| Eine Situation schaffen, die noch nicht existiert

April 2013  Druckansicht
von Mario Candeias

Erleben wir vorrevolutionäre Zeiten? Schwer zu sagen. Sicher aber erleben wir das »Interregnum«, eine Transformationsperiode, in welcher ein autoritär und postdemokratisch gewendeter neoliberaler Machtblock seine Herrschaftsinteressen sichert und andere, auch Kapital-immanente Krisenlösungen blockiert. Für ein eigenes hegemoniales Projekt ist der Autoritarismus sicher unzureichend, da seine Attraktivität und sein ökonomisches Potenzial begrenzt bleiben. Er vermag aber zu verhindern, »dass die Elemente der Lösung sich mit der nötigen Geschwindigkeit entwickeln; wer herrscht, kann die Krise nicht lösen, hat aber die Macht (zu verhindern), dass andere sie lösen, d.h. hat nur die Macht, die Krise selbst zu verlängern« (Gramsci, Gef., H.14, §58). Die herrschenden Klassen sind sich uneinig angesichts der Unwägbarkeiten der Krise und zersplittert mit Blick auf die notwendigen Maßnahmen zur Krisenüberwindung: Die Regulierung der Finanzmärkte stockt, der Schuldenabbau misslingt, die finanzielle Überakkumulation wächst (wenn auch etwas langsamer). Mit Blick auf die autoritäre Sicherung und Ausübung der Staatsmacht sind sie aber imstande, sich zu einigen, sich strategisch »auf den Staat als finalen Garanten ihres Überlebens zu fokussieren« (Porcaro in diesem Heft, 135). Sie haben dabei nicht nur längst ihre Fähigkeit zur Führung und Organisation eines aktiven Konsenses verloren – zumindest in Südeuropa, wird darauf verzichtet, tritt der Zwang offen zu tage.

Die sozialen Institutionen in Griechenland und Spanien sind weitgehend zusammengebrochen. Sie werden durch wechselseitige Hilfsinitiativen ersetzt bzw. gestützt (vgl. Wainwright 2012). Massenproteste sind an der Tagesordnung. Was noch funktioniert, sind die repressiven Apparate. Die zivilgesellschaftlichen »Schützengräben« sind bis hin zu den Zeitungen dominiert von der Kritik an der imperialen Unterwerfung unter die Troika und der Unfähigkeit der eigenen Regierungen. Doch obwohl das Leben in weiten Teilen auf Selbstorganisation zurückgeworfen ist und die Straße erobert, betreiben die herrschenden Gruppen ungerührt ihre Politik der perspektivlosen Kürzungen. Die »Ströme« zivilgesellschaftlicher Organisierung erreichen die »soliden Institutionen« (Porcaro in diesem Heft, 137) der Herrschaft nicht. Die Welt zu verändern, ohne die Macht zu ergreifen, scheitert an diesem Punkt.

Die strategische Frage ist also nicht, ob »die Apparate der Zivilgesellschaft oder die Hauptquartiere« der Macht erobert werden sollen, wie Rehmann treffend kritisiert (in diesem Heft, 142). Dies wäre ein falscher Gegensatz, der schon oft die Linke zerrissen hat. Der reine Bewegungstypus der Mobilisierung, das »stetige Wachsen der Selbstorganisation popularer Subjekte«, kritisiert Porcaro, genügt jedoch nicht mehr. Die Arbeit der Verdichtung steht an – dies ist der »Lenin’sche Moment« (Porcaro in diesem Heft, 138).

Die Bewegungen des 15M oder der Besetzung des Syntagma-Platzes haben ein plurales Subjekt geschaffen. Nach der Räumung der Plätze hat sich die Organisierung in die Viertel und in vielfältige Bereiche gestreut, ohne zu zerstreuen. Die Organisierung erfasste breite Teile der Bevölkerung, sodass die Bewegung längst zu einer gesellschaftlichen Mobilisierung wurde (Juberías u.a. 2012). Die organischen Kooperationen lassen eine Trennung der unterschiedlichen Gruppierungen kaum noch sinnvoll erscheinen: In Spanien führte 15M zur strategischen Reorientierung der Gewerkschaften, sie bilden die Basis der Kampagnen gegen Zwangsräumungen, Bewegungsaktivisten organisieren Streiks mit und treten bei Kommunalwahlen für die Izquierda Unida (Vereinigte Linke) an, alle gemeinsam sind sie auf der Straße. Die spektakulärsten Aktionen richten sich gegen Banken, mit Stürmung und Besetzungen. Beteiligt sind nicht zuletzt die Iaioflautas, die 80-jährigen »Kinder der 15M« (Grasberger 2012), die zuletzt gegen die Franco-Diktatur gekämpft haben und nun wieder für ihre Enkel auf die Straße gehen, ihren Erfahrungsschatz einbringend.

Erhebliche Verdichtungsleistungen wurden bereits erbracht. Spaltungen gibt es viele, sie spielen aber keine so große Rolle mehr. Die Izquierda Unida, Gewerkschaften und 15M stehen in einem oft produktiven Spannungsverhältnis. Die unterschiedlichen Protestwellen im Gesundheits- oder Bildungsbereich, gegen Zwangsräumungen, für freie Medien etc. sind untereinander und mit den Massendemonstrationen und Generalstreiks hochgradig vernetzt. Eine relativ eng gestrickte kleine Gruppe alter linker Aktivisten startete schließlich eine Initiative zur Besetzung des Parlaments. Darüber wurde in den Gruppen der 15M viel diskutiert: Angesichts der Kräfteverhältnisse, um möglichst vielen die Teilnahme zu ermöglichen und um eine Spaltung zu vermeiden, entschied man stattdessen, gemeinsam am 25. September und dann regelmäßig das Parlament zu umzingeln – ein Zentrum der Macht in den Fokus zu nehmen. In Griechenland symbolisiert Syriza einen solchen Verdichtungspunkt, der die zivilgesellschaftlichen Aktivitäten der Selbstorganisation und des Protests in die Perspektive der Machtergreifung übersetzt.

Für einen verfassungsgebenden Prozess von unten

Doch symbolisiert Syriza auch den Übergang vom Stellungs- zum Bewegungskrieg, der Porcaros Ansicht nach ansteht? Die Partei setzt auf den demokratischen Weg der Machtergreifung über Wahlen. Es gibt keinen anderen. Doch dürften die Handlungsspielräume innerhalb der gegebenen Institutionen mehr als gering sein: Weder der Griff der Troika noch der der internationalen Finanzmärkte dürfte nachlassen – im Gegenteil. Die Macht zu erobern, ohne die Welt zu verändern, muss scheitern – das weiß Syriza sehr genau. Daher besteht das Lenin’sche Moment nicht nur in der »Entwicklung des Potenzials einer gegebenen Situation« gesellschaftlicher Mobilisierung mit Blick auf die Regierungsübernahme, sondern in der »Schaffung einer Situation, die noch nicht existiert« (Porcaro in diesem Heft, 135). Mit Porcaro und über ihn hinaus hieße dies: Infragestellung und Neuschaffung der Institutionen an sich.

Die gesellschaftliche Mobilisierung ist nicht nur gegen die Troika und ihre jeweilige Regierung gerichtet, sondern gegen die überkommenen Institutionen der repräsentativen Demokratie und der kapitalistischen Herrschaft. Als konstituierende Macht zielen sie auf eine andere, neue Form konstituierter Macht. Dieser Gedanke bleibt bislang noch zu sehr im ›kumulativen‹ Wachsen des Anderen von unten stecken. Erneut bedarf es einer Verdichtung mit Blick auf die Hauptquartiere der Herrschaft. Dies können nicht Forderungen nach diesem oder jenem sein: Ende der Zwangsräumungen, Schuldenerlass oder europäische Arbeitslosenversicherung – auch wenn jede der erhobenen Forderungen unerlässlich ist. Mit Blick auf die Kämpfe in Spanien und Griechenland und auf die notwendige Europäisierung des Protests, etwa anlässlich des Alter Summit im Juni 2013 in Athen, gilt es die Forderungen und Kämpfe zusammenzuführen. Es gilt einen Prozess zu beginnen, in dem die Neugründung Europas von unten auf die Tagesordnung gerückt wird. Nationale und europäische Schuldenaudits, die auf die Illegitimität des Schuldenregimes zielen, vor allem aber ein partizipativer, diagonal verknüpfter, verfassungsgebender Prozess von unten, der auf die existierende Konstitution der Herrschaft in Europa zielt, könnten solche Verdichtungspunkte sein, die die Mobilisierung gegen die Hauptquartiere mit ihrer grundsätzlichen Umgestaltung verbinden. Zugleich sind sie – mit Walter Benjamin – eine Art »Notbremse«, eine Unterbrechung der Kürzungsmaschine als fortlaufende Katastrophe. Ohne grundlegende Infragestellung und Schaffung neuer Institutionen bliebe auch eine Syriza-Regierung chancenlos. Die Asymmetrien der Macht in Europa sind ungeheuer. Ohne Sturz der neoliberalen Regierungen wiederum droht das Potenzial eines verfassungsgebenden Prozesses oder der Audits zu verpuffen. Ob die Machtergreifung durch eine Partei neuen Typs wie in Griechenland oder eine Frente Civico (eine ›zivilgesellschaftliche Bürgervereinigung‹, die keine Regierung anzielt), wie sie in Spanien diskutiert wird, sinnvoller wäre, bleibt offen. Nötig ist: das eine tun, das andere nicht lassen.

 

Literatur

Candeias, Mario, 2010: Passive Revolution vs. sozialistische Transformation, Berlin, www.rosalux.de/fileadmin/rls_uploads/pdfs/rls_papers/rls-paper-Candeias_2010.pd
Gramsci, Antonio, 1991–2002: Gefängnishefte, 10 Bde., hgg. v. K. Bochmann, Wolfgang Fritz Haug und Peter Jehle, Berlin-Hamburg
Grasberger, Lukas, 2012: Bewaffnet mit Würsten, in: ver.di Publik 5/2012, publik.verdi.de/2012/ausgabe-05/spezial/jugend/seiten-20-21/A0
Juberías, Luis, Edgar Manjarín, Quim Cornelles, Ayoze Alfageme und Celestino Sánchez, 2012: Zwei Jahre Mobilisierungen. Perspektiven eines demokratischen Bruchs in Spanien, in: LuXemburg 3/2012, 126–31
Porcaro, Mimmo, 2011: Linke Parteien in der fragmentierten Gesellschaft, in: LuXemburg 4/2011, 28–34
Rehmann, Jan, 2012: Occupy Wall Street – eine gramscianische Analyse, in: Das Argument 300, 54. Jg., 897–909
Wainwright, Hilary, 2012: Griechenland: Syriza weckt Hoffnungen, in: LuXemburg 3/2012, 118–25

 

Dieser Text ist eine Antwort auf Mimmo Porcaro: Occupy Lenin

Er ist in Heft 1/2013 erschienen.