| Gesundheitsversorgung ganz anders?

Mai 2015  Druckansicht
Von Eva-Maria Krampe

Ideen für eine Soziale Infrastruktur

Der gegenwärtige neoliberale Kapitalismus hebelt die Systeme sozialer Sicherung systematisch aus. Austeritätspolitiken insbesondere in den sogenannten Krisenländern verschärfen diese Tendenz. Für das Gesundheitswesen bedeutet das, dass Privatisierung und Ökonomisierung auch die Gesundheitsrisiken rasant individualisieren und vertikal ausdifferenzieren (vgl. Wohlfahrt in LuXemburg 1/2015). Ein Zurück zu den überkommenen korporatistisch-bürokratischen Formen des Sozialstaats ist jedoch nicht nur wegen veränderter Arbeitsverhältnisse keine Alternative, sondern auch wegen dessen ausgrenzenden und disziplinierenden Charakters. Der fordistische Sozialstaat gehört auch deshalb der Vergangenheit an, weil es angesichts des erreichten Stands der Produktivkraftentwicklung nicht mehr sinnvoll ist, die gesellschaftlichen Existenzmöglichkeiten im Wesentlichen an Lohnarbeit zu binden. Das Verhältnis von kollektiver Produktion und kollektivem Konsum muss neu justiert werden. Eine völlige Umgestaltung des Sozialen, die zu einer emanzipatorischen Veränderung der herrschenden Verhältnisse insgesamt beitragen würde, steht auf der Agenda.

Hierauf zielt das Konzept der Sozialen Infra­struktur (vgl. Gehrig 2013; Hirsch et al. 2013), das im Folgenden für den Bereich der Gesundheitsversorgung konkretisiert werden soll. Es geht um die Entwicklung kollektiver Formen der Produktion von Gütern und Dienstleistungen zur Befriedigung menschlicher Grundbedürfnisse. Zur Sozialen Infrastruktur müssen prinzipiell alle Menschen Zugang haben, unabhängig von ihrem Einkommen und der Art ihrer Tätigkeit, unabhängig von Alter, Geschlecht und Staatsbürgerschaft.1

Infrastrukturen im Gesundheitsbereich umfassen ein weites Feld. Es geht darum, die gesellschaftlichen Verhältnisse so einzurichten, dass folgende Bedingungen erfüllt sind:

Gesundheitsschädigungen müssen nach Möglichkeit schon vorbeugend vermieden werden. Umfassende Krankheitsprävention und darüber hinaus die Sicherung körperlicher Handlungsfähigkeit und körperlichen Wohlbefindens sollten Priorität genießen. Dabei spielen Ernährung, Wasserversorgung, Hygiene, Kanalisation, Seuchenprävention, Friedenssicherung und die Vermeidung von Berufskrankheiten und Unfällen eine entscheidende Rolle. Hinzu kommt die Vermeidung von Umweltbelastungen aller Art. Fortschritte der Medizin im engeren Sinn sind dem nur bedingt gleichrangig.

Die erste Aufgabe von Gesundheitspolitik ist es, Gesundheit zu erhalten. Das Heilen von Krankheiten und Verletzungen ist daher als Folge eines Versagens bei der Verfolgung dieses Ziels zu betrachten.

Verletzungen, Krankheiten und damit mehr oder weniger lang andauernde Zustände der körperlichen und seelischen Beeinträchtigung lassen sich jedoch nicht vermeiden. Situationen von Schwäche und Abhängigkeit wird es immer wieder geben, nicht nur während der Kindheit und im Alter. Daher ist der möglichst gute und für alle Beteiligten schonende Umgang mit Abhängigkeiten, also die Pflege und Unterstützung, ins Zentrum des Umgangs mit Gesundheit und Krankheit zu stellen.

Eine diesen Maximen folgende alternative Gesundheitspolitik kann nur formuliert werden, wenn sie Probleme des bestehenden Systems kritisch reflektiert. Das Gesundheitssystem wird zwar von der sogenannten Selbstverwaltung aller Beteiligten gesteuert. Es ist aber sowohl inhaltlich als auch finanziell faktisch durch ein Anbieterkartell beherrscht, das seine Klientel autonom und weitgehend unkontrolliert bewirtschaftet. Darüber hinaus steht das strukturell ungleiche Verhältnis zwischen ExpertInnen und Betroffenen einer Demokratisierung im Gesundheitsbereich im Wege. Das Verhältnis zwischen ÄrztInnen und PatientInnen müsste, soweit dies möglich ist, dem Prinzip informierter Übereinstimmung folgen – das wiederum setzt entsprechende Fähigkeiten sowohl bei den MedizinerInnen als auch bei den zu Behandelnden voraus. So wären Bedingungen zu schaffen, unter denen PatientInnen sich die dafür nötigen Kompetenzen aneignen könnten. Um Patienteninteressen zur Geltung zu bringen, bedürfte es außerdem gesetzlicher Regelungen, die es BürgerInnen ermöglichen, über Behandlungsfragen mit zu entscheiden. Im Konzept der Patient Partnership stehen sich Laien und Professionelle nicht mehr länger als ›Nutzer/Kunden‹ und ›Anbieter‹ gegenüber, sondern begegnen sich als gleichberechtigte Parteien – ähnlich gibt es dies bereits in der englischen Praxis. Ein großer Teil dieser Probleme könnte auf Basis einer nicht nur finanziell, sondern tatsächlich lokal und regional verankerten Versorgungsstruktur angegangen werden. Dazu bieten sich lokale Gesundheitszentren als Organisationseinheiten an.

Lokale Gesundheitszentren

Lokale Gesundheitszentren können die Funktionen wiederbeleben, die einst der häufig mythologisierte Gemeinde- und Landarzt oder auch die Gemeindeschwester in der DDR hatten. Es ist keine falsche Idee, dass man in Gesundheits- wie Krankheitsfragen stabile, aber nicht hoch spezialisierte ExpertInnen braucht – eine Idee, die in vielen Ländern der Peripherie bereits erfolgreich umgesetzt wird. Solche GesundheitsexpertInnen kennen die Personen und ihre Geschichte und können ›ganzheitlich‹ beraten, sind aber auch über Spezialeinrichtungen der Medizin informiert. GemeindeärztInnen oder auch niedergelassene Pflegende beispielsweise kennen die Gesundheitsgefährdungen, die es in der Gemeinde oder Region gibt, und können PatientInnen darauf aufmerksam machen.

In einer Einzelpraxis können oft überforderte ÄrztInnen leicht zu Außenposten von Industrien und Verwaltungen werden, die vor allem unternehmerisch darauf achten müssen, dass ›die Kasse stimmt‹. Ein lokales Gesundheitszentrum würde dagegen Bedingungen für eine sachorientierte Arbeit herstellen. Dort wären ÄrztInnen mit unterschiedlichen Spezialisierungen und einem gemeinsamen Maschinenpark kooperativ tätig. Darüber hinaus wäre die Zusammenarbeit zwischen ÄrztInnen, Pflegenden, TherapeutInnen, PharmazeutInnen und vielen anderen unmittelbar sichergestellt. Entscheidungen über Therapien und die Einnahme von Medikamenten könnten gemeinsam gefällt werden.

An diese Gesundheitszentren sollten mobile Dienste der Therapie und häuslichen Pflege angeschlossen sein, die der sozialen Situation der PatientInnen angepasst sind und mit dem betreuenden Arzt beziehungsweise der betreuenden Pflegeperson koordiniert werden. Dazu gehörten auch Schwangeren- und Mütterberatung, amtsärztliche Funktionen, Erziehungsberatung und verwandte Dienste. Auch die Distribution von Medikamenten und Heil- und Hilfsmitteln könnte über diese Zentren rationaler erfolgen und gleichzeitig die Macht der Apotheken und der Pharmaindustrie überwinden. Der Gedanke, solche lokalen Gesundheitszentren einzurichten, ist keineswegs neu. Bereits in der Weimarer Republik war die Organisationsform der Ambulanzen schon stärker entwickelt, bevor sie zum ›Schutz‹ der niedergelassenen Ärzte zurückgedrängt wurde. Ähnliches trifft auf die in der DDR üblichen Polikliniken zu, die nach der Vereinigung der beiden deutschen Staaten eiligst abgewickelt wurden. Wie die aktuelle Förderung von Gemeinschaftspraxen, Ärztehäusern und neuerdings auch Medizinischen Versorgungszentren (MVZ) zeigt, gibt es im Gesundheitssystem selbst ein Interesse an solchen kooperativen Organisationsformen, wenngleich zumeist mit anderen Intentionen – nämlich denen der Kostensenkung.

Die zentrale Rolle der Pflege

Pflege und der Umgang mit länger andauernden Beeinträchtigungen ist ein immer wichtiger werdender Bereich des Gesundheitssystems, der ebenfalls zu den Aufgaben von lokalen Gesundheitszentren gehören müsste. Pflege geht insofern über das Medizinische hinaus, als sie dazu beiträgt, eine den jeweiligen alters- und/oder krankheitsbedingten Umständen Rechnung tragende Gestaltung des Lebens zu ermöglichen. Anders als in der Bundesrepublik ist in vielen westlichen Ländern, aber auch in Gesundheitssystemen peripherer Länder diese aufgewertete Rolle der Pflege längst anerkannt. Auch wenn es zwischen den Arbeitsfeldern gelegentlich Überschneidungen gibt, sollte sie jedoch nicht mit den Aufgaben der Sozialen Arbeit verwechselt werden.

Eine wichtige Funktion der Pflegepersonen innerhalb der Gesundheitszentren bestünde darin, zwischen medizinischem Wissen und Gesundheits- und Krankheitsempfinden der PatientInnen zu vermitteln. Sie könnten die hierarchische Beziehung zwischen Fachleuten und Laien zu einem Teil demokratisieren, indem sie die subjektive Definition von Krankheits- und Gesundheitsempfinden aufwerten. Darüber hinaus kennen Pflegende in der häuslichen/ambulanten Versorgung die individuellen familiären Bedingungen und können krankmachende Lebens- und Arbeitsbedingungen wesentlich früher erkennen, als dies von medizinischer Seite der Fall ist. Das heißt, sie könnten dazu beitragen, den Kompetenzerwerb der PatientInnen zu unterstützen. Gemeinsam mit den Betroffenen könnten sie Maßnahmen entwickeln, die vormedizinisch wirksam würden.

Ein an Prävention orientierter Ansatz würde es ermöglichen, unterschiedliche Lebensbereiche wie das Arbeitsumfeld, Kindergärten und Schulen viel stärker einzubeziehen. Eine Sensibilisierung für Gesundheitsrisiken wie auch die Durchführung präventiver Programme könnte dort Teil der allgemeinen Ausbildung sein, ohne zu einem Moment totaler Kontrolle zu werden. Darüber hinaus muss selbstverständlich auch die akute Pflege nach Krankenhausaufenthalten zu Hause gewährleistet sein, da diese infolge der inzwischen sehr frühen Entlassung aus den Krankenhäusern hoch professionelle Anforderungen stellt. Allerdings sollte in der darauffolgenden Phase ebenso wie bei Menschen, die aufgrund ihres Alters und/oder gesundheitlicher Beeinträchtigungen bis hin zu schweren Behinderungen zu Hause versorgt werden müssen, ambulante Pflege anders organisiert werden als heute. Beruflich Pflegende sollten ihre Hauptverantwortung in der professionellen Unterstützung und Organisation von Pflegenetzwerken sehen.

Ein wichtiges Moment einer so konzipierten Gesundheitsversorgung muss eine andere Versorgung von Sterbenden und von Menschen mit schwersten gesundheitlichen Beeinträchtigungen einschließen. Dafür wären kleine, dezentrale stationäre Einrichtungen inmitten der Kommunen denkbar, damit auch hier die Pflegenetzwerke in die Betreuung einbezogen werden und die Gettoisierung schwer kranker Menschen beendet wird.

Da Gesundheitszentren möglichst lokal und bedarfsnah einzurichten wären, bestimmte Geräte und Spezialbehandlungsmöglichkeiten aber einen größeren Einzugsbereich erfordern, um sinnvoll genutzt zu werden und ausgelastet zu sein, wären regionale Einrichtungen anzustreben, die in Kooperation mit den lokalen Zentren betrieben werden. Darüber hinaus müsste es eine zentrale demokratisch legitimierte Instanz geben, die all diese Prozesse sinnvoll plant.

Finanzierung und demokratische Selbstverwaltung

Finanziert würde ein solches Gesundheitswesen allein über Steuereinnahmen. Das heißt, dass Krankenkassen, wenn überhaupt, nur in Teilfunktionen erhalten blieben. Dasselbe gilt für die kassenärztlichen Vereinigungen. Natürlich ist weiterhin eine Verwaltung der Finanzierung nötig und auch eine Kontrolle der Einzelleistungen. Aber zweifellos wird Gesundheitsvorsorge als Soziale Infrastruktur viele Leistungen enthalten, die sich nicht einzeln zurechnen lassen und die daher pauschal finanziert werden müssen. Die Finanzierung der lokalen Gesundheitszentren müsste unter Berücksichtigung regional unterschiedlicher Bedarfslagen aus zentralen Mitteln erfolgen. Ähnlich wird dies zum Beispiel in England bereits praktiziert und ansatzweise in der Bundesrepublik im Rahmen des Risikostrukturausgleichs zwischen den Krankenkassen realisiert. Wenn ein Teil der Finanzierung aus den Steuereinnahmen der Gemeinden erfolgt, entstehen dort Motive, an einer möglichst effektiven lokalen Gesundheitspolitik und Patientenversorgung mitzuarbeiten. Überhaupt wäre die anvisierte Gestaltung des Gesundheitssystems insgesamt erheblich kostengünstiger.

Die Gesundheitszentren müssten also Fachleute für Sozial-, Arbeits- und Umweltmedizin haben und gleichzeitig in breitere Planungsprozesse eingebunden sein. Umgekehrt werden solche übergreifenden Gremien Einfluss auf die Arbeit der Gesundheitszentren haben. Gesundheit wird damit organisatorisch zu einer Aufgabe von Gemeindepolitik.

Ganz entscheidend ist, dass die Gesundheitszentren mit demokratischen Selbstverwaltungsstrukturen ausgestattet werden (gute Ansätze hierfür finden sich schon heute etwa in Schweden). Die Interessen der Betroffenen müssen gegenüber GesundheitsexpertInnen und Unternehmen gestärkt werden, wenngleich Expertenwissen selbstverständlich notwendig bleibt, denn Patientenbedürfnisse können und werden durchaus von der Pharma- und Geräteindustrie manipuliert. In den Leitungsgremien der dezentralen Versorgungszentren müssten daher auch unabhängige ExpertInnen vertreten sein – neben der Bevölkerung und relevanten Teilen der sonstigen Gemeindeverwaltung und -politik. Eine solche Repräsentationsstruktur ist eine wesentliche Voraussetzung dafür, dass die Gesundheitsversorgung spezifischen lokalen Bedürfnissen angepasst wird und über Prioritäten demokratisch statt technokratisch oder entlang ökonomischer Interessen entschieden werden kann.

Einstiege und Kampf um Hegemonie

Es steht außer Frage, dass eine solche Neuorganisation des Gesundheitswesens nicht über Nacht erreicht werden kann. Ihr stehen die Interessen der aktuell mächtigsten Akteure in diesem Sektor entgegen. Nichtsdestotrotz führen Versorgungsprobleme dazu, dass einzelne Beteiligte, auch in der Politik, versuchen, andere Wege zu beschreiten. Dabei geht es nicht nur um die in der Tat ›explodierenden‹ Kosten für die weltweit einmalige Zunahme an medizinischen und chirurgischen Eingriffen, die der Gesundheit offensichtlich eher ab- als zuträglich sind (das gilt etwa für viele Knie-, Gelenk- und Wirbelsäulenoperationen). Auch die mangelnde Koordination zwischen stationärer und ambulanter Versorgung treibt die Kostenspirale in die Höhe. Als Reaktion darauf werden bereits seit einigen Jahren besondere finanzielle Anreize für die Einrichtung Medizinischer Versorgungszentren (MVZ) geboten. Diese werden zwar vielfach von privaten Krankenhausketten genutzt, um deren bestehende Beschränkung auf die stationäre Versorgung zu überwinden. Dennoch bieten sich hier Ansätze für eine gänzlich andere Organisation des Gesundheitswesens: dort nämlich, wo ÄrtztInnen und andere Gesundheitsfachleute sich gemeinsam daran machen, solche Zentren als Orte einer ganzheitlichen Versorgung für Stadteile oder Quartiere zu etablieren. Als besonders akut gelten momentan die Versorgungsengpässe in ländlichen Regionen, die für ärztliche UnternehmerInnen nicht genügend Profite abwerfen. Hier gibt es vereinzelt, vor allem im norddeutschen Raum, Initiativen von Gemeinderäten und Bürgermeistern, Arzthäuser einzurichten und MedizinerInnen als Angestellte der Gemeinde für die Versorgung zu gewinnen. Obwohl eher aus der Not geboren, denn als politisches Konzept gedacht, zeigt dies einen anderen Weg hin zu einer lokal organisierten und verantworteten Gesundheitsversorgung auf.

Insgesamt liegt ein langwieriger Weg vor uns. ›Von oben‹ wird ein solches als Soziale Infrastruktur konzipiertes Gesundheitssystem derzeit nicht durchgesetzt werden. Jenseits der unmittelbaren sozialen und politischen Praxen, die es hier zu entwickeln gelte, bedürfte es deshalb einer gründlichen Verschiebung der politischen Kräfteverhältnisse, also: einer Selbstveränderung der Gesellschaft insgesamt. Dazu bedarf es sozialer Bewegungen und Initiativen, die an unterschiedlichen Zusammenhängen anknüpfen und sich miteinander verbinden. Es geht um den erfolgreichen Kampf um eine neue Hegemonie, die Voraussetzung für eine soziale Emanzipation ist. Veränderte Praxen im Gesundheitswesen können hier jedoch Laboratorien, Orte der Verbindung sein (vgl. Dück/Fried in diesem Heft).

 

Literatur

Gehrig, Thomas 2013: Soziale Infrastruktur statt Grundeinkommen?, in LuXemburg 2/2013, 54–59

Hirsch, Joachim, Oliver Brüchert und Eva-Maria Krampe u.a., 2013: Sozialpolitik anders gedacht: Soziale Infrastruktur, herausgegeben von der AG links-netz, Hamburg

 

Anmerkung

1   Die erste Fassung dieses Textes für links-netz wurde von Joachim Hirsch, Eva-Maria Krampe, Christa Sonnenfeld, Heinz Steinert und Nadja Rakowitz verfasst.