| ABC der Transformation: Doppelte Transformation

Mai 2017  Druckansicht
Dieter Klein & Mario Candeias

Doppelte Transformation (von Dieter Klein)

Trotz aller Fortschritte, die die kapitalistische Moderne mit sich gebracht hat, haben sich die Destruktivkräfte in ihr potenziert: Die Zerstörung der natürlichen Lebensgrundlagen schreitet voran; trotz des verfügbaren Reichtums auf der Erde leiden rund eine Milliarde Menschen unter Hunger und absoluter Armut. Die Kluft zwischen Arm und Reich wächst; Demokratie und der soziale Zusammenhalt der Gesellschaften erodieren; die Finanzmärkte stürzen die globale Wirtschaft wiederholt in Krisen. Staaten zerfallen, es kommt zu Kriegen, die durch die Waffenexporte der Industrieländer genährt werden, patr­iarchale Herrschaft ist so wenig überwunden wie Rassismus, und die Würde des Menschen wird permanent verletzt. Dies alles zeigt, wie dringend eine Überwindung des Kapitalismus und der Aufbau einer besseren Gesellschaft nötig sind: eine zweite »Große Transformation« (Polanyi), die als linke Perspektive für das 21. Jahrhundert den Übergang zu einem demokratischen und grünen Sozialismus markiert.

Aber eine Revolution im klassischen Sinne eines großen, zeitlich gerafften Umsturzakts ist in Europa nicht in Sicht. Zu groß ist die Machtfülle der herrschenden Eliten, zu schwach die segmentierte Linke, zu tief die Verankerung bürgerlicher Denkweisen und Maßstäbe in der Bevölkerungsmehrheit. Zu sehr fehlt eine einende linke Erzählung, das heißt, eine Vorstellung von den Umrissen einer künftigen menschenwürdigen Gesellschaft und möglichen Wegen dorthin, die das Verharren in Alternativlosigkeit aufsprengen kann. Vor allem jedoch kann kein noch so mächtiges Umsturzereignis allein angesichts der Größe und Komplexität der aufgestauten Probleme schnelle Lösungen versprechen, diese sind nur möglich, wenn tiefe Brüche mit lang andauernden sozialökologischen Reformprozessen verknüpft werden (Wright 2010, 315).

Herkömmliche Reformen sozialdemokratischen Typs haben erhebliche politische und soziale Fortschritte gebracht. Aber als in den 1970er Jahren der sozialstaatlich regulierte Kapitalismus (Fordismus) in eine tiefe Krise geriet, hätte es neuer radikaler Schritte bedurft, über die bis dahin praktizierten Reformen hinaus. Eigentums- und Machtverhältnisse hätten angetastet werden müssen, um in der damals entstandenen Scheideweg-Situation eine emanzipatorische Entwicklung zu beschreiten. Doch dazu war die etablierte Reformpolitik nicht in der Lage. Traditionelle, im Rahmen des Kapitalismus verbleibende Reformen reichen auch heute nicht aus angesichts der Größe der globalen Gefahren und künftigen Herausforderungen.

Wenn aber weder Reform noch Revolution allein den Erfordernissen unserer Zeit genügen, wird ein anderer konzeptioneller Zugang zur Bewältigung der herangereiften großen Fragen notwendig. Als eine dritte Entwicklungsweise gerät die Transformation in den Blick, genauer: eine doppelte Transformation. Der Begriff bezeichnet einen Übergangsprozess, der nicht eine ereignishaft-plötzliche revolutionäre Zeitenwende ist und doch entschieden anderes bedeutet als gemäßigte Reformen innerhalb eines ›Weiter so‹. Entscheidend für linke Politik in den kommenden Zeiten wird sein, für Verbesserungen der gegenwärtigen Lage der Menschen zu kämpfen und zugleich die Bedingungen für weiter reichende Veränderungen zu schaffen. Die kapitalistische Zivilisation mit ihren Produktions- und Lebensweisen und ihren Geschlechterverhältnissen muss schon im Rahmen des Übergangs zu progressiveren bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaften infrage gestellt werden.

Die doppelte Transformation bewahrt die Stärken von Reform und Revolution, die Machbarkeit von begrenzten Projekten ebenso wie das Insistieren auf revolutionärer Tiefe der heranreifenden Brüche. Und sie birgt die Möglichkeit, die Schwächen beider zu überwinden: Die Akteure gewohnter Reformen schrecken vor Veränderungen von Macht- und Eigentumsverhältnissen zurück. Solche Reformen werden deshalb immer wieder für die flexible Bewahrung der gegebenen Herrschaftsverhältnisse vereinnahmt. Die Schwäche von Akteuren, die auf revolutionäre Kraftakte setzen, ist, dass sie sofort und umfassend erreichen wollen, was nur in längeren Prozessen realisierbar ist und vieler Kompromisse bedarf. Das birgt die Gefahr, sektiererisch an den Rand der Gesellschaft zu geraten, und mündete im Staatssozialismus in Diktatur, Repression und opferreicher Gewalt.

Als erste Seite einer doppelten Transformation in Deutschland und in großen Teilen Europas ist für eine lange Zeitspanne im besten Falle eine progressive demokratische Transformation zu erwarten, die stärker sozial und ökologisch orientiert ist als bisher – unter der notwendigen Voraussetzung einer Verschiebung der gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse nach links. Bereits eine solche Überwindung des neoliberalen Kapitalismus wäre ein enormer Fortschritt, würde aber im bürgerlich-kapitalistischen Rahmen umkämpft bleiben. Die kapitalistischen Kräfte wären jedoch weiterhin bestrebt, die Transformation zu begrenzen oder zurückzurollen.Um das Erkämpfte zu sichern, vor allem aber, um langfristig statt Profit die freie Persönlichkeitsentfaltung als zentrale Idee einer alternativen Entwicklung zu etablieren, muss eine doppelte Transformation mehr als einen systeminternen Wandel einschließen. Ihre zweite Seite sollte darin bestehen, dass bereits im Verlauf innersystemischer Transformation antikapitalistische und potenziell sozialistische Tendenzen, Elemente, Institutionen und Praxen entwickelt und gestärkt werden. In die Transformation muss der Einstieg in die Überschreitung des Kapitalismus, also der Beginn einer zweiten Großen Transformation, hineingeholt werden. Demokratischer Sozialismus ist nicht unmittelbar als nächste historische Formation nach dem neoliberalen Kapitalismus zu erwarten, aber auch nicht erst nach einem – hoffentlich erreichbaren – postneoliberalen Kapitalismus und säuberlich getrennt von diesem.

Ansätze, die mitten in bürgerlichen Gesellschaften Einstiegsprojekte in eine Große Transformation werden könnten, sind beispielsweise die Verstaatlichung von Banken – wenn sie denn für einen gesellschaftlichen Einfluss auf das Finanzsystem und seine Kontrolle genutzt würde! –, die Existenz öffentlicher Daseinsvorsorge und eines breiten Non-Profit-Sektors, die Rekommunalisierung privatisierter Unternehmen wie Stadtwerke und Kliniken, Unternehmen der Solidarwirtschaft, geschlechtergerechte Aufwertung der Reproduktions- oder Sorgearbeit und die Förderung für Kinder aus bildungsfernen Familien, selbstverwaltete Mietersyndikate, Formen demokratischer Staatlichkeit von unten wie die Consejos comunales und die Misiones [kommunale Selbstverwaltungs- und Entwicklungsorgane] in Venezuela, partizipative Bürgerhaushalte, Stadtteilversammlungen wie in Madrid und generell Kämpfe um eine umfassende Durchsetzung sozialer und demokratischer Rechte (Candeias/Völpel 2014).

Ein durchgesetztes Recht auf einen Kitaplatz für alle Vorschulkinder wäre noch kein antikapitalistischer Schritt. Aber in Verbindung mit anderen Reformen zur Überwindung des Bildungsprivilegs der Machteliten hätte es doch antikapitalistische Züge. Ein solcher Schritt birgt Grundlagen für die Verschiebung des Kräfteverhältnisses nach links, in ihm steckt etwas von der Grundidee des Sozialismus, der Persönlichkeitsentfaltung einer und eines jeden. Wenn statt entwürdigender Diskriminierung von Flüchtlingen die Integration der Zugewanderten in die Gesellschaft vorangebracht wird, ist das ebenfalls kein antikapitalistischer Vorgang, doch es bedeutet, dass die Gesellschaft ein Stück menschlicher und solidarischer wird. Was ist Sozialismus aber anderes als Bewegung in diese Richtung? Wenn statt fortschreitender Privatisierung der Sektor der öffentlichen Güter und der öffentlichen Daseinsvorsorge für alle ausgeweitet wird, läuft das durchaus auf eine Einschränkung privater Kapitalmacht unter bürgerlichen Verhältnissen hinaus. Wenn die Rekommunalisierung von Stadtwerken die Macht der Energiekonzerne in einer wachsenden Zahl von Gemeinden beschneidet, ist auch dies gewiss kein Sozialismus. Aber ein Stück Antikapitalismus und ein Hauch von Sozialismus wirken darin, wenn über Gesundheit, Licht und Wärme statt des Profits das Gemeinwohl bestimmt. Ein öffentlicher Bankensektor als Gegengewicht zu privaten Finanzakteuren und starke internationale Regulierung der Finanzmärkte würden die Eigentums- und Machtverhältnisse auf einem wichtigen Feld verändern. Eine Besteuerung spekulativer Finanztransaktionen, hohe Steuersätze für die Superreichen anstelle von Austeritätspolitik, zwingende anspruchsvolle Umweltstandards und langfristige ökologisch orientierte Strukturpolitik würden zumindest über den neoliberalen Kapitalismus hinausweisen und weitere Perspektiven eröffnen.

Für sich genommen sprengen all diese Entwicklungen keineswegs die bürgerlich-kapitalistischen Verhältnisse. Aber durch breite Bündnisse ihrer Träger*innen zusammengeführt und orientiert durch »das stärkste Fernrohr, das des geschliffenen utopischen Bewusstseins, um gerade die nächste Nähe zu durchdringen« (Bloch 1959, 11), könnten sie eine Verschränkung von systeminterner und systemüberschreitender Transformation einleiten.

Das Konzept einer doppelten Transformation als eine theoretische Grundlage für die Strategie einer modernen Linken verspricht erheblichen politischen Gewinn, »es begreift das Neue als eines, das im bewegt Vorhandenen vermittelt ist, ob es gleich, um freigelegt zu werden, aufs Äußerste den Willen zu ihm verlangt« (ebd., 2). Es bietet eine Grundlage für ein produktives Zusammenwirken von reformerischen und radikalen linken Kräften, befreit von wechselseitigen Abgrenzungen und Anfeindungen. Es könnte als konzeptionelle Grundlage für eine gesellschaftliche Mosaiklinke wie für ein neues linkes Crossover in der Parteienlandschaft verstanden werden. Es richtet sich auf gegenwärtig machbare Reformschritte, enthält aber eine orientierende Vision für die Zukunft. Das Konzept einer doppelten Transformation deutet einen demokratischen Sozialismus nicht allein als das künftige, ganz andere Gesellschaftssystem, sondern ebenso als Weg, Bewegung und orientierendes Wertesystem für den langen Prozess dahin.

 

Die wirkliche Bewegung (von Mario Candeias)

Die »doppelte Transformation«, wie Dieter Klein (2013) sie interpretiert, ist zentral, um falsche Gegensätze zwischen Reform und Revolution zu bearbeiten und unterschiedliche Teile der Mosaiklinken strategisch zu verbinden – auch im Sinne der Idee einer »revolutionären Realpolitik« von Rosa Luxemburg. Es wäre eine verbreitete Fehlinterpretation des Konzepts, es im Sinne einer Stadientheorie zu verstehen: Erst transformieren wir den (neoliberalen) Kapitalismus, mit einem radikalen Reformismus zwar, aber die Transformation zum Sozialismus kommt später. Als ginge es darum, zwei unterschiedliche Transformationen von links zu verbinden, wobei die eine der anderen zeitlich nachgeordnet ist, auch wenn beide zugleich beginnen sollen. Tatsächlich geht es um »Einstiegsprojekte« (Brangsch), die im Bestehenden ansetzen, aber potenziell schon auf etwas anderes verweisen.

Ich möchte eine Lesart starkmachen, die noch einmal einen anderen Blickwinkel einnimmt. Die Interpretationsdifferenz mag gering erscheinen, für die strategische Orientierung politischer Praxen, für Entscheidungen zu Bündniskonstellationen und zu konkreten Eingriffen in bestehende Auseinandersetzungen hat sie jedoch eine wichtige Bedeutung (vgl. Candeias 2009).

Es kann aus meiner Sicht nicht um eine strategische Wahl zwischen der Reformperspektive eines postneoliberalen Kapitalismus einerseits und einer sozialistischen Überwindung des Kapitalismus andererseits gehen. Denn: Transformation findet bereits statt, ist notwendige Folge organischer Krise mit offenem Ergebnis. Es handelt sich also zunächst um periodische innerkapitalistische Transformationen, die sich aufgrund innerer Dynamiken des Kapitals und gesellschaftlicher Auseinandersetzungen kapitalistischer Gesellschaften vollziehen. Diese gilt es zu begreifen und strategisch einzuschätzen.

Ein so umfassender Prozess vollzieht sich ohne steuerndes Subjekt, jedoch nicht subjektlos. Innerhalb einer solchen Konstellation entwickeln sich je nach gesellschaftlichen Bedingungen und Kräfteverhältnissen unterschiedliche Absetz- und Suchbewegungen, die sich zum Teil ergänzen, sich wechselseitig beeinflussen, aber auch konkurrieren oder sogar antagonistisch bekämpfen. Unterschiedliche gesellschaftliche Gruppen und Klassenfraktionen formieren sich in der Auseinandersetzung mit anderen zu neuen gesellschaftlichen Blöcken, das heißt zu einer Konvergenz von gesellschaftlichen Gruppen oder von Fraktionen bestimmter Gruppen um konkrete strategische Projekte herum. Gemeinsame Interessen sind dabei nicht objektiv gegeben, sondern müssen erst systematisch erarbeitet werden. Solche gesellschaftlichen Blöcke versuchen, ihre politischen Projekte hegemoniefähig zu machen, Bündnisse und Koalitionen zu bilden. Die unterschiedlichen Interessen und Strategien sind dem Kampf nicht vorausgesetzt, sondern werden vor dem Hintergrund bestehender geschichtlicher Formen, Regulationsweisen, Individualitätsformen und Alltagspraxen in der Auseinandersetzung mit anderen erst konstituiert. Damit ein bestimmtes Projekt hegemoniefähig werden kann, müssen sich die Bedürfnisse und Inte­ressen der Subjekte darin mit Aussicht auf Realisierung redefinieren lassen, damit es von den Subjekten gewollt und aktiv angestrebt wird. Ohne das aktive Element der Zustimmung würde sich Hegemonie auf Zwang und Gewalt reduzieren. Entsprechend handelt es sich bei Hegemonie nicht nur »um die Fähigkeit einer Klasse oder eines Bündnisses, ihr Projekt als das der gesamten Gesellschaft darzustellen und durchzusetzen« (Lipietz 1998, 160; siehe auch Marx und Engels 1974, 47), sondern um einen realen »Prozess der Verallgemeinerung von Interessen in einem instabilen Kompromissgleichgewicht« (Demirović 1992, 154) in Form einer passiven Revolution. Ein hegemoniales Projekt als Artikulation der vielen gesellschaftlichen Praxen und Interessen in einem Kompromiss wird also getragen von einem geschichtlichen Block gesellschaftlicher Kräfte, der ›Herrschende‹ und ›Beherrschte‹ einschließt. Es ist Resultat der konkreten Kräfteverhältnisse im Kampf um Hegemonie.

Es geht also darum, wie von links einzugreifen ist, oder emphatischer: Sozialistische Transformationspolitik ist die »wirkliche Bewegung« (Marx und Engels), die in den gegenwärtigen Auseinandersetzungen um Transformation praktisch interveniert. Transformation zielt also nicht auf einen zu erreichenden gesellschaftlichen Endzustand, sondern auf einen umkämpften Prozess ohne steuerndes Subjekt. Entscheidend sind dabei weniger einzelne Reformschritte, als vielmehr die Schaffung eines pluralen politischen Subjekts, das in der Lage ist, der Transformation eine emanzipatorische, sozialistische Richtung zu geben und diese zu verteidigen. Das Adjektiv »sozialistisch« verweist auf die Praxis. Wie ein »Sozialismus« nach Überwindung des Kapitalismus aussehen mag, dafür braucht es Vorstellungskraft und Ideen, es entscheidet sich jedoch im Gehen, im Prozess der Transformation selbst.

 

Literatur

  • Bloch, Ernst, 1959: Das Prinzip Hoffnung, Frankfurt a. M.
  • Candeias, Mario/Völpel, Eva, 2014: Plätze sichern! ReOrganisierung der Linken in der Krise, Hamburg
  • Candeias, Mario, 2009: Die letzte Konjunktur. Organische Krise und ›postneoliberale‹ Tendenzen, Vorwort zur verbesserten Neuauflage von Neoliberalismus. Hochtechnologie. Hegemonie, Berlin/Hamburg, 7–22
  • Demirović, Alex, 1992: Regulation und Hegemonie, in: ders. u.a. (Hg.), Hegemonie und Staat, Münster, 128–57
  • Klein, Dieter, 2013: Das Morgen tanzt im Heute. Transformation im Kapitalismus und über ihn hinaus, Hamburg
  • Lipietz, Alain, 1998: Nach dem Ende des »Goldenen Zeitalters«, Hamburg
  • Wright, Olin Erik, 2010: Envisioning Real Utopias, London