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Agrarpopulismus von Rechts oder Links? Wie wir um den ländlichen Raum kämpfen müssen

Von Saturnino ›Jun‹ M. Borras

Populismus ist das bewusste Verbinden von unterschiedlichen oder gar konkurrierenden Klassen- oder Gruppeninteressen zu einer relativ einheitlichen Stimme, mit der zu taktischen oder strategischen Zwecken ein »wir« – etwa »das Volk« – gegen die anderen – etwa »die da oben« – mobilisiert wird. Dieser Ansatz ist nicht notwendigerweise rückschrittlich oder reaktionär. Er ist nicht in einem Schwarz-weiß-Schema zu begreifen, sondern in Schattierungen und Graustufen. Auf diese Weise lassen sich unterschiedliche Stränge und Grade des Populismus und dessen Neigung zu Militarismus, Autoritarismus oder Demokratisierung vergleichen: Mugabe in Simbabwe, Thaksin in Thailand, Duterte auf den Philippinen, Modi in Indien, Trump in den USA, Le Pen in Frankreich, Erdoğan in der Türkei, Putin in Russland, Chávez in Venezuela, Correa in Ecuador oder Lula 
in Brasilien. »Zu fragen, ob eine Bewegung populistisch ist oder nicht, ist von vornherein eine falsche Frage«, erklärt Laclau (2005, 45).

»Stellen wir uns lieber die Frage: In welchem Maße ist eine Bewegung populistisch?«

Zwei Formen von Populismus sind Gegenstand dieses Beitrags: (1) der Rechtspopulismus – eine konservative oder reaktionäre Form, die im Namen »des Volkes« in Wirklichkeit den Kapitalismus verteidigt und in seiner gegenwärtigen Ausprägung zudem fremdenfeindlich, nationalistisch, rassistisch oder frauenfeindlich ist; (2) der Agrarpopulismus – die politische Bündelung unterschiedlicher Gruppen- und Klasseninteressen im ländlichen Raum zu einer einheitlichen Gruppierung, der »ländlichen Bevölkerung«. Der Letztere ist antikapitalistisch und propagiert einen »bäuerlichen Weg«, der als Alternative zum zerstörerischen Zugriff des Kapitalismus erscheint. Was ist das Verhältnis zwischen diesen Formen von Populismus? Und wie kann ein emanzipatorischer Agrarpopulismus aussehen, der seinen rechten Gegenpart effektiv schwächen kann?

Die Umwälzung des ländlichen Raums und die politischen Folgen

Auch wenn die zunehmende Urbanisierung in aller Munde ist, lebt die Hälfte der Weltbevölkerung, rund drei Milliarden Menschen, noch immer auf dem Land. Politische Impulse aus dem ländlichen Raum sind zunehmend entscheidend für Wahlen und Demokratisierungsprozesse. Wo diese Wählergruppen relevante Anteile oder sogar die Mehrheit stellen, beeinflussen ländliche Themen auch populistische Diskurse und Kampagnen und werden umgekehrt von diesen beeinflusst.

Dabei können die Probleme, die in einer Region zum Aufstieg einer populistischen Bewegung beitragen, auch in einer anderen Region ihren Ursprung haben oder mit dieser verbunden sein. So hängt etwa der Aufstieg der bevölkerungsreichen und wohlhabenden Industrieregionen im südöstlichen China mit der massiven Landflucht aus anderen Regionen und dem zunehmenden Stadt-Land-Gefälle zusammen, das die chinesische Regierung gezwungen hat, ein populistisches Programm für einen »neuen sozialistischen ländlichen Raum« zu verabschieden. Diese gesamte Entwicklung wiederum ist verbunden mit dem Niedergang vieler Gemeinden in den USA, wo Fabriken stillgelegt wurden, weil das Kapital nach China oder an andere Standorte abgewandert ist. Die populistischen Impulse an unterschiedlichen Schauplätzen – dem ländlichen China, dem städtischen/industriellen China und den deindustrialisierten Regionen in den USA – bilden also einen Zusammenhang. Dies wirft aufs Neue die Frage nach einem Agrarpopulismus auf, der im Licht der aktuellen Populismen neu zu diskutieren ist.

Der Kampf um Ernährungssouveränität als offene Flanke

In den letzten zwei Jahrzehnten ist eine transnationale Bewegung für Ernährungssouveränität entstanden. Sie ist tendenziell breiter aufgestellt als traditionelle ländliche Bewegungen, sowohl was ihre soziale Basis als auch ihre Themen angeht. Sie lässt sich sowohl als Kritik des globalen Ernährungssystems und seiner kapitalistischen Funktion begreifen, als Alternative im oder zum Kapitalismus und als Bewegung, die verschiedene komplementäre Kritiken verbindet und Alternativen aufbaut. Darin beschränkt sie sich nicht ausschließlich auf die Landwirtschaft, ist aber in vielen Punkten – was ihre Wurzeln, ihre soziale Basis und den politischen Impetus angeht – spezifisch ländlich geprägt.

Es gibt heikle Ähnlichkeiten und Verbindungslinien zwischen rechtspopulistischen und anderen populistischen Agrarbewegungen. Sie sind kein Zufall. Die politische Ökonomie, in der diese Populismen entstanden sind, prägt den politischen Raum als ganzen. Die Grenzen zwischen den rechten Strömungen und dem Populismus von Agrarbewegungen wie der für Ernährungssouveränität sind unscharf und fließend. Die Kritik an wirtschaftlichen Eliten und Oligarchen, die mithilfe von korrupten Beamten Industrie und Landwirtschaft aushöhlen, finden in beiden Strömungen ähnliche Resonanz. Die beiden Strömungen können im ländlichen Raum (und auch darüber hinaus) eine überraschend große gemeinsame Massenbasis haben. Das allgemeine Gefühl der Vernachlässigung, der Verlust an Wohlstand und politischem Einfluss, die Arbeitslosigkeit und der soziale Abstieg im ländlichen Raum können hier schnell zu denselben Leitthemen werden. Auch wirtschaftlich prekäre und marginalisierte Stadtbewohner*innen können zwischen den beiden Lagern schwanken.

Das bedeutet auch, dass es ein rutschiges Terrain gibt, auf dem der Populismus progressiver Agrarbewegungen den Rechtspopulismus verstärken und ihm zuarbeiten kann. Die Herausforderung besteht genau darin, den Populismus ohne seine autoritären Verlockungen und seine romantisch-restaurativen Tendenzen neu zu reklamieren. Ein »klassenbewusster Linkspopulismus« mit einem klar antikapitalistischen und sozialistischen Profil, in dem Agrarbewegungen und der Kampf um Ernährungssouveränität eine wichtige Rolle spielen, kann einen entscheidenden Beitrag leisten, um den globalen Vormarsch der rechten Bewegungen zu stoppen und einen positiven Gegenentwurf zu entwickeln.

Es gibt nicht »den« ländlichen Populismus

Für ein solches Projekt ist es notwendig, die Unterschiedlichkeit und Komplexität der transnationalen ländlichen Bewegungen zu betrachten, die in der Diskussion gern als einheitliche und homogene Bewegung dargestellt werden. Das sind sie aber nicht. Eine einfache Klassenanalyse zeigt deren Ausdifferenzierung im Hinblick auf ihre Klassenbasis, ihre Ideologie und ihre Politik (Edelman/Borras 2016). Es ist darum äußerst ungünstig, dass sie so häufig als amorphe »agrarpopulistische Bewegungen« in einen Topf geworfen und politisch abgetan werden.

So wird kaum diskutiert, dass bestimmte indische Bauernbewegungen letztendlich Bewegungen von reichen Großbauern oder durch diese gesteuert und damit strukturkonservativ sind. Auch wenn sie lautstark gegen städtische oder ausländische Konzerne agitieren, lassen sie die grundlegenden Klassenfragen und die Forderungen der Landlosen nach Boden und Arbeit links liegen. Was für diese Bewegung gilt, lässt sich aber nicht auf La Via Campesina als Ganzes übertragen, auch wenn diese Akteure darin wichtige Mitglieder stellen. Die Schlüsselakteure innerhalb der transnationalen Bewegung um La Via Campesina stehen für völlig andere Perspektiven.

Dies wird deutlich, wenn man drei der Gründungsmitglieder von La Via Campesina anschaut: die brasilianische Movimento dos Trabalhadores Rurais Sem Terra (MST), eine locker marxistisch orientierte Landlosenbewegung; die philippinische Bauernbewegung Kilusang Magbubukid ng Pilipinas (KMP),
die zum Kreis der marxistisch-leninistisch-maoistischen Linken gehört; und die andalusische Landarbeitergewerkschaft Sindicato de Obreros del Campo (SOC), die einer anarchosyndikalistischen Tradition entstammt. Sie alle haben explizit sozialistische Ziele und spielten in den verschiedenen Phasen der Entwicklung von La Via Campesina eine wichtige Führungsrolle. Diese
drei Bewegungen entsprechen nicht dem klassischen Muster eines Agrarpopulismus
im leninistischen (oder richtiger stalinistischen) Sinne oder einer der späteren Formen eines »Neopopulismus«; keine von ihnen ist konservativ, reaktionär oder utopistisch; keine ist in ihrer politischen Arbeit klassenblind; keine hat in ihrer Klassenbasis, ihrer Ideologie oder Politik Ähnlichkeit mit den indischen Großbauernbewegungen. Soweit ich aufgrund meiner langjährigen politischen Arbeit in den Agrarbewegungen weiß, tendiert die überwältigende Mehrheit der in La Via Campesina vernetzten Akteure sozial, politisch und ideologisch in unterschiedlichem Maße in die Richtung von MST, KMP oder SOC und weg von einem wie auch immer gearteten klassischen oder »Neo-Agrarpopulismus«.

Der klassenbasierte Populismus
 von La Via Campesina

Die progressiven ländlichen Bewegungen sind heute relativ dynamisch. Sie handeln populistisch, weil sie die unterschiedlichen sozioökonomischen Interessen in einer gemeinsamen Stimme der »Landbevölkerung« bündeln.
Der Aufstieg transnationaler Agrarbewegungen, vor allem von La Via Campesina, und
 die daraus entstandene Aktionsplattform Ernährungssouveränität ist seit der neoliberalen Schwächung der Arbeiterbewegungen und Gewerkschaften in den 1980er Jahren weltweit einer der hoffnungsvollsten Impulse für soziale Gerechtigkeit. La Via Campesina ist – nach unserer Definition des Begriffs – in ihrer Praxis eine populistische Bewegung.
 Ihr Agrarpopulismus ist nicht notwendigerweise klassenblind, wie in den Debatten
oft unterstellt wird. Ganz allgemein sollte
die Annahme, dass Populismus immer mit Klassenblindheit verbunden ist, im konkreten Fall geprüft werden. Nach meiner Auffassung gelingt es einigen dieser Bewegungen (in jedem Fall La Via Campesina oder zumindest großen Teilen davon) gerade durch ihr Klassenbewusstsein, die Interessen verschiedener Klassen und Gruppen ganz bewusst in übergreifenden Projekten zu verbinden.

Das bedeutet nicht, dass sie auf diese Weise die inneren Widersprüche und Gegensätze in diesem Verhältnis, etwa zwischen Bäuer*innen und (migrantischen) Landarbeiter*innen, überwunden hätten. Es bedeutet nur, dass diese Klassenverhältnisse tatsächlich erkannt und benannt wurden, wenn auch in sehr unterschiedlichem Maße und je nach gesellschaftlichem Kontext und historischem Zeitpunkt variierend. Dieser Prozess ist ein notwendigerweise spannungsgeladener und konfliktträchtiger. Ein starres und sektiererisches Verständnis von Marx (und vielleicht auch Lenin) ist eine, aber nicht die einzig mögliche Form von Klassenpolitik, wie uns die gegensätzlichen Ansätze von Jeffery Paige (1975) und Eric Wolf (1969) verdeutlichen.

Eine populistische Klassenagenda

Um größere Wirkung zu haben, müssen sich Agrarbewegungen in breiteren politischen Initiativen engagieren: in Wahlkämpfen, politischen Parteien oder übergreifenden Bündnissen. Sie müssen sich neue Politikfelder erschließen. Die Themen, die sie sich auf die Fahnen schreiben, wie etwa Landreform und Ernährungssouveränität, sind zwar strategisch wichtig, aber aus kapitalistischer Sicht relativ eng oder uninteressant im Vergleich zur allgemeinpolitischen Lage.

Ernährungssouveränität kann nur dann einen wichtigen Beitrag gegen den Rechtspopulismus leisten, wenn sie den Kampf für tief greifende soziale Veränderungen aufnimmt – und zwar auf fünf Ebenen.

1 | Dort, wo der Reichtum und seine Produktionsmittel, vor allem Land, im ländlichen Raum in einer skandalösen Weise monopolisiert werden (tendenziell im Verhältnis von eins zu 99 Prozent), wird die Umverteilung von Reichtum und Macht vordringlich. In Agrargesellschaften umfasst dies auch den freien Zugang und die Nutzung der grundlegenden Produktionsmittel: Land, Wasser, Seen und Wälder, die den Kapitalismus in seinem Kern infrage stellen.

2 | Dort, wo soziale Ausgrenzung, Marginalisierung und Diskriminierung einen Unterdrückungskomplex von Fremdenfeindlichkeit, Rassismus und Sexismus bilden,
wird das Ringen um Anerkennung zu einem zentralen Kampf, der die Rückschrittlichkeit der Rechtspopulisten offenlegt. In Agrargesellschaften kann dies eine Anerkennung des Rechts indigener Völker auf ihr Territorium umfassen oder auch das Recht von Frauen auf Zugang zu und Kontrolle von lebenswichtigen Ressourcen wie Land, Wasser und Wald.

3 | Wo Menschen ihr Land, ihre Häuser, ihre Ersparnisse, Renten und andere Produktions- und Reproduktionsmittel verlieren, weil sie ihnen von Konzernen weggenommen werden, oder dort, wo sie von Finanzhaien um ihre Gesundheitsversorgung betrogen werden, sind soziale Kämpfe um die Wiederaneignung (Restitution) zentral. In vielen ländlichen Gebieten bedeutet dies eine Rückerstattung von Land, Territorium, Wasser und Wäldern, besonders im Lichte des globalen Landraubs der letzten zehn Jahre.

4 | Die Umwelt- und Klimakrise ist das Merkmal unserer heutigen Phase der Weltgeschichte. Sie wird weitgehend vom Kapitalismus verursacht und ist tief in seiner Geschichte verwurzelt. Soziale Kämpfe für ökologische Regeneration und Umweltgerechtigkeit sind darum integraler Bestandteil der Kämpfe für soziale Gerechtigkeit. In den Agrarbewegungen für Ernährungssouveränität bedeutet dies auch den Kampf für eine ökologische Bewirtschaftung des Landes.

5 | Diese vier Ziele einer grundlegenden sozialen Veränderung können nur durch entschlossenen, unnachgiebigen und disruptiven Wider- stand innerhalb oder gegen den Kapitalismus erreicht werden – das bedeutet: durch politische Revolution. Dies konfrontiert Agrarbewegungen unmittelbar mit rechtspopulistischen Gruppen.

Die fünf R (Redistribution, Recognition, Restitution, Regeneration, Resistance) lassen sich nicht als Checkliste behandeln, aus der man beliebig auswählen kann. Sie hängen in ihrer Logik zusammen, weil sie auf verschränkte Entwicklungen und Unterdrückungslogiken antworten.

Klasse und Populismus zu verbinden
ist notwendig, trotz der darin unvermeidlich angelegten Konflikte und Widersprüche, doch der politische Akt dieser Verbindung erfolgt nicht per Zufall. Am vielversprechendsten ist ein erweiterter und neu belebter Linkspopulismus, der antikapitalistisch und sozialistisch ausgerichtet ist und sich grundlegend auf übergreifende Bündnisse stützt: zwischen den armen und mittleren Bäuer*innen, der »Arbeiterklasse« beziehungsweise der »arbeitenden Bevölkerung« sowie den prekären Teilen der Mittelschicht – und den sich darin überlappenden Gruppen, die durch Merkmale wie soziale Gruppe, Geschlecht, Rasse, Religion, Generation definiert werden. Ein solcher klassenbasierter Populismus weist weit hinaus über einen Populismus, der im Kern auf Identität basiert und die Klassenfrage negiert, unter den Tisch fallen lässt oder in eine Fußnote verbannt.

Aus dem Englischen von Thomas Laugstien

 

Literatur