| Ärger im Paradies

September 2013  Druckansicht
Slavoj Žižek

Slavoj Žižek zu den globalen Protesten

In seinen frühen Texten stellt Marx die damaligen deutschen Zustände so dar, dass partikularen Problemen nur mit einer universellen Lösung begegnet werden könne: der Weltrevolution. Der Unterschied zwischen reformistischen und revolutionären Zeiten kommt hier auf den Punkt: In einer reformistischen Periode bleibt die Weltrevolution ein Traum, der – falls er überhaupt irgendeine Wirkung hat – lediglich lokalen Kämpfen mehr Gewicht verleiht. In revolutionären Perioden hingegen wird deutlich, dass es ohne radikale globale Veränderung gar keine Verbesserungen geben kann. In diesem rein formalen Sinne war 1990 ein revolutionäres Jahr: Es war klar, dass Teilreformen der kommunistischen Staaten nicht ausreichen würden und ein absoluter Bruch notwendig war, schon um so grundlegende Dinge sicher zu stellen wie, dass die Menschen genug zu essen haben.

Wo stehen wir heute hinsichtlich dieser Unterscheidung? Sind die Probleme und Proteste der letzten Jahre Anzeichen einer kommenden globalen Krise oder sind sie lediglich kleine Hindernisse und Widerständigkeiten, die durch lokale Interventionen ausgeräumt werden  können? Das Bemerkenswerteste dieser Eruptionen scheint mir, dass sie sich nicht nur, und nicht einmal vorwiegend, an den schwächsten Punkten des Systems ereignen, sondern an Orten, die bisher als Erfolgsmodelle galten. Wir wissen, warum Menschen in Griechenland oder Spanien protestieren. Aber warum kommt es in so reichen oder schnell wachsenden Ländern wie der Türkei, Schweden oder Brasilien zu Auseinandersetzungen? Rückblickend könnten wir die Revolution Khomeinis im Jahr 1979 als den ersten „Ärger im Paradies“ bezeichnen. Sie ereignete sich in einem Land, das sich auf der Überholspur der pro-westlichen Entwicklung befand und der wichtigste Alliierte des Westens in der Region war. Vielleicht stimmt etwas nicht mit unserer Vorstellung vom Paradies.

Bis zur aktuellen Protestwelle galt die Türkei als Musterbeispiel eines Staates, der in der Lage war, eine florierende liberale Wirtschaft mit einem moderaten Islamismus zu verbinden, bereit war für Europa, und einen willkommenen Kontrast zum ‚europäischeren’ Griechenland bildete, das in ideologischem Sumpf und wirtschaftlicher Selbstzerstörung feststeckte. Ja, es gab hin und wieder einige unheilvolle Anzeichen (die Leugnung des Armenischen Holocausts durch den türkischen Staat, die Verhaftungen von JournalistInnen, der ungeklärte Status der KurdInnen, Rufe nach einer Groß-Türkei in osmanischer Tradition, die gelegentliche Verhängung religiöser Gesetze) aber sie wurden als kleine Makel abgetan, die doch das Gesamtbild nicht trüben könnten.

Dann explodierten die Proteste auf dem Taksim-Platz. Alle wissen, dass sich die Proteste nicht ‚wirklich’ darum drehten, dass ein an den Platz angrenzender Park einem Einkaufszentrum weichen sollte. Und alle wissen, dass dort ein viel tiefer liegendes Unbehagen immer weiter um sich greift. Das Gleiche gilt für die Proteste in Brasilien Mitte Juni: Sie hatten sich an einer geringen Preiserhöhung im öffentlichen Nahverkehr entzündet, aber die Proteste gingen weiter, auch nachdem diese wieder rückgängig gemacht worden war. Auch hier sind die Proteste in einem Land explodiert, das – zumindest den Medien zufolge – einen Wirtschaftsboom erlebt und jeden Anlass zu Optimismus haben sollte. In diesem Fall wurden die Proteste dem Anschein nach von Präsidentin Dilma Rousseff unterstützt, die ihre Freude darüber öffentlich erklärte.

Es ist entscheidend, die Proteste in der Türkei nicht nur als Aufstand einer säkularen Gesellschaft gegen ein autoritäres islamistisches Regime zu verstehen, das von einer schweigenden muslimischen Mehrheit unterstützt wird. Die antikapitalistische Stoßrichtung der Proteste macht die Konstellation komplizierter: Die Protestierenden erkennen intuitiv, dass sich der Fundamentalismus der freien Marktwirtschaft mit einem islamistischen Fundamentalismus nicht ausschließt. Die Privatisierung öffentlichen Raumes durch eine islamistische Regierung zeigt, dass beide Formen von Fundamentalismus Hand in Hand gehen können: Ein klares Indiz dafür, dass die Scheidung der ‚ewigen’ Ehe zwischen Demokratie und Kapitalismus näher rückt.

Es ist außerdem wichtig zu erkennen, dass die Protestierenden kein ‚wirkliches’ Ziel verfolgen. Die Proteste richten sich nicht ‚wirklich’ gegen den globalen Kapitalismus, nicht ‚wirklich’ gegen religiösen Fundamentalismus, sie treten nicht ‚wirklich’ für bürgerliche Freiheiten und Demokratie ein, oder ‚wirklich’ für oder gegen irgendwelche Anliegen im Einzelnen. Die Mehrheit der Menschen, die sich an den Protesten beteiligt haben, empfindet ein unspezifisches Gefühl des Unwohlseins und der Unzufriedenheit, aus dem die konkreten Forderungen entspringen und das sie miteinander verbindet. Die Auseinandersetzungen um ein klareres Verständnis der Proteste sind nicht nur epistemologische, in denen JournalistInnen und TheoretikerInnen sich bemühen, deren wahren Inhalt zu erklären; es sind auch ontologische Auseinandersetzungen mit dem Ding an sich – sie werden im Rahmen der Proteste selbst ausgetragen: Ist dies lediglich ein Kampf gegen eine korrupte Stadtverwaltung? Ist dies ein Kampf gegen autoritäre islamistische Herrschaft? Ist dies ein Kampf gegen die Privatisierung öffentlichen Raums? Die Frage ist offen und ihr Ausgang hängt von einem andauernden politischen Prozess ab.

Als 2011 die Proteste in Europa und im Nahen Osten begannen, behaupteten viele, sie dürften nicht als globale Bewegung gesehen werden. Jeder Protest sei die Reaktion auf eine ganz spezifische Situation. In Ägypten forderten die Protestierenden das, wogegen die Occupy-Bewegung in anderen Ländern auf die Straße ging: „Freiheit“ und „Demokratie“. Auch innerhalb der muslimischen Länder gab es entscheidende Unterschiede: Der Arabische Frühling in Ägypten war ein Aufstand gegen ein korruptes, autoritäres, pro-westliches Regime; die grüne Revolution im Iran, die 2009 begann, richtete sich gegen einen autoritären Islamismus. Es ist offensichtlich, dass eine solche Partikularisierung der Proteste VerfechterInnen des Status Quo entgegenkommt: Sie stellen keine Bedrohung für die Weltordnung an sich dar, sondern lediglich eine Reihe separater, lokaler Probleme.

Der globale Kapitalismus ist ein komplexer Prozess, der sich in verschiedenen Ländern unterschiedlich auswirkt. Bei all ihrer Vielfältigkeit haben die Proteste jedoch gemein, dass sie auf unterschiedliche Facetten dieser kapitalistischen Globalisierung reagieren. Die allgemeine Tendenz des heutigen globalen Kapitalismus zielt in Richtung einer Ausweitung des Marktes, einer schleichenden Privatisierung öffentlichen Raums, eines Abbaus staatlicher Dienstleistungen (Gesundheitsversorgung, Bildungseinrichtungen und Kultur) und einer autoritärer werdenden Staatsmacht. Dies ist der Kontext, in dem die GriechInnen gegen die Herrschaft des internationalen Finanzkapitals und ihrer eigenen korrupten und ineffizienten Regierung kämpfen; in dem die TürkInnen gegen Korruption und religiösen Autoritarismus protestieren; die ÄgypterInnen gegen ein Regime aufstehen, das von westlichen Mächten gestützt wird; die IranerInnen gegen Korruption und religiösen Fundamentalismus, und so weiter. Keiner dieser Proteste kann auf ein Anliegen reduziert werden. Sie reagieren alle auf eine spezifische Kombination von mindestens zwei Problemen: einem ökonomischen (von Korruption über Ineffizienz bis hin zum Kapitalismus an sich) und einem politisch-ideologischen (von der Forderung nach Demokratie bis hin zur Forderung, die bestehende Mehrparteien-Demokratie zu stürzen). Das trifft auch auf die Occupy-Bewegung zu. Unter den (oftmals verwirrten) Äußerungen hatte die Bewegung zwei grundlegende Stoßrichtungen: erstens eine Unzufriedenheit mit dem kapitalistischen System als solchem, nicht nur mit einigen partikularen, lokalen Korruptionen; zweitens ein Bewusstsein dafür, dass die institutionalisierte Form der repräsentativen Demokratie mit einem Mehrparteiensystem nicht in der Lage ist, die Exzesse des Kapitalismus zu bekämpfen – die Demokratie also neu erfunden werden muss.

Nur weil die eigentliche Ursache der Proteste der globale Kapitalismus ist, bedeutet dies nicht, dass die einzige Lösung darin besteht ihn sofort abzuschaffen. Die pragmatische Alternative, nur individuelle Probleme anzugehen und auf eine radikalere Transformation zu warten, ist jedoch ebenso wenig gangbar. Sie lässt den Umstand außer Acht, dass der globale Kapitalismus notwendigerweise widersprüchlich ist: Die Freiheit der Märkte geht Hand in Hand mit US-Subventionen und Schutzmaßnahmen für die eigene Landwirtschaft; Demokratie zu predigen geht damit einher, Saudi Arabien zu unterstützen. Diese Widersprüche öffnen den Raum für politische Intervention: Wo immer das globale kapitalistische System gezwungen wird, seine eigenen Regeln zu brechen, entsteht die Möglichkeit darauf zu bestehen, dass es diese Regeln befolgt. Widerspruchsfreiheit an strategisch gewählten Punkten einzufordern, an denen das System auf seine Widersprüchlichkeit nicht verzichten kann, setzt das gesamte System unter Druck. Die Kunst der Politik besteht darin, konkrete Forderungen aufzustellen, die – obwohl sie durchaus realistisch sind – das Zentrum hegemonialer Ideologie treffen und sehr viel radikalere Veränderung bewirken. Obwohl machbar und legitim, sind solche Forderungen de facto unmöglich. Obamas Forderung nach einer allgemeinen Gesundheitsversorgung war eine solche Forderung – deshalb ist sie auch auf so heftigen Widerstand gestoßen.

Eine politische Bewegung beginnt mit einer Idee, mit etwas, worum es sich lohnt zu kämpfen. Aber im Laufe der Zeit verändert sich die Idee – nicht nur durch taktische Zugeständnisse, sondern durch eine grundlegende Redefinition – weil die Idee selbst Teil des Prozesses wird: Sie wird überdeterminiert.[1] Nehmen wir einmal an, eine Revolte beginnt mit der Forderung nach Gerechtigkeit, z.B. in Form einer Forderung nach einer bestimmten Gesetzesänderung. Wenn Menschen sich tiefer in diese Revolte hineinbegeben, merken sie, dass sich viel mehr als ihre ursprüngliche Forderung ändern müsste, um wahre Gerechtigkeit herzustellen. Das Problem besteht darin, dieses ‚viel mehr’ zu definieren. Liberal-pragmatischen Auffassungen nach lassen sich Probleme schrittweise lösen, eins nach dem anderen: „In Ruanda sterben jetzt Menschen, vergesst anti-imperialistische Kämpfe, lasst uns einfach das Schlachten beenden.“ Oder: „Wir müssen Armut und Rassismus hier und jetzt bekämpfen, wir können nicht warten, bis die kapitalistische Weltordnung zusammenbricht.“ In diesem Sinne argumentiert auch John Caputo in seinem Buch After the Death of God (2007):

„Ich wäre wunschlos glücklich, wenn die linksradikalen PolitikerInnen in den USA in der Lage wären, das System zu reformieren, indem sie eine allgemeine Gesundheitsversorgung einführen, eine effektive Umverteilung des gesellschaftlichen Reichtums durch eine veränderte Steuergesetzgebung erreichen, wirksam Parteispenden einschränken, allen WählerInnen zu ihrem Stimmrecht verhelfen, migrantische ArbeiterInnen würdevoll behandeln und eine multilaterale Außenpolitik umsetzen, die die USA zu einem Teil der internationalen Gemeinschaft werden ließe, etc. Wenn sie also dem Kapitalismus durch ernste und weitreichende Reformen Einhalt gebieten würden […] Und wenn nach der Umsetzung all dieser Maßnahmen Badiou und Žižek sich immer noch darüber beschweren würden, dass wir von einem Monster namens Kapitalismus verfolgt werden – dann würde ich diesem Monster wohl nur ein Gähnen entgegenbringen.“

Das Problem ist dabei nicht Caputos Schlussfolgerung: Wenn wir all dies innerhalb des Kapitalismus erreichen können, warum reicht das nicht? Das Problem ist die zu Grunde liegende Prämisse, dass es möglich sei, all dies innerhalb des globalen Kapitalismus in seiner heutigen Form zu erreichen. Was, wenn die von Caputo aufgezählten Defekte des Kapitalismus nicht kontingente Störungen, sondern strukturelle Notwendigkeiten sind? Was, wenn Caputos Traum der Traum einer allumfassenden kapitalistischen Ordnung ohne ihre eigenen Symptome wäre, ohne die entscheidenden Punkte, an denen sie ihre ‚unterdrückte Wahrheit’ zeigt?

Die heutigen Proteste und Revolten sind von sich überlappenden Forderungen getragen, und das macht ihre Stärke aus: Sie kämpfen für ‚normale’ parlamentarische Demokratie gegenüber autoritären Regimen; gegen Rassismus und Sexismus, vor allem wenn sie sich gegen MigrantInnen und Flüchtende richten; gegen Korruption in Politik und Wirtschaft und gegen industrielle Umweltverschmutzung etc.; für den Wohlfahrtsstaat und gegen Neoliberalismus; und für neue Formen der Demokratie jenseits von Mehrparteien-Ritualen. Sie stellen auch das globale kapitalistische System an sich in Frage und versuchen, die Idee einer Gesellschaft jenseits des Kapitalismus am Leben zu erhalten. Hierbei vermeiden sie zwei Fallen: falschen Radikalismus („Die wirkliche Frage ist die Überwindung des liberalen parlamentarischen Kaptitalismus, alle anderen Kämpfe sind zweitrangig“) aber auch falschen Gradualismus („In diesem Moment sollten wir gegen die Militärdiktatur kämpfen und für einfache Demokratie, alle Träume vom Sozialismus sollten erstmal auf später verschoben werden.“) An dieser Stelle kann man sich ganz ohne Scham an die maoistische Unterscheidung zwischen Haupt- und Nebenwidersprüchen erinnern, zwischen denen, die letzten Endes ausschlaggebend sind und jenen, die in diesem Moment herrschen. Es gibt Situationen, in denen das Beharren auf den Hauptwidersprüchen bedeutet, eine Chance auszulassen, eine wichtige Schlacht im Kampf zu gewinnen.

Nur eine Politik, die die Komplexität der Überdeterminierung berücksichtigt, verdient es, Strategie genannt zu werden. Wenn wir uns in einem spezifischen Kampf engagieren, ist die zentrale Frage: Wie wird sich unser Eintreten oder Ausscheiden aus diesem Kampf auf andere Kämpfe auswirken? Im Allgemeinen lässt sich folgende Regel erkennen: Wenn ein Aufstand gegen ein repressives, halb-demokratisches Regime beginnt, wie 2011 im Nahen Osten, ist es zunächst leicht, große Massen durch Slogans zu mobilisieren – für Demokratie, gegen Korruption etc. Aber bald werden wir vor weitaus schwierigere Entscheidungen gestellt. Wenn die Revolte ihr anfängliches Ziel erreicht hat, wird uns bewusst, dass das, worunter wir wirklich leiden (unser Mangel an Freiheit, unsere Demütigung, Korruption, schlechte Entwicklungschancen) in neuer Form weiter besteht. Das zwingt uns zu der Erkenntnis, dass unser Ziel unzureichend war. Es könnte die Schlussfolgerung nahelegen, dass Demokratie an sich eine Form der Unfreiheit darstellt, oder dass wir mehr als nur politische Demokratie fordern müssen: Das soziale und ökonomische Leben muss auch demokratisiert werden. Zunächst sehen wir also den Defekt darin, dass ein nobles Prinzip (die demokratische Freiheit) nicht bis zuletzt angewandt wurde. Später erkennen wir, dass der Defekt dem Prinzip inhärent ist. Diese Erkenntnis – dass der Defekt dem Prinzip innewohnt, für das wir kämpfen – ist ein riesiger Schritt in einem politischen Bildungsprozess.

RepräsentantInnen der herrschenden Ideologie fahren ihr gesamtes Geschütz auf, um zu verhindern, dass wir zu diesem radikalen Schluss gelangen. Sie wollen uns glauben machen, dass demokratische Freiheit Verantwortung mit sich bringt, dass man einen Preis für sie zahlen müsse und dass es unreif sei zu viel von der Demokratie zu erwarten. In einer freien Gesellschaft, so erzählen sie, müssten wir uns alle als KapitalistInnen verhalten, die in ihr eigenes Leben investieren: Wenn wir die notwendigen Opfer nicht bringen oder eben scheitern, tragen wir selbst die Schuld daran. In einem unmittelbar politischen Sinne haben die USA in ihrer Außenpolitik konsequent die Strategie der Schadensbegrenzung verfolgt, indem sie Aufstände in akzeptable parlamentarisch-kapitalistische Formen überführten: In Südafrika nach dem Ende der Apartheid, auf den Philippinen nach dem Sturz Marcos´, in Indonesien nach Suharto, etc. An dieser Stelle beginnt jedoch die eigentliche Politik: Die Frage ist, wie man nach der ersten aufregenden Veränderungswelle weitermacht. Wie kann man die nächsten Schritte gehen, ohne der Verführung des Totalitarismus zu erliegen? Wie kann man sich über Mandela hinaus entwickeln, ohne zu einem Mugabe zu werden?

Was würde das in einer konkreten Situation bedeuten? Vergleichen wir zwei benachbarte Länder, Griechenland und die Türkei. Auf den ersten Blick mögen sie komplett verschieden scheinen: Griechenland ist in einer ruinösen Austeritätspolitik gefangen, während sich die Türkei eines wirtschaftlichen Booms und seines Aufstiegs zur regionalen Supermacht erfreut. Aber was wäre, wenn die Türkei ihr eigenes Griechenland hervorbrächte, ihre eigene Insel des Elends beinhaltete? Brecht formuliert es in den Hollywood-Elegien so:

Das Dorf Hollywood ist entworfen nach den Vorstellungen
Die man hierorts vom Himmel hat. Hierorts
Hat man ausgerechnet, daß Gott
Himmel und Hölle benötigend, nicht zwei
Etablissements zu entwerfen brauchte, sondern
Nur ein einziges, nämlich den Himmel. Dieser
Dient für die Unbemittelten, Erfolglosen
Als Hölle.

Dies beschreibt treffend das heutige ‚globale Dorf’: Qatar oder Dubai beispielsweise sind Spielplätze für Reiche, errichtet auf Bedingungen, die für die migrantischen ArbeiterInnen an Sklaverei grenzen. Bei genauerem Hinsehen erkennen wir auch die Gemeinsamkeiten zwischen der Türkei und Griechenland: die Privatisierung, die Umschließung öffentlichen Raums, der Abbau von Sozialleistungen, der Aufstieg autoritärer Politikformen. Auf einer elementaren Ebene kämpfen griechische und türkische Protestierende den gleichen Kampf. Der wahre Weg wäre es, beide Bewegungen zu koordinieren, patriotische ‚Versuchungen’ zurückzuweisen, die historische Feindschaft der beiden Länder zu überwinden und den Boden für Solidarität zu bereiten. Die Zukunft der Proteste könnte davon abhängen.

 

Aus dem Englischen von Tashy Endres

Dieser Text erschien zuerst im London Review of Books www.lrb.co.uk (zunächst online am 28.06.2013, später in der 35. Ausgabe des LRB)



[1] Im Vorwort zur Kritik der Politischen Ökonomie schreibt Marx (in seiner schlimmsten evolutionistischen Art), dass die Menschheit sich nur Aufgaben stellt, die sie lösen kann. Was, wenn wir diese Aussage umdrehen, und behaupten, dass sich die Menschheit nur Aufgaben stellt, die sie nicht lösen kann, dabei aber einen unvorhersehbaren Prozess in Gang setzt, innerhalb dessen die Aufgabe selbst neu definiert wird?