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20 Jahre Völkermord in Ruanda

Von Jörn Jan Leidecker

Konsequenzen für die zivile Konfliktbearbeitung

Am 6. April 1994 wurde das Flugzeug des ruandischen Präsidenten Juvénal Habyarimana im Landeanflug auf den Flughafen Kigali von bis heute unbekannten Tätern mit einer Rakete abgeschossen. Daraufhin begannen Armeeeinheiten und Milizen aus der Bevölkerungsmehrheit der Hutu damit, Angehörige der Bevölkerungsminderheit der Tutsi sowie oppositionelle Hutus umzubringen. In den folgenden 100 Tagen wurden schätzungsweise 800 000 Menschen ermordet.

Zum 20. Jahrestag wurde vielerorts nicht nur des Genozids gedacht, sondern – so auch in der Gedenkstunde des deutschen Bundestags – die Frage nach einer »Responsibility zu Protect« (vgl. Obenland in diesem Heft) aufgeworfen – also die Frage nach Militärinterventionen in Situationen humanitärer Krisen. Diese Legitimationskette ist keinesfalls neu: Schon in den 1990er Jahren hatte die Bundeswehr den Umstand, dass deutsche Entwicklungshelfer und Botschaftspersonal von belgischen Spezialeinheiten aus Ruanda evakuiert werden mussten, als Begründung genutzt, um das Kommando Spezialkräfte (KSK) einzurichten. Mit Verweis auf den Völkermord, so scheint es, steht die militärische Eingriffsoption immer weit oben auf der Agenda denkbarer Handlungsoptionen. Zivile Alternativen, aber vor allem Mechanismen, die eine solche Eskalation von Gewalt bereits lange im Voraus verhindern könnten, geraten aus dem Blick.

Ein genauerer Blick auf Ruanda offenbart eine komplexe Ursachen- und Verantwortungskette, die den Mordkampagnen vorausging und vor deren Hintergrund der Abschuss des ruandischen Präsidentenflugzeugs wenig mehr war als ein Startsignal. Der ruandische Menschenrechtler und Friedensaktivist André Sibomana hat die ruandische Geschichte mit einer Schachpartie verglichen, bei der man die Züge zum Anfang zurückverfolgen müsse, um die heutige Lage angemessen einordnen zu können. Nicht erst ganz am Ende, sondern an zahlreichen Wegmarken hätte es Handlungsalternativen gegeben, um den Konflikt auf eine zivile Art zu entschärfen.

Vorgeschichte des Konflikts

In einer international unternommenen Anstrengung, die Ereignisse im Rückblick zu analysieren, lieferte die Joint Evaluation of Emergency Assistance to Rwanda (JEEAR) einen umfassenden Bericht, in dem auch die Rolle internationaler Akteure in der Zeit vor und während des Völkermordes untersucht wurde. Die AutorInnen betonen die Bedeutung der ruandischen Geschichte in deren Verlauf – nicht zuletzt durch Eingriffe von außen – bestehende soziale Hierarchien zu vermeintlich klar ethnisch definierten Gruppierungen wurden: Hutu und Tutsi.

Zusammenfassend benennt die JEEAR folgende wesentliche Faktoren: vorkoloniale Machtkonflikte und die Konsolidierung der Tutsi-Monarchie, die deutsche und belgische Kolonialzeit und die auch in Ruanda angewandte Strategie der indirect rule, Belgiens Politikwechsel von einer Unterstützung der Tutsi-Monarchie zu einer Unterstützung der Hutu Ende der 1950er Jahre, der hohe staatliche Organisationsgrad und die starke zentrale politische Kontrolle, die Auseinandersetzungen zwischen den verschiedenen Fraktionen der Hutus, die seit 1959 virulente Flüchtlingskrise, in deren Verlauf Zehntausende vor Verfolgungen in Nachbarstaaten flüchteten, die historische Erfahrung, dass ethnische Verfolgungen nicht bestraft werden (impunity), die ökonomische Krise der 1980er Jahre und eine Kultur der Angst.

Die Rolle Deutschlands

Die Entwicklung der ruandischen ›Ethnizitäten‹ ist ohne den kolonialen Einfluss nicht zu verstehen. Deutschland als ehemalige Kolonialmacht spielte hier eine oft unterschätzte Rolle. Die deutschen – und später auch belgischen – Kolonialherren trafen in Ruanda auf eine zentralistisch geführte Monarchie mit mehreren Hierarchien und einer hohen Bevölkerungsdichte. Dies forderte die kolonialen Akteure in mehrerer Hinsicht heraus: Zum einen mussten sie die Existenz einer solchen komplexen Organisationsform auf einem angeblich geschichtslosen Kontinent erklären, zum zweiten mussten sie Mittel und Wege finden, die Strukturen in ihre Kolonialherrschaft zu integrieren. Eine folgenschwere Erklärung, die koloniale Beamte, Offiziere und Missionare für die Existenz des Königreichs Ruanda fanden, war die sogenannte Hamiten-Theorie.

Diese besagt, dass nichts, was in Afrika an europäische Verhältnisse erinnerte, dort entstanden sein konnte, sondern hineingetragen wurde – und zwar von den ›Hamiten‹. Als Zweig der ›kaukasischen Rasse‹ seien sie mit den Angelsachsen und Germanen verwandt. Diese groteske Theorie wurde auf verschiedene afrikanische Kulturen angewandt. Auf Ruanda bezogen hieß es, bei den Tutsi handle es sich um eine mit den Europäern verwandte ›Rasse‹, die den Hutu qua Herkunft überlegen sei. Tatsächlich waren die Tutsi jedoch eine vergleichsweise kleine Bevölkerungsgruppe, die über eine andere soziale Gruppe politische Macht ausübte. Die Kolonisatoren leiteten eine Serie institutioneller Maßnahmen ein, um deren Sonderstellung und politisch sowie soziale Dominanz zu wahren. Dies hatte für die Entwicklung vermeintlicher Ethnizität in Ruanda schwere Konsequenzen.

Einen nachhaltigen Beitrag zur weiteren Zentralisation politischer Macht lieferten die deutschen Schutztruppen, als sie 1910 den ruandischen Herrscher bei der Unterwerfung der im Norden liegenden unabhängigen Gebiete unterstützten. Die dort lebenden Hutus vertraten in der Folge eine deutlich radikalere Position gegenüber den Tutsi. Dieser politische Unterschied zu den Hutus im Süden des Landes behielt seine Relevanz bis 1994, als es vor allem Hutu-Eliten im Norden waren, die den Genozid planten und durchführten, während der Süden zu Beginn noch nicht von den Mordkampagnen erfasst wurde.

Belgien übernimmt

Nachdem belgische Truppen das Land während des Ersten Weltkrieges besetzt hatten, setzten deren Kolonialherren die von Deutschland begonnene Politik fort. Mit der Einführung von Personalausweisen legten sie teils willkürlich fest, wer als Hutu (etwa 85 Prozent der Bevölkerung) und wer als Tutsi gelten sollte. Durch die Konzentration der politischen und wirtschaftlichen Macht in den Händen der Tutsi-Elite wurde der antikoloniale Widerstand in Ruanda auch zu einer Auseinandersetzung zwischen Hutu und Tutsi. 1959 wurden Hunderte Tutsi ermordet, 10000 flohen ins benachbarte Uganda. Die Unabhängigkeit war gleichbedeutend mit der Machtübernahme der Hutu und dem Ausschluss der Tutsi von politischer Macht in Ruanda. In den folgenden Jahren kam es regelmäßig zu gewalttätigen Ausschreitungen gegen Tutsis und zu einem stetig ansteigenden Strom von Flüchtlingen in die umliegenden Staaten. Ein Teil dieser Flüchtlinge organisierte sich paramilitärisch und griff nach der Unabhängigkeit des Landes 1962 immer wieder von Uganda aus an. Die Gruppen bezeichneten sich selbstironisch als Inyenzi (Kinyawaranda für Kakerlaken), um darauf zu verweisen, dass sie jederzeit überall auftauchen konnten. Diese Selbstbezeichnung wurde von den radikalen Hutus dann in einen Begriff zur sprachlichen Deklassierung der Tutsi gewendet.

Nach einem Angriff im Dezember 1963 kam es zu einer Welle von tödlichen Angriffen, die sich gegen die im Land verbliebenen Tutsis richteten. Die genaue Zahl der Opfer ist in der historischen Forschung umstritten. Neuere nach dem Völkermord getroffene Schätzungen gehen von 10000 bis 20000 Toten aus, davon 5000 bis 8000 in der Prä- fektur Gikongoro – also bis zu 20 Prozent der gesamten Tutsi-Bevölkerung in dieser Region. Diese Pogrome waren zentral organisiert und wurden von staatlichen Verantwortungsträ- gern geleitet. 1964 hatten 336000 Ruander das Land verlassen.

Nach der Unabhängigkeit

In diesem Kontext aus Gewalt, Flucht und Vertreibung nahm die Bundesrepublik Beziehungen zu Ruanda auf. Ruanda positionierte sich in der Zeit des Kalten Krieges als prowestliches katholisches Land und entwickelte sich zu einer klassischen EinParteien-Diktatur der Hutu-Partei Parmehutu. Für die Bundesrepublik war es kein zentrales Land, aber ein besonderes: Es galt von Anfang an als Musterschüler unter den Entwicklungsländern. Zwar flossen nach Ruanda nur zwei Prozent der deutschen Entwicklungshilfegelder für Afrika, doch war die Bundesrepublik nach Belgien das zweitgrößte Geberland. In den 1980er Jahren wurde Ruanda Partnerland von Rheinland-Pfalz. Die Konrad-Adenauer-Stiftung betrieb seit den 1960er Jahren ein Ausbildungszentrum für die Kader der Staatspartei – bis 1994.

Ein für die Bundesrepublik strategisch wichtiger Aspekt der deutsch-ruandischen Beziehungen bestand darin, dass die Deutsche Welle in Kigali ihre Relaisstation für die südliche Hemisphäre betrieb. Als Nebenprodukt des Sendebetriebes entstand Radio Rwanda als erstes ruandisches Radio und zentrales Kommunikations- und Mobilisierungsinstrument des neuen Regimes. Auch war die Deutsche Welle ein nicht unwichtiger Wirtschaftsfaktor – sie konsumierte über 20 Prozent des im Land produzierten Stroms.

Der Konflikt zwischen Hutu und Tutsi wurde in all den Kooperationen ausgeblendet, unterschätzt oder rassistisch in die Kategorie traditionelle afrikanische Stammesauseinandersetzungen verbannt. Obwohl seit 1962 im Land, übernahm die deutsche Botschaft bei allen Gewaltmaßnahmen immer wieder die Position des Regimes. Warnende Einschätzungen von EntwicklungshelferInnen oder JournalistInnen wurden in der Regel ignoriert. Dies führte immer wieder zu Fehleinschätzungen: »Stammesgegensätze bedrohen die Einheit Ruandas nicht.« So beginnt der zweite Halbjahresbericht des deutschen Botschafter Fröwis im Jahr 1972. In Ruanda herrsche, so Fröwis, eine »vorbildliche politische Stabilität«. Auch sei die Gesellschaftsstruktur gesund; was den Ruandern fehle, sei allerdings »Initiative, Tatkraft und unternehmerische Fähigkeiten«. In den folgenden sechs Monaten zettelte die ruandische Regierung eine Kampagne gegen die Tutsis an, an deren Ende ein Putsch des Militärs stand, der aber nur eine scheinbare Befriedung brachte. Die systematische Ausgrenzung setzte sich fort.

Lehren?

Für Friedenspolitik liegt eine Konsequenz aus den Erfahrungen in Ruanda darin, ethnisch-soziale Konflikte, die das Potenzial für gewalttätige Eskalationen haben, frühzeitig zu identifizieren. Obwohl alle notwendigen Informationen vorhanden waren, wurden sie nie unter der Fragestellung interpretiert, ob die Propaganda zur Auslöschung der Tutsi womöglich in reale Politik umgesetzt werden würde. Diese Form der Verdrängung und die dauernde Relativierung der Konflikte haben eine aktive Prävention in den letzten Jahren vor dem Völkermord verhindert.

Andere Faktoren haben die Konstellation in Ruanda noch verschärft. Das Ende des Weltkaffeepreisabkommens, das eine Liberalisierung der Preispolitik bedeutete, zerstörte die ökonomische Grundlage der ruandischen Landwirtschaft genau zu dem Zeitpunkt, als die Bevölkerungszahl einen kritischen Punkt erreichte. In einem Land ohne Primogenitur reichte die unter den männlichen Nachkommen geteilte Hoffläche ökonomisch nicht mehr aus, um eine Familie zu gründen. Dies schuf Zehntausende unzufriedene junge Männer. Eine linke Kritik von Handelspolitik sollte daher auch thematisieren, inwieweit die Zerstörung von wirtschaftlichen Grundlagen Gewaltsysteme begünstigt.

Nachdem 1990 von Tutsi dominierte bewaffnete Einheiten von Exil-Ruandern – die Ruandische Patriotische Front (RPF) – versuchten, ins Land einzumarschieren, und es zu militärischen Auseinandersetzungen kam die das Hutu-Regime nur mit französischer Unterstützung beilegen konnte, begann eine scheinbare politische Liberalisierung. Ruanda wurde ein Mehr-Parteien-Staat, mit einer formal garantierten Meinungsfreiheit und freien Medien. Die Entwicklung hatte jedoch ein Janusgesicht: Auf der einen Seite bildeten sich mehrere politische Parteien, und mit Agathe Uwilingiyimana wurde erstmals in einem afrikanischen Land eine Frau zur Regierungschefin gewählt. Andererseits bildeten sich sogenannte Power-Fraktionen, die eine Machtteilung mit den Tutsi und den Vertretern der RPF ablehnten und stattdessen deren Auslöschung durch die Bildung von Milizen, den Interahamwe, vorbereiteten. Es gründeten sich viele neue Zeitungen, doch Magazine wie Kangura und der erfolgreiche Radiosender RTLM verbanden ihren kommerziellen Erfolg mit der Verbreitung von Hassbotschaften gegen Tutsi.

Hier ergibt sich eine weitere Konsequenz: Eine Begleitung der Inhalte der Demokratisierung wäre genauso wichtig gewesen wie die der Form. Unter dem Deckmantel demokratischer Verhältnisse konnte die Mobilisierung zum Völkermord ihre volle Wirkung entfalten. Hier fehlen auch heute noch an vielen Orten Instrumente für ein frühzeitiges Monitoring. Die Entwicklung einer demokratischen und zivilen Medienstruktur gehört zu den Grundinstrumenten in der Krisenprävention.

Gewalt und Gewalt

Schwieriger ist es bei der Frage der Waffen und der Gewalt selbst. Der Völkermord in Ruanda wurde mit Macheten begangen, deren Kauf gefördert wurde, um den Bananenanbau zu unterstützen. Eine grausame Variante des dual-use. Sie zeigt, dass nicht nur klassisch Waffensysteme, sondern auch andere Gewaltformen berücksichtigt werden müssen – dazu gehört auch Gewalt gegen Frauen (vgl. Saroor in diesem Heft). Der internationale Strafgerichtshof für Ruanda hat die extreme Gewalt gegen Frauen zu einem eigenen Straftatbestand in der Genoziddefinition erhoben. Die Ministerpräsidentin wurde als eine der ersten Frauen gleich Anfang April 1994 ermordet. Häufig richten sich Massenverbrechen zunächst gegen Frauen – von der Propaganda gegen kommunistische Frauen über die nationale Rechte zu Zeiten der Freikorps über Ruanda bis zum IS: Frauen werden zum Objekt männlicher Macht- und Gewaltfantasien, werden vergewaltigt und ermordet. Im Sinne ziviler Konfliktbearbeitung gilt es daher, in regionalen Kontexten Gruppen und Positionen zu stärken, die sich solchen dysfunktionalen Männlichkeitskonstruktionen widersetzen. Aus Ruanda lernen heißt, der Konfliktprävention eine starke feministische Orientierung zu geben.

Natürlich stellt sich am Beispiel Ruandas auch die Frage der militärischen Intervention. Viel interessanter als der Umstand, dass die Bundeswehr die vielen europäischen Experten samt ihrer Familien nicht evakuieren konnte, ist zu überlegen, warum diese überhaupt noch im Land waren. Welche Mechanismen braucht es, damit frühzeitige Warnungen, die es zwischen 1990 und 1994 durchaus gegeben hat, ernst genommen werden? In dieser Zeit fand ein von der UN und regionalen Akteuren wie Tansania moderierter Friedensprozess statt, der eine bewaffnete UN-Mission in Ruanda vorsah. UNAMIR war 1994 im Land und hatte ein klares Mandat, ethnische Gewalt zu unterbinden. Der Genozid in Ruanda fand also in Begleitung einer UN-Mission statt, die mit Waffen und einem Mandat des UN-Sicherheitsrates ausgestattet war, also mit allem, was sich Befürworter von militärischen Interventionen in der Regel wünschen. Trotzdem hat sie nichts unternommen, um das Morden zu unterbinden. Der UN-Sicherheitsrat war im Gegenteil lange Zeit bemüht, die Verwendung des Worts Genozid zu vermeiden. Stattdessen wurde von jahrhundertealter Stammesgewalt gesprochen. Solange lediglich Afrikaner Afrikaner umbrachten, schien es keinen Anlass zu geben einzugreifen. Dabei hätte Frankreich, von dem die ruandische Führung abhängig war, viel früher Mittel und Wege finden können, die Eskalation hin zu einem Völkermord zu verhindern. Ruanda ist insofern kein eindeutiges Szenario für eine militärische Intervention, als die gleichen Interessengegensätze und Fehlanalysen, die eine zivile Konfliktprävention verhindert haben, auch eine militärische verhindern konnten.

Die Gewalt in Ruanda wurde auch deshalb nicht ernst genommen, weil sie in einem entfernten afrikanischen Land stattfand. Linke Außenpolitik muss daher auch die bestehenden Relevanzkonstruktionen in der Wahrnehmung von regionalen und lokalen Konflikten durchbrechen und frühzeitig zivile Mittel zu deren ökonomischer, sozialer und kultureller Entschärfung bereitstellen. Durch solch präventives Handeln würde man auch der Erinnerung an den Genozid gerecht.