirk Pilz in der Berliner Zeitung, und Beate Rössler kommentiert in der Frankfurter Rundschau, bei Bohrer (und anderen) zeige sich eine »Gier«, die gut für den kapitalistischen Markt sei, dessen Parteilichkeit man freilich durch »Gerechtigkeit« ausgleichen müsse.

Viele der Sloterdijk-kritischen Beiträge neigen dazu, dem kapitalistischen Eigennutz mit der Anrufung ethischer Werte zu begegnen. Die Beschwörung von ethischen Tugenden und Normen findet sich freilich auch auf der Gegenseite, wenn z.B. Ulrich Greiner der »Tugend der Barmherzigkeit« sowie der »Würde der Armut« zu neuem Leben verhelfen möchte – vorausgesetzt natürlich, es würde allgemein akzeptiert, »dass Ungleichheit zu den menschlichen Grundbedingungen zählt«. Eine solche Armutsfrömmigkeit sei vom Standpunkt der Betroffenen aus betrachtet eine geschmacklose Idealisierung, lautet das ethische Gegenargument Johann Hinrich Claussens. Es gehe nicht um die »Würde der Armut«, sondern um die »Würde der Armen«.

Auch die Ethik erweist sich also als Kampfplatz sozialer Gegensätze. Was die ethischen Werte konkret bedeuten, hängt davon ab, wie sie durchbuchstabiert und mit den Lebens- und Überlebensinteressen der Vielen verbunden werden. Wer sich noch an die Frontstellungen von 1968 erinnert, wird einen Paradigmenwechsel feststellen können: damals stand ein hedonistischer, auf solidarische Selbstbefreiung gerichteter Aufbruch der Studenten- und Jugendbewegung einer »verknöcherten« und »verlogenen« Moral des Nachkriegskonservatismus gegenüber. Heute sind es die konservativen und rechtsliberalen Intellektuellen, die den Gestus des Aktiven und Kreativen, den Hedonismus sowie die »fröhliche Wissenschaft« (Nietzsche) für sich in Anspruch nehmen. Von dieser Warte fertigen sie den linksliberalen Gegner v.a. in Gestalt Honneths als »traurigen Professor« (Sloterdijk), als autoritär-moralisch (Gumbrecht), »moralinsauer« und »verkniffen« (Bohrer), »professoral« und »arrogant« (Precht) oder »schulgerecht« ab (Volker Gerhardt). Es lohnt sich darüber nachzudenken, wie die Linke eine festgefahrene Konfrontation überwinden könnte, bei der der Aktivismus und die Lebensbejahung, freilich in rücksichtsloser und egoistisch vereinseitigter Privatform, neoliberal vereinnahmt werden, während die Kritiker auf sozialethisch wohl begründeten, aber abstrakt erscheinenden »Normen« sitzen bleiben.

Sloterdijk selbst hat in Aufbruch der Leistungsträger (2009) den gesellschaftspolitischen Einsatz seiner Intervention auf den Punkt gebracht: Nach lang anhaltender Periode eines »strukturellen Sozialdemokratismus« (im Sinne eines institutionalisierten Klassenkompromisses) bestehe das Neue nach dem Wahlsieg der schwarz-gelben Koalition darin, dass sich die Leistungsträger nun mit einem »sachten Ruck« aus ihren bisherigen volksparteilichen Verankerungen lösten und bei der FDP eine erste Auffangstation fänden.

Auch wenn dies z.Z. noch nicht realistisch erscheint, ist Sloterdijks Intervention keineswegs irrelevant. Ihre Bedeutung liegt nicht so sehr in der unmittelbaren realpolitischen Umsetzung als in der Deutung der Sozialverhältnisse, d.h. auf dem ideologischen Feld eines in die Krise geratenen Neoliberalismus: In der Wirtschaftskrise ist das Bündnis zwischen Eliten und Mittelschichten großen Belastungen ausgesetzt. Es muss deshalb mit einem permanenten Großeinsatz an ideologischen Anrufungen aufrechterhalten bzw. immer wieder von neuem hergestellt werden. Für die Mittelschicht besteht der Widerspruch z.B. darin, dass sie ökonomisch unter starken Druck geraten ist, während sie politisch als »Mitte« intensiv umworben wird. Ihr Bündnis mit den ökonomisch unerreichbaren Eliten beruht zu einem Großteil auf »Selbstbetrug«, der möglich wird, weil »sie viel Kraft und Aufmerksamkeit darauf verwendet, sich vehement von der Unterschicht abzugrenzen« (Ulrike Herrmann 2010). Dies erklärt den beobachteten Ressentimentbedarf und die hohe Nachfrage nach einem Philosophen, »der sich darauf versteht, Ressentiments in brodelnde Sätze zu kleiden« (Trampert). Die SloterdijkDebatte kann somit als »aktueller Kampf um die Mitte« (Henrique Otten) gelesen werden.

Vielleicht hat der von Irrlitz beobachtete »aufgereizte Klang« der sloterdijkschen Rhetorik über die allgemeine Theatralik des Marktes hinaus noch einen spezifischeren Symptomwert. Wie Lieber/Steinfeld hervorheben, hat Sloterdijks »Zentralstellung der Leistungsträger« keinerlei produktive Basis. Sloterdijk verschwendet keinen Gedanken auf die Frage, aus welcher ökonomischen Basis der beschworene neue Bürgergeist Gehalt, Orientierung und Schwung beziehen soll. Dies ist für sich genommen nicht verwunderlich, da er die Probleme der Arbeit, ihrer gesellschaftlichen Teilung und Organisation, mit heroisch-nietzscheanischem Gestus verbannt und durch die athletische Übung ersetzt hat. Aber diese Leerstelle korreliert nun mit dem grundsätzlichen Problem des Neoliberalismus: dass bislang kein neues Akkumulationsregime in Sicht ist, mit dessen Hilfe die ökonomische Krise überwunden werden könnte.

Dass Sloterdijks hysterisch überdrehte Rhetorik so begierig von einer »neuen Elite« (Honneth) aufgenommen wird, hat seinen Grund nicht zuletzt in dieser strukturellen Schwäche neoliberaler Hegemonie. Dadurch wird Sloterdijks Intervention nicht weniger gefährlich. Was seinem Elitismus bislang fehlt, ist v.a. die wirksame Vermittlung mit einem autoritären Rechtspopulismus. Die Auftritte von Westerwelle und Sarrazin, ob unmittelbar erfolgreich oder nicht, geben uns v.a. einen Hinweis, mit welcher Intensität an solchen diskursiven Verbindungen gearbeitet wird. Schon längst haben prominente Intellektuelle des Großkapitals wie der ehemalige Präsident des BDI Hans Olaf Henkel und der Verfassungsrechtler Herbert von Arnim damit begonnen, sich mit extrem rechten Ideologen aus dem Umfeld der Zeitschrift Junge Freiheit in Fragen der politischen Zielsetzung und Strategie aufeinander zu zu bewegen (vgl. Wagner 2010). Ihre Vorschläge zielen darauf ab, die Parteien so weit als möglich durch charismatische Individuen zu ersetzen und die Bevölkerung in eine von oben lenkbare atomisierte Masse aufzulösen. Eine solche Programmatik ist ideologiepolitisch erfolgversprechend, weil sie die Individuen als freie Bürger anruft und ihnen unter dem Schlagwort »direkte Demokratie« mehr Partizipation verspricht. Freilich darf diese nicht auf die Sphäre der Produktion ausgedehnt werden. Gemeinsamer Fluchtpunkt der politischen Vorstellungen von bürgerlichen Direktdemokraten à la Henkel und dem extrem rechten Lager ist das Ziel eines »plebiszitären Präsidialsystems«, das von unten legitimiert ist, aber von oben hart durchgreifen kann, um die herrschende Wirtschaftsordnung und ihre Profiteure gegen alle Anfechtungen zu verteidigen.

Gramsci hat im Zusammenhang mit seiner Kritik am Ökonomismus in Zweifel gezogen, dass Wirtschaftskrisen »von sich aus fundamentale Ereignisse hervorbringen«. In Wirklichkeit könnten sie nur »einen günstigeren Boden« für die Verbreitung bestimmter Handlungs- und Denkweisen bereiten (Gefängnishefte, H. 13, § 17, 1563). Wie die gegenwärtigen verflochtenen Krisen von der Bevölkerung interpretiert werden, welche Diagnosen und Lösungsvorschläge angenommen werden, hängt von den jeweiligen hegemonialen Kräfteverhältnissen ab. Die Sloterdijk-Debatte ist eine begrenzte, aber symptomatische Momentaufnahme solcher Kräfteverhältnisse.

Der Beitrag ist eine modifizierte Fassung der Einleitung in das von Jan Rehmann und Thomas Wagner herausgegebene Buch Angriff der Leistungsträger? Das Buch zur Sloterdijk-Debatte. Es erscheint im Juni 2010 im Argument-Verlag; darin schreiben u.a.Ulrich Beck, Axel Honneth, Gerd Irrlitz, Stephan Lessenich, Christoph Menke, Thomas Meyer, Richard D. Precht, Franz Sommerfeld, Rainer Trampert, Rudolf Walther. Die Hinweise im Text, die nur mit Namen versehen sind (ohne Jahreszahl oder Seitenangaben), beziehen sich auf die Beiträge im Buch.

 

LITERATUR

Gramsci, Antonio: Gefängnishefte, hg. v. K. Bochmann, W. F. Haug u. P. Jehle, Hamburg 1991ff
Herrmann, Ulrike, 2010: »Die Mittelschicht betrügt sich selbst«, Spiegel Online, 8. April, www.spiegel.de/wirtschaft/soziales/0,1518,687760,00.html
Lang, Franz Peter, 2004: »Was sind eigentlich Leistungsträger?« in: bdvb-aktuell 85,Juli www.bdvb.de/web/ media_get.php?mediaid=2678&fileid=7531&sprachid=1
Nietzsche, Friedrich: Kritische Studienausgabe, hg. v. Giorgio Colli and Mazino Montinari, München De Gruyter, (zit. KSA) 1999
Wagner, Thomas, 2010: Direkte Demokratie statt Selbstvergesellschaftung. Die bonapartistische Offensive der Rechtsintellektuellen, in: Das Argument, 286, 2, 249–55