| Zwischen Utopie und Widerstand – die Sozialproteste in Frankreich

August 2016  Druckansicht
von Felix Syrovatka

Wenige Monate vor den Präsidentschaftswahlen im April 2017 zeigt sich Frankreich so zerrissen wie selten zuvor. Mehr als 1,3 Millionen Menschen beteiligten sich im Juni 2016 an den Demonstrationen gegen die Arbeitsmarktpolitik der sozialistischen Regierung. Begleitet wurden diese von Streiks und Blockaden zentraler Infrastruktur. Die Auseinandersetzungen um die, nach der französischen Arbeitsministerin Myriam El Khomri benannten Arbeitsrechtsreform Mitte des Jahres stellten einen neuen Höhepunkt der Proteste in der Amtszeit von François Hollande dar. Zuletzt gingen 2010 so viele Menschen gegen die Rentenreform des konservativen Präsidenten Nicolas Sarkozy auf die Straße. Zugleich wurde die Protestbewegung gegen das Loi El Khomri insgesamt von zahlreichen Streiks und Blockaden sowie einer landesweiten Welle an Platzbesetzungen begleitet. In mehr als 60 Städten wurden von der sogenannten „Nuit Debout“-Bewegung (Nacht der Aufrechten) zentrale Plätze von teilweise mehreren tausend Menschen okkupiert, welche damit nicht nur gegen die „Arbeitsrechtsreform und ihre Welt“ demonstrieren wollten, sondern zugleich über gesellschaftliche Alternativen und Utopien diskutierten. Zwischen März und Juli 2016 befand sich Frankreich in Bewegung gegen ein Reformprojekt, das die französische Arbeitsmarktpolitik stärker angebotspolitisch ausrichten wird als jede andere Reform zuvor. War François Hollande 2012 noch mit dem Versprechen gewählt worden, der europäischen Austeritätspolitik ein Ende zu setzen, knüpfte seine Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik jedoch schon bald nach seinem Amtsantritt stark an die neoliberale Reformpolitik vergangener Präsidenten an (Syrovatka 2016a). Viele Aspekte der Arbeitsrechtsreform wurden in ihrer Wirkung bereits von anderen Regierung durchgesetzt. Jedoch stellt das aktuelle Gesetz eine neue Dimension dar.

Französische Arbeitsmarktpolitik unter Druck

Ende der 1980er Jahre überschritt die Arbeitslosenquote in Frankreich erstmals die 10-Prozent-Marke und zementierte die Massenarbeitslosigkeit als drängendes Problem und den Kampf dagegen als das zentrale Politikfeld aller Regierungen. Die steigende Arbeitslosigkeit war das Ergebnis der seit der angebotspolitischen Wende des damaligen französischen Präsidenten François Mitterand 1984 eingeleiteten Transformation des französischen Kapitalismusmodells von einem „state capitalism“ zu einem „state-influence capitalism“ (Schmidt 2002). Das in dieser Zeit eingeleitete Ende der staatlichen Industrieförderung (Colbertismus) und der staatlichen Wirtschaftsplanung (Planification), die Deregulierungen im Finanzsektor sowie Privatisierungen staatlicher Unternehmen führte zu einer in Teilen starken Veränderung des französischen Kapitalismusmodells und hatte enorme Folgen für die soziale und territoriale Entwicklung des Landes: Es kam zu einer massiven Finanzialisierung und Deindustrialisierung der französischen Wirtschaft. Seit Mitte der 1980er Jahre wurden die Industrieproduktion massiv reduziert und mehr als 2 Millionen Arbeitsplätze abgebaut. Der Anteil des produzierenden Gewerbes an der Gesamtwertschöpfung ist seither auf 12,6 % gesunken, was im EU-Vergleich deutlich unter dem Durchschnitt von 19,5 % liegt (Schild 2013: 7). Vor allem der ehemals industrialisierte Norden weist seit Anfang der 1990er Jahre eine konstant hohe Arbeitslosigkeit auf, welche gleichzeitig mit einer Verschärfung der räumlichen Ungleichheit beim Zugang zu öffentlichen Dienstleistungen verbunden ist. Zudem leitete die Transformation des französischen Kapitalismus eine radikale Veränderung der Arbeitsverhältnisse ein, die mit einem kontinuierlichen Anstieg von befristeten Arbeitsverhältnissen und Leiharbeit verbunden war (Boltanski/ Chiapello 2006). So stieg zwischen 1985 und 2001 allein die Anzahl der durch Leiharbeit geleisteten Stunden um 506 % (Delbar/Léonard 2002: 6). Der Anteil befristeter Arbeitsverträge bei Neueinstellungen war 2014 mit 84 % der höchste Wert im europäischen Vergleich. Zugleich ist der französische Arbeitsmarkt durch eine starke Fragmentierung geprägt: So sind vor allem junge Menschen, Frauen oder Migranten am stärksten vom System prekärer Beschäftigung oder Arbeitslosigkeit betroffen (Lux 2015).

Die seit den 1990er Jahren konstant hohe Arbeitslosigkeit führte dazu, dass die französische Arbeitsmarkt- und Beschäftigungspolitik in den letzten drei Jahrzehnten durch einen permanent aufrecht erhaltenen Reformdruck gekennzeichnet war und somit einem ständigen Wandel unterlag. Auf der Grundlage von signifikanten Verschiebungen im öffentlichen Diskurs, in welchem fortan die Höhe der Lohnnebenkosten mit der hohen Arbeitslosigkeit verknüpft wurde, kam es ab diesem Zeitpunkt zu einer Welle von Arbeitsmarktreformen, welche in ihrer Kontinuität bis heute nachgezeichnet werden können (siehe dafür: Syrovatka 2016a). Die vor allem angebotspolitischen Reformprojekte seit Anfang der 1990er Jahre zielten strukturell fast alle auf eine Abgabenentlastung der Arbeitgeber, eine Deregulierung des Arbeitsmarktes und eine stärkere Aktivierung von Erwerbslosen. Es setzte sich eine Auffassung von Arbeitsmarktpolitik durch, welche die Unternehmen von den Zwängen des staatskapitalistischen Systems der Trente Glorious und der Planification befreien sollte, um somit mehr Spielraum und „Flexibilität“ für Investitionen zu schaffen. Daher zielten viele Arbeitsmarktreformen in der Vergangenheit auf die Stärkung von betrieblichen Vereinbarungen und Regelungen ab. Die Ausnahme stellte nur die Arbeitsmarktpolitik der sozialistischen Regierung Jospin dar. Diese verfolgte eine nachfrageorientierte Beschäftigungspolitik und setzte 1998 die 35-Stunden-Woche gegen den vereinten Widerstand der Arbeitgeber durch. Seit ihrer Durchsetzung jedoch ist die 35-Stunden-Woche das primäre Ziel von Angriffen seitens konservativer Regierungen und Arbeitgeberverbände: Schon die nachfolgende Regierung Raffrain begann mit einer partiellen Rücknahme der 35-Stunden-Woche (Vail 2010).

Französische Arbeitsmarktpolitik in der Krise

Die Wirtschaftskrise ab 2007ff und ihre Bearbeitung auf der europäischen Ebene spitzte die arbeitsmarktpolitische Situation in Frankreich weiter zu. Während Frankreich nach dem Einbruch der weltweiten Finanzmärkte von den Folgen der Finanzkrise im europäischen Vergleich kaum betroffen war, kam es ab 2010 mit der Transformation der Finanzkrise in eine europäische Staatsschuldenkrise zu einem Einbruch der Wachstumszahlen. Aufgrund der starken volkswirtschaftlichen Verknüpfung mit den Ökonomien Südeuropas wurde auch Frankreich indirekt von der autoritären europäischen Kürzungspolitik getroffen. Es kam zu einem starken Rückgang der Exporte und einem Einbruch der Portfolioinvestitionen (Heine/Sablowski 2015). Zugleich verlagerten französische Firmen ihre Arbeitsplätze und Produktionsstandorte aufgrund der negativen Lohnentwicklung in die südlichen Krisenstaaten. So verlagerte etwa Renault seine Fertigung nach Spanien mit der Begründung, dass dort die Löhne rund 30 % niedriger als in Frankreich sind (Le Figaro, 22.05.2015: 18).

Die Reaktion der französischen Regierungen auf den teils dramatischen Anstieg der Massenarbeitslosigkeit in manchen Regionen, manifestierte sich in einer Intensivierung der angebotspolitischen Stoßrichtung ihrer arbeitsmarktpolitischen Reformpolitik. Diese Ausrichtung der Arbeitsmarktpolitik änderte sich auch nach der Wahl von François Holland nicht.

Auf der Grundlage eines umfangreichen und alarmierenden Berichts des ehemaligen EADS-Vorsitzenden Louis Gallois zur Wettbewerbsfähigkeit der französischen Wirtschaft, welcher im November 2012 veröffentlicht wurde, setzte Hollande schon vor seiner „offiziellen“ angebotspolitischen Wende zum Neujahr 2014 eine Reihe von Arbeitsmarktreformen durch. Diese reichten vom „Wettbewerbspakt mit Steuererleichterungen für Unternehmen von mehr als 20 Milliarden Euro im Jahr über die Flexicurity-Vereinbarungen, welche Gehalts- und Arbeitszeitregelungen auf der betrieblichen Ebene flexibilisierte und Entlassungen aus wirtschaftlichen Gründen erleichterte, bis hin zur Durchsetzung des Verantwortungspaktes mitsamt weiterer Steuer- und Abgabenentlastungen für Unternehmen im Umfang von mehr als 30 Milliarden Euro jährlich. 2015 wurde zudem das sogenannte Loi Macron verabschiedet, das einen ganzen Strauß an unterschiedlichen Reformen umfasste und auch die Arbeitsmarktpolitik berührte. Das mit Hilfe des Notstandsparagraphen 49-3gegen den Widerstand der Gewerkschaften und des linken Flügels der regierenden Sozialistischen Partei beschlossene Reformpaket hatte die Abschaffung der Zugangsbeschränkung für bestimmte Berufe (Notare, Taxifahrer etc.), die Ausweitung der Nacht- und Sonntagsarbeit sowie eine umfassende Lockerung des Kündigungsschutzes zur Folge. Vor dem Hintergrund der europäischen Krisenbearbeitung und dem Druck der europäischen Institutionen entwickelt reagierte das – nach Wirtschaftsminister Emanuel Macron benannte – Loi Macron dabei in erster Linie auf die Forderungen, welche die Europäische Kommission in ihren länderspezifischen Empfehlungen formuliert hatte (Syrovatka 2016a: 178ff).

Durch die in der Krise auf der europäischen Ebene neugeschaffenen Institutionen der Wirtschaftsregierung konnte sich ein arbeitsmarktpolitischer Interventionismus herausbilden, der auch in den europäischen Zentrumsstaaten seine Wirkung entfaltet (Schulten/Müller 2013). Vor allem die Europäische Kommission hatte in ihren länderspezifischen Empfehlungen viele konkrete Reformvorschläge im Bereich der Arbeitsmarktpolitik formuliert, welche von der sozialistischen Regierung Valls aufgenommen und im Loi Macron umgesetzt wurden (COM 2014: 6;8). So sollte nach Aussage von Macron das nach ihm benannten Reformprojekt in erster Linie ein „Reformsignal an die europäischen Partner und vor allem Deutschland“ sein (Le Monde, 16.10.2014: 8).

Auch das Loi El Khomri geht auf die Forderungen der Europäischen Kommission zurück (Syrovatka 2016b; Haar 2016). Dort finden sich etwa in den länderspezifischen Empfehlungen für Frankreich aus den letzten beiden Jahren die Forderungen nach einer Flexibilisierung des Lohnbildungssystems, des Kündigungsschutzes sowie nach einer grundlegenden Reform des Arbeitsrechtes (COM 2014; 2015):

„Der Europäische Rat EMPFIEHLT, dass Frankreich 2015 und 2016 […] das Arbeitsrecht in einer Weise reformiert, dass stärkere Anreize für Arbeitgeber geschaffen werden, Einstellungen auf der Grundlage unbefristeter Verträge vorzunehmen; Abweichungen von allgemeinen Rechtsvorschriften, insbesondere in Bezug auf die Arbeitszeitregelungen, auf Unternehmens- und Branchenebene erleichtert; […]“ (ER 2015: C 272/55).

Diese „Empfehlungen“ der Europäischen Kommission und des Europäischen Rates stellen den Kern der im Februar 2016 vorgestellten Reform des Arbeitsrechts dar, an der sich der gesellschaftliche Protest entzündete. Anders als die, auch von Seiten der gesellschaftlichen Linken artikulierten und gesellschaftlich breit vorgetragene Forderung nach einer grundlegenden Vereinfachung und Entschlackung des als unübersichtlich und kompliziert wahrgenommenen Arbeitsrechts (vgl. dazu: Badinter/ Lyon-Caen 2015), sieht das Loi El Khomri in erster Linie einen fundamentalen Abbau von ArbeitnehmerInnenrechten und eine Neuordnung des Tarifvertragssystems vor (Remy 2016). So soll etwa der Kündigungsschutz weitestgehend gelockert und Arbeitszeiten von bis zu 60 Stunden möglich werden. Dazu sieht das Gesetz eine Aufwertung der betrieblichen Ebene auf Kosten des Branchentarifvertragssystems bei Lohn- und Arbeitszeitvereinbarungen vor (vgl. für Details: Syrovatka 2016b). Dies jedoch zielt auf eine massive Schwächung der Gewerkschaften, welche, aufgrund des schwachen Organisationsgrads von 8 % und der faktisch kaum vorhandenen betrieblichen Verankerung in privatwirtschaftlichen Unternehmen, einen massiven Machtverlust hinnehmen müssten. Die starke Mobilisierung der linken Gewerkschaften gegen diesen Gesetzentwurf und starke Konfrontation mit der Regierung scheint darin begründet zu sein.

4 Phasen des Protests in Frankreich

Die Ablehnung des Loi El Khomri in der Bevölkerung blieb seit der Vorstellung des Reformgesetzes konstant auf einem hohen Niveau. Verschiedene Umfragen und Erhebungen zwischen Februar und Juli 2016 ermittelten, dass rund 70% der Bevölkerung dem Gesetz ablehnend gegenüberstanden. Eine deutliche Mehrheit empfand es in seiner angebotspolitischen Ausrichtung als zu einseitig. Sogar der Präsidentschaftsberater Jacques Attali kritisierte gegenüber dem TV-Sender BMFTV: „Man sieht in dem Reformvorschlag nur, was die Arbeitgeber gewinnen können. Man könnte glauben, die Kopie eines Dokuments der Arbeitgeberverbände in der Hand zu halten“. Im Folgenden soll der Widerstand gegen das Loi El Khomri zeitlich rekonstruiert und in vier verschiedenen Phasen und auf Grundlage von Form und Intensivität der Proteste typologisiert werden:

So kann die erste Phase des Protests zwischen Februar und März 2016 als Phase des virtuellen Protests und der strategischen Orientierung bezeichnet werden. Diese Zeit ist vor allem durch eine spontane gesellschaftliche Empörung geprägt, welche ihren Ausdruck in erster Linie in den sozialen Netzwerken und Internetforen findet. So initiiert die in Frankreich medial bekannte Feministin Caroline De Haas eine Petition gegen die Arbeitsrechtsreform, die binnen kurzer Zeit über eine Million Mal unterzeichnet und tausendfach über Twitter und Facebook verbreitet wurde. Dort finden sich ebenfalls unter dem Hashtag #OnVautMieuxQueCa verschiedene Formen der medialen Protestbekundung. Zugleich kommt es zu separaten Treffen der Gewerkschaften und verschiedener Bewegungsakteure. Während sich alle Gewerkschaften nach einem ersten Treffenin der Ablehnung der Arbeitsrechtsreform einig waren und am 9. März erstmals rund 300.000 Menschen auf landesweiten Demonstrationen mobilisieren konnten, fand auf Einladung des linken Kollektivs Convergence des luttes“, um den Filmemacher François Ruffin und der Zeitung Fakir, im Februar eine Konferenz in Paris mit verschiedenen Bewegungsakteuren statt, welche sich zu einer Besetzung des zentralen „Place de la Republique“ in Paris verabredeten.

Die zweite Phase, welche als Phase der Platzbesetzungen und der ersten gewerkschaftlichen Mobilisierung charakterisiert werden kann, beginnt Mitte März mit den Blockaden und Demonstrationen von SchülerInnen und Studierenden. Sie sind es vor allem auch, die nach der ersten großen Demonstration der Gewerkschaften (1,2 Millionen Menschen landesweit) am 31. März den Place de la Republique besetzen und damit eine landesweite Bewegung von Platzbesetzungen anstießen. In weniger als einer Woche waren mehr als 60 Plätze in ganz Frankreich besetzt worden und sogar in eher konservativen Regionen fanden täglich Versammlungen und Diskussionen statt. Die fortan als „Nuit Debout“ (Nacht der Aufrechten) bezeichnete Platzbesetzungsbewegung führte auch aufgrund von Solidaritätsbekundungen zahlreicher Intellektueller zu einer intensiveren Beschäftigung mit dem Reformvorhaben und einer Popularisierung des Protestes. Das Loi El Khomri wurde zu einem Politikum und sorgte etwa in der Parlamentsfraktion der Sozialistischen Partei (PS) für Diskussionen und der Ankündigung von Abgeordneten, dem Gesetz in der Assemblée Nationale nicht zuzustimmen.

Die dritte Phase, hier als Phase der Konfrontation bezeichnet, wird eingeleitet durch die Ankündigung von Premierminister Manuel Valls, die Arbeitsrechtsreform mithilfe des Notparagraphens 49-3 gegen den Widerstand seiner eigenen sozialdemokratischen Fraktion durchzusetzen. Die Ansage der Regierung, das Gesetz auch ohne die Zustimmung durch das Parlament durchzusetzen, führte zu einem gesellschaftlichen Aufschrei, der in verschiedenen Protest- und Streikformen seinen Ausdruck fand. Mitte Mai rufen die linken Gewerkschaften CGT, FO und SUD zu Streiks in verschiedenen Sektoren auf und kommen damit der Forderung ihrer Mitgliedschaft nach, welche schon vorher punktuell ihre Arbeit niedergelegte. Die Blockade der Raffinerien, der Ausstand der LKW-FahrerInnen, die Streiks in den Atomkraftwerken oder die Arbeitsniederlegungen der HafenarbeiterInnen führten zu einer spürbaren Störung im allgemeinen Betriebsablauf, jedoch nicht zu einem vollständigen Stillstand des Landes. Dennoch reagierte das Innenministerium mit harter Repression auf die landesweit aufgeflammten Streiks und Proteste. Im Rahmen des nach den Terroranschlägen in Paris vom November 2015 verhängten Ausnahmezustands kam es zu Hausdurchsuchungen, willkürlichen Verhaftungen und „präventivem“ Hausarrest gegen AktivistInnen. Zugleich ging die Polizei mit zunehmender Gewalt gegen die Streikenden und DemonstrantInnen vor. Durch den Einsatz von Hartplastikgranaten, Tränengas und Gummigeschossen kam es teilweise zu schweren Verletzungen.

In Folge der Repression kommt es zu einem Rückgang der Mobilisierung und der Streiks. Mitte Juni beginnt damit die vierte Phase des Protestes, welche als Phase der Regression charakterisiert werden kann. Zwar können noch knapp eine Millionen Menschen zur zentralen Demonstration der linken Gewerkschaften am 14. Juni nach Paris mobilisiert werden, jedoch nimmt die Zahl der Streiks merklich ab. Auch die Platzbesetzungen gehen in vielen Städten zurück oder lösen sich auf. Dort wo noch protestiert wird, führen Klausuren und die Abiturprüfungen dazu, dass die Beteiligung an den Protesten und Aktionen deutlich geringer ausfällt. Neben der Repression, dem schlechten Wetter und der Fußball-Europameisterschaft, welche seit Mitte Juni in Frankreich stattfand, kann dieser Rückgang der TeilnehmerInnenzahlen auch auf eine Strategielosigkeit und inhaltlichen Ausfransung bei Nuit Debout zurückgeführt werden. Zugleich ist die große Sommerpause in Sicht, welche traditionell in Frankreich zu einem Einbruch der politischen Mobilisierung führt. So beschlossen die Gewerkschaften Anfang Juli, erst am 15. September wieder zu weiteren Demonstrationen aufzurufen, obwohl zu diesem Zeitpunkt feststand, dass die Arbeitsrechtsreform am 20. Juli endgültig beschlossen wurde. Inwiefern ab September noch eine Mobilisierung erfolgreich sein kann, scheint fraglich. Das Beispiel der Proteste gegen den sogenannten Ersteinstellungsvertrag (Contrat première embauche, CPE) im Jahr 2006 zeigt jedoch, dass eine große Mobilisierung und massive Proteste auch nach dem Inkrafttreten eines Gesetzes in Frankreich möglich sind.

Die Träger des Protestes: Gewerkschaften

Der gewichtigste Träger des Protestes gegen die Arbeitsrechtsreform waren die linken Gewerkschaften, welche nicht nur Millionen Menschen zu den zentralen Demonstrationen und Protestveranstaltungen mobilisieren konnten, sondern zudem durch Streiks und Blockaden Druck ausübten. Trotz der eindrucksvollen Bilder von brennenden Barrikaden und Massendemonstrationen agierten die linken Gewerkschaften jedoch aus einer Defensivposition heraus. Diese begründet sich vor allem durch die sich seit den 1980er Jahren verstärkenden Tendenzen einer Fragmentierung, Dezentralisierung und Verbetrieblichung in den französischen industriellen Beziehungen. Seit den 1990er Jahren kann von einer Krise der Gewerkschaften gesprochen werden, welche sich sowohl in „einer Organisationskrise (nach innen) als auch in der Erosion gewerkschaftlicher Einflussmacht (nach außen) zeigt“ (Artus 2010: 466; vgl. zudem Pernot 2010).

Der Organisationsgrad der Gewerkschaftenist in den letzten drei Jahrzehnten massiv erodiert und heute mit knapp 8 % der niedrigste in allen OECD-Staaten. Diese Entwicklung traf in erster Linie die größte linke Gewerkschaft CGT, welche zwischen 1970 und heute knapp 1,7 Millionen Mitglieder verloren hat. Die Mehrzahl der Gewerkschaftsmitglieder ist zudem im öffentlichen Dienst tätig (knapp 25 %) oder verrentet (knapp 15 %). In der Privatwirtschaft sind dagegen, mit Ausnahme von einigen – meist ehemals staatlichen – Großbetrieben, kaum Gewerkschaftsmitglieder anzutreffen, weshalb einige BeobachterInnen dort gar von einem „gewerkschaftsfreien Bereich“ (Artus 2010) sprechen. Zugleich schwächt die starke Fragmentierung der Gewerkschaftslandschaft die Handlungsfähigkeit der Gewerkschaften. Vor allem die traditionelle Spaltung zwischen linken und reformorientierten Gewerkschaften hatte in der Vergangenheit immer wieder dazu geführt, dass angebotspolitische Reformen durch die Einbindung einzelner Gewerkschaften legitimiert werden konnten (Syrovatka 2016a).

Diese Spaltung trat auch während der Proteste gegen das Loi El Khomri offen zutage. Während die linken Gewerkschaften CGT, FO und SUD einen Dialog mit der Regierung ablehnten und die sofortige Rücknahme des Gesetzentwurfs forderten, verfolgten die reformistischen Gewerkschaften CFDT, CFE-CGC und UNSA eine Strategie der sozialen Partnerschaft. Im Dialog mit den Unternehmensverbänden und der Regierung zielte diese Strategie auf die Ausarbeitung eines gemeinsamen Kompromisses. Schon in der Vergangenheit bildeten die reformorientierten Gewerkschaften, zusammen mit den Unternehmerverbänden und dem Mehrheitsflügel in der Sozialistischen Partei, einen wettbewerbskorporatistischen Block, der die Umsetzung der angebotspolitischen Arbeitsmarktpolitik unterstützte (ebd.; Pernot 2010). Vor allem die sozialdemokratische CFDT, welche zahlreiche inhaltliche und auch personelle Überschneidungen zur sozialistischen Regierung aufweist, hat sich relativ schnell auf diese Linie festgelegt und zuletzt die Arbeitsrechtsreform öffentlich verteidigt (Berger 2016). Anders als die CGT setzt die CFDT traditionell auf eine Stärkung jener Aushandlungsprozesse, welche staatlichen Entscheidungen vorgelagert sind. Die Unterstützung der CFDT für die Arbeitsrechtsreform zielt daher auf einer Stärkung des sozialen Dialogs und seine Institutionalisierung nach deutschem Vorbild. Die Strategie beruht dabei auf der Überlegung, durch die Stärkung der betrieblichen Ebene mehr Handlungsspielraum und Einfluss auf die betriebliche Politik sowie mehr institutionelle Macht zu erlangen.

Sowohl die Spaltung innerhalb der Gewerkschaften als auch der schwache Organisationsgrad im privaten Unternehmenssektor begründet auch die spezifische Streikstrategie der linken Gewerkschaften CGT, FO und SUD während der Proteste. So fanden die Streiks vorrangig in jenen Branchen und Betrieben statt, in denen die linken Gewerkschaften noch traditionell stark verankert sind, d.h. vor allem in den zentralen, staatlichen oder ehemals staatlichen Infrastrukturbetrieben. Zugleich waren viele Streiks zusätzlich durch sektorale Forderungen motiviert. Die Streiks der LKW-FahrerInnen oder im Zugfernverkehr hatten etwa nur indirekt mit den Protesten zu tun. Trotz der strategischen Ausweitung auf zentrale Infrastrukturunternehmen blieben die Streiks und Blockaden in ihrer Wirkung auf die Wirtschaft begrenzt. Der Geschäftsalltag in den Betrieben wurde oftmals nur punktuell gestört. Dies machte – wie auch schon in der Vergangenheit – das Dilemma deutlich, dass ein Generalstreik nur bei einem gemeinsamen Agieren der beiden größten Gewerkschaften, CGT und CFDT, erfolgreich sein kann. Zudem steht mit der Bilanz der Streiks die Frage nach der Zukunft der konfrontativen Strategie im Raum. Zum wiederholten Male lief die Strategie der linken Gewerkschaften, auf Konfrontationskurs gegenüber der Regierung zu gehen, ins Leere. Anders als noch 1995, als die Sozialreformen der Regierung Juppé durch eine massive Straßenmobilisierung und einer umfangreichen Streikbewegung in den Betrieben verhindert werden konnte, scheint diese Strategie unter den gegebenen Kräfteverhältnissen nicht mehr aufzugehen. Die Transformation des Lohnfindungssystems sowie die Dezentralisierung arbeitsrechtlicher Entscheidungen zwingen nun auch die linken Gewerkschaften zunehmend, den Staat als zentralen Ansprechpartner in der Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik sowie bei privatwirtschaftlichen und betrieblichen Konflikten in Frage zu stellen. Dass in den linken Gewerkschaften über diese grundlegende Frage der strategischen Orientierung heftig gestritten wird, zeigte sich in der Vergangenheit nicht zuletzt in den tiefen Grabenkämpfen innerhalb der CGT (Pernot 2012).

Die Träger des Protestes: Nuit Debout

Neben Streiks und Protesten auf der Straße waren es vor allem die Platzbesetzungen der Nuit Debout-Bewegung, welche den Protest gegen die „Arbeitsrechtsreform und ihre Welt“ auf die Straße trugen. Soziostrukturell setzte sich die Bewegung dabei vor allem aus jungen weißen AkademikerInnen, Intellektuellen sowie prekär angestellten WissenschaftsarbeiterInnen zusammen. Damit weist die Bewegung nicht nur in ihrer Mitgliederstruktur große Ähnlichkeiten mit der spanischen 15M-Bewegung auf, ähneln sie sich doch ebenfalls im Auftreten und Organisationsstruktur (vgl. Huke 2016). Auch Nuit Debout ist basisdemokratisch und horizontal organisiert. Die Entscheidungsstrukturen sind hauptsächlich deliberativ organisiert und sollen Hierarchien jeglicher Form vermeiden. Jeder kann mitreden und Diskussionen einfordern, muss sich jedoch an eine Redebeschränkung von drei Minuten halten. In den verschiedenen Plena und Arbeitsgemeinschaften wird gemeinsam über alles diskutiert. Der Austausch über Visionen und Utopien zum Bestehenden und weniger die konkrete strategische Debatte stehen dabei jedoch im Vordergrund der zahlreichen Diskussionen. Hinzu kommt, dass fast die komplette Außen- und Innenkommunikation sowie die eigene Mobilisierung über das Internet stattfinden. Die komplette Organisationsstruktur ist offen und kann eingesehen werden, die Plena und Arbeitsgemeinschaften werden live ins Internet übertragen.

Ebenso wie die 15M-Bewegung will sich Nuit Debout offiziell nicht in ein politisches Lager einordnen lassen, obwohl ihre Nähe zur gesellschaftlichen Linken kaum zu übersehen ist und viele ihrer Aktivisten aus linken Bewegungen und Parteien stammen. Die Bewegung versteht sich vielmehr als Kristallisationspunkt verschiedener Kämpfe und Forderungen der außerparlamentarischen Bewegung. Die alten Parteien, ebenso wie die Einordnung in politische Kategorien wie links und rechts, werden als Relikte eines politischen Systems bewertet, von dem sie sich nicht mehr repräsentiert fühlen. Mit der Verweigerung einer politischen Einordnung grenzen sich die Aktivisten aktiv vom politischen System der V. Republik ab, womit ihr Protest nicht zuletzt als Ausdruck seiner tiefen Krise zu verstehen ist. Die zunehmende Entfremdung zwischen Regierenden und Regierten, welche aufgrund der strukturellen Grundlagen der V. Republik schon immer vorhanden war, vergrößerte sich sukzessive seit Anfang der 1990er Jahre durch die angebotspolitische Reformpolitik und den zunehmenden Abbau des Sozialstaates. Dieser Zwiespalt zeigt sich dabei am eindrucksvollsten in der jährlichen Untersuchung des Instituts IPSOS (2016). Dort gaben im April 2016 rund 83 % der Bevölkerung an, dass das demokratische System in Frankreich sehr schlecht funktioniere und ihre Interessen nicht repräsentiert würden. Mit 89 % stimmte eine deutliche Mehrheit der Aussage zu, dass es den PolitikerInnen egal sei, was die Bevölkerung denkt. Und nur acht Prozent aller Franzosen erhoffen sich Veränderungen von den etablierten politischen Parteien, während 92 % jegliches Vertrauen in diese verloren haben. Nuit Debout muss daher vor dem Hintergrund dieser massiven Vertrauenskrise als Protest gegen ein parlamentarisches System verstanden werden, dass aufgrund der „unterschiedliche[n] Propagierung der gleichen Politik“ (Poulantzas 2002: 206) durch die beiden großen Parteien Partie Socialiste und Les Republican jegliche Fähigkeit der Repräsentation politischer Interessen und Bedürfnisse verloren hat. Der Protest und die Platzbesetzungen sind daher auch eine politische Artikulation der eigenen Interessen und Alternativen zum Bestehenden.

So wurde vor dem Hintergrund des eigenen strategischen Selbstverständnisses als „Kristallisationspunkt von Kämpfen“ versucht, auch andere Gruppen einzubeziehen, welche ebenfalls nichtrepräsentiert sind. So gab es mehrfach den Versuch, Platzversammlungen in Banlieues (frz. Vorstädte) durchzuführen und die dort lebenden und oftmals von starker sozialer und rassistischer Segregation betroffenen Menschen zu erreichen. Diese Versuche, die „unsichtbare Spaltung“ aufzuheben und die eigene sozialstrukturelle Zusammensetzung zu überwinden, gelang jedoch nur sehr selten, was nicht zuletzt auch in den unterschiedlichen Lebensrealitäten der oft weißen studentischen Aktivisten und den BanlieuebewohnerInnen begründet lag. Ebenso mäßig erfolgreich stellte sich der Versuch dar, den Kontakt zu den linken Gewerkschaften zu intensivieren. Zwar sprach etwa der Vorsitzende der CGT-Gewerkschaft, Philippe Martinez, Ende April auf dem Place de la Republique in Paris vor rund 3000 Nuit Debout-AktivistInnen, jedoch blieben die hohen habituellen und inhaltlichen Grenzen zwischen den beiden Hauptakteuren der Proteste bestehen. Beide Seiten hegten bis zuletzt teilweise große Vorbehalte gegeneinander. Während den Gewerkschaften die Platzbesetzungsbewegung sowie die hierarchiefreie Organisationsform und multimediale Kommunikation weitgehend suspekt blieben, sahen viele BewegungsaktivistInnen in den linken Gewerkschaften dogmatische und verkrustete Apparate einer vergangenen Zeit, deren politisches Programm nur noch wenig mit ihren Lebensrealitäten übereinstimmte.

Nach dem Abflauen der Platzbesetzungen Anfang Juni diskutiert Nuit Debout nun über die zukünftige strategische Perspektive der Bewegung. Die Frage, wie sich die Bewegung verbreitern und nach den Sommerferien wieder an Stärke gewinnen kann, steht dabei im Zentrum der Überlegungen. Während einige wenige Aktivisten über die Perspektive einer Institutionalisierung der Bewegung im politischen System als Partei nachdenken, scheint der Großteil der Aktiven auf eine erneute Welle von Platzbesetzungen Anfang September und somit auf eine Kontinuität außerparlamentarischen Agierens setzen zu wollen. Ende August sind bereits fünf Aktionstage angekündigt, um den Place de la Republique in Paris wieder zu besetzen. Zugleich gibt es Bestrebungen, die internationale Vernetzung zu intensivieren. So haben eine Vielzahl an regionalen Nuit Debout Gruppen bereits angekündigt, sich an den Protesten des Blockupy-Bündnisses am 2. September in Berlin zu beteiligen.

Fazit und Ausblick: Frankreich vor den Präsidentschaftswahlen

Die Proteste gegen das Loi El Khomri haben gezeigt, dass sich Frankreich nicht nur in einer strukturellen Wirtschaftskrise befindet, dessen Wurzeln in der Transformation des französischen Kapitalismus seit Mitte der 1980er Jahre zu finden sind, sondern sich zudem eine tiefe Repräsentationskrise herausgebildet hat. Diese Krise des politischen Systems findet ihren Ausdruck jedoch nicht nur in den Protesten von Nuit Debout, sondern auch in der Wahl der rechtsradikalen Front National (FN) (IPSOS 2016a). Auch aufgrund ihrer Nichtrepräsentation im politischen System Frankreichs, in Folge des Mehrheitswahlrechts, kann sie sich authentisch als Anti-Parteien-Partei inszenieren und in der Öffentlichkeit wahrgenommen werden (Syrovatka 2015). Mittlerweile halten in Umfragen eine Mehrheit von 56 % der Bevölkerung die FN für eine „normale Partei“ (BVA 2015:7).

In aktuellen Umfragen hat Marine Le Pen in den letzten Monaten gut 2 % dazugewinnen können und würde, unabhängig von ihren Gegenkandidaten, mit einem relativ großen Vorsprung in die zweite Runde der Präsidentschaftswahlen kommen (BVA 2016). Entgegen der landläufigen Annahme, dass die rechtsradikale Front National durch die Proteste geschwächt werden würde, scheint sie viel eher gestärkt bzw. von diesen nur wenig tangiert worden zu sein. Vielmehr sieht die Front National sich durch die undemokratische Umsetzung des Loi El Khomri mithilfe des Paragraphen 49-3 in ihrer Annahme bestätigt, dass die Arbeitsrechtsreform ein „Diktat aus Brüssel“ darstellt und Frankreich durch den „bürokratischen Superstaat EU“ in seiner Souveränität bedroht ist (FN 2016). Seine Strategie in den Auseinandersetzungen um die Arbeitsrechtsreform zielte dabei auf eine Delegitimierung der Demonstrationen und Platzbesetzungen als Proteste linker AkademikerInnen, welche selbst bald zur politischen und ökonomischen Elite gehören werden. Diskursstrategisch hatte die Front National Bilder von Krankenschwestern und Bäckern in den sozialen Medien geteilt, die als „wahre Nuit Debout“ gegen die Platzbesetzungen in Stellung gebracht werden sollten.

Hier zeigt sich auch ein Grund, weshalb der Front National von den progressiven Protesten der Gewerkschaften und Platzbesetzungen kaum berührt, geschweige denn von ihnen in die Defensive gedrängt werden konnte. Denn von einem Großteil der FN-WählerInnen wurden die Demonstrationen und Streiks nicht als Ausdruck ihres Protests gegen die französischen Zustände empfunden. Die WählerInnenschaft der FN umfasst heute vor allem Menschen aus der ehemaligen und deindustralisierten Arbeiterklasse und der abstiegsbedrohten ländlichen (unteren) Mittelschicht, welche von der Transformation des französischen Kapitalismus und der damit verbundenen wirtschaftlichen Krise besonders betroffen sind (IPSOS 2016; 2015; Harris Interactiv 2015). Die Träger der Proteste waren jedoch vor allem junge weiße AkademikerInnen (Nuit Debout) oder privilegierte FacharbeiterInnen(Streiks in den ehemaligen Staatsbetrieben) und weniger jener Personenkreis, welcher bereits heute keinen Zugang zum Arbeitsmarkt hat oder sich durch die sozialen Dynamiken der „Abstiegsgesellschaft“ (Nachtwey 2016) bedroht fühlt (Dörre 2016). So wurden die Streiks und Demonstrationen in der breiten Öffentlichkeit oftmals als Protest von eher privilegierten Gruppen wahrgenommen, die für den Erhalt ihrer eigenen Privilegien auf die Straße gingen. Aufgrund der kaum noch vorhandenen Verbindung zwischen den verschiedenen sozialen Milieus in Folge der teils starken räumlichen Segregation konnten die Proteste mit ihren Forderungen und Positionen erst gar nicht in jene Milieus vordringen, aus der sich die FN-WählerInnenschaft rekrutiert. Vielmehr schafft es der Front National, auch vor dem Hintergrund einer immer stärker verunsicherten und politisch desillusionierten Gesellschaft, einen in Ansätzen alternativen, wenn auch reaktionären Gesellschaftsentwurf zu artikulieren, welcher auf bestimmte Teile der Bevölkerung eine gewisse Ausstrahlungskraft und Wirkmächtigkeit entfalten kann (Syrovatka 2016c).

Mit Blick auf die Präsidentschaftswahlen im April und Mai 2017 stellt sich daher die Frage, was die gesellschaftliche und parteiförmige Linke aus den Protesten mitnehmen und produktiv für sich nutzen kann. Die Proteste und Streiks stellten eine große Chance für eine Revitalisierung der Linken dar, welche jedoch von Seiten der parteiförmigen Linken, v.a. von der Kommunistischen Partei und der französischen Linkspartei, nicht ergriffen wurde. Dies ist verheerend, treten doch die Erosionserscheinungen bei der regierenden Sozialistischen Partei offen zu Tage. Ein möglicher Bruch innerhalb der PS und die Abspaltung des linken Flügels erscheinen als nicht unwahrscheinlich. Dies könnte jedoch nur dann ein Gewinn für die Linke sein, wenn sie als inhaltliche und strategische Alternative zur PS erkennbar wird und ihre internen Streitereien überwindet. Die Chance der Linken, will sie von der Krise der Sozialdemokratie profitieren, liegt nur in ihrer Neuformierung. Diese ist gerade vor dem Hintergrund des Erstarkens des Front National umso wichtiger. Denn nur eine starke Linke mit einem klaren sozial-ökologischen Transformationsprojekt und einer deutlichen Positionierung gegen die europäische und französische Austeritätspolitik kann den aktuellen Rechtsentwicklungen etwas entgegensetzen.

Literatur

Artus, Ingrid (2010): Die französischen Gewerkschaften in der Wirtschaftskrise: Zwischen Dialogue Social und Basismilitanz. In: WSI Mitteilungen, Vol. 63(9): 465–472.
Badinter, Robert/Lyon-Caen, Antoine (2015): Le travail et la loi. Paris.
Berger, Laurent (2016): Laurent Berger : «Les politiques sont incapables de donner du sens, la loi travail en est l’illustration». Interview in: Liberation, 04.07.2016: 5. URL: www.liberation.fr/france/2016/07/04/laurent-berger-les-politiques-sont-incapables-de-donner-du-sens-la-loi-travail-en-est-l-illustration_1464005
Boltanski, Luc/ Chiapello, Eve. (2006): Der neue Geist des Kapitalismus, Konstanz.
COM – Europäische Kommission (2014): Empfehlung für eine Empfehlung des Rates zum nationalen Reformprogramm Frankreichs 2014 mit einer Stellungnahme des Rates zum Stabilitätsprogramm Frankreichs 2014. Brüssel.
COM – Europäische Kommission (2015): Recommendation for a Council Recommendation with a view to bringing an end to the excessive government deficit in France. Brüssel.
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Anmerkungen

1 Der Paragraph 49-3 sieht vor, dass ein Gesetz dann als angenommen gilt, wenn ein darauffolgendes Misstrauensvotum nicht zustande kommt bzw. erfolgreich überstanden wurde. Im Fall des Loi Macron ebenso wie im Fall des Loi El Khomri kam ein Misstrauensvotum nicht zustande. Der Paragraph 49-3 unterbindet eine Abstimmung und eine wirkliche Auseinandersetzung im Parlament über das Gesetz, weshalb es in Frankreich sehr umstritten ist und die Schwäche der eigenen Regierungsfraktion offenlegt. Trotz dieser negativen Implikationen wurde der Notparagraph seit 1958 schon mehr als 80-mal eingesetzt – hauptsächlich von konservativen Regierungen.
2 Während sich die Führung der sozialdemokratischen und zweitgrößten französische Gewerkschaft CFDT zum Beginn der Proteste gegen das Loi El Khomri positionierte, änderte sie ihre Meinung nach dem ersten Treffen der Sozialpartner und der darauffolgenden Präsentation einer abgeschwächten Fassung des Gesetzesentwurfs. Fortan stand sie den gewerkschaftlichen Protesten gegen die Arbeitsrechtsreform sehr kritisch gegenüber (Berger 2016).
3 Hier muss jedoch betont werden, dass die Gewerkschaftsmitgliedschaft in Frankreich oftmals eine Aktivmitgliedschaft ist und so nur schwer mit anderen Ländern vergleichbar ist. Dennoch kann mit Blick auf die Organisierungszahlen der 1970er und 1980er Jahre in Frankreich eine fundamentale Erosion festgestellt werden (Lesch 2004).
4 Vor allem die ArbeitnehmerInnen in den (ehemaligen) Staatsbetrieben verfügen über eine Reihe von Privilegien. Diese ArbeitnehmerInnen haben oftmals ein eigenes Sozial- und Rentensystem oder verfügen über eine spezielle Arbeitslosenversicherung (Syrovatka 2016: 62ff; Montalembert 2013).

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LUX&BEYOND:
Der Kampf um das neue Arbeitsrecht in Frankreich
Von Thomas Sablowski