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1989 war ich Underground

Von Enno Stahl

1989 war ich Underground. Und das war gut so. Denn wir wollten ums Verrecken nicht so sein wie die anderen – die Bölls, Grass‘, Walsers. Wenn man Trash und Indierock hört, kann man Wasserglaslesungen mit Blumenbouquet weniger goutieren. Literatur und die dazugehörigen Lesungen sollten Punk sein, was natürlich schwierig ist bis unmöglich. Literatur ist ein weit weniger aufreibendes Medium als harte Gitarrenmusik, besonders körperlich – wenngleich sie hier und da schon für rauschhafte Erfahrungen zuständig sein kann, aber die geschehen bekanntlich mehr im Kopf. Wir versuchten jedoch alles, um dem eigenen Anspruch gerecht zu werden, veranstalteten ab 1986 einige multimediale Literaturevents, bei denen die Genres eher munter denn gekonnt gemixt wurden. Ich selbst begleitete meine erste Lesung eines Textes, der den vielsagenden Titel SPEED trug, mit den knochenbrecherischen Sounds von Nick Caves erster australischer Band „Birthday Party“ und – als sei das noch nicht genug Ohrengraus – dem Rauschen eine Kurzwellenempfängers, abgeguckt von Holger Czukay. Verstehen konnte keiner was, aber das war egal. Hauptsache Punk.

Wir, das war der Kreis um die Literaturzeitschrift ZeilenSprung, die ich u.a. mit Dietmar Pokoyski herausgab. Daraus entwickelte sich der KRASH Verlag, der Name war Programm. Sinnvolle Formen nahm das eigentlich erst an, als wir in Kontakt zu dem bekannten FLUXUS-Künstler und Bonvivant Al Hansen und seiner Ultimate Akademie kamen. Hier liefen auf einmal alle frei flottierenden Bestrebungen zusammen, die Performance-Experimente trafen auf den richtigen Nährboden. Es entwickelte sich eine enge Zusammenarbeit zwischen Ultimate Akademie und KRASH Verlag. Nach der Verlagsgründung im Dezember 1988 waren das zunächst zwei „Bad-Language-Shows“ im Juni und Oktober 1989; während bei der ersten noch Marcel Beyer und Norbert Hummelt mitbeteiligt waren, die Anfang der 90er-Jahre als Duo mit Lyrik-Raps auftraten, waren bei der zweiten „Bad-Language-Show“ außer den KRASH-Aktivisten ausschließ­lich bildende Künstler und Performer beteiligt. Das Jahr 1989 war demgemäß mit rasanten Entwicklungen für unsere Gruppe verbunden, speziell aber für mich. Schon vorher hatte ich meinen Ruf in der (nicht nur) Kölner Literaturszene einigermaßen ruiniert, jetzt sorgte ich dafür, noch das letzte Quäntchen an wohlmeinender Neugier auf den Nachwuchs zu zerstören. Das muss in dem Alter halt sein, weil Punk. Die Krux war nur, wie bei allen jugendlichen Stürmern und Drängern, die etwas Neues, etwas ganz Anderes wollen, dass ich natürlich gleichzeitig dafür geliebt werden wollte, dass ich den Betrieb vor den Kopf stieß. Das funktioniert selbstverständlich nicht – ich hatte mir zwar eine gehörige Portion Berüchtigtheit erarbeitet, manchmal schrieb auch die Presse (Gesellschafts- oder lokale Kulturteile), aber die großen Feuilletons straften uns mit eisiger Nicht-Achtung. Dass sie gleichwohl die Aktivitäten  des Prenzlauer Berg-Untergrunds seit Jahren ausgiebiger Berichterstattung würdigten, wurmte uns sehr. Hier konnten wir über Sascha Anderson lesen, den intellektuellen Impresario, das aufstrebende Lyrikgenie Bert Papenfuß, Schedlinskis Ariadnefabrik, das Druckhaus Galrev, das dann im nächsten Jahr (1990) gegründet wurde. Was sie machten, schön und gut. Aber wieso interessierten sich die Medien nur für den Untergrund im Osten, nicht für uns? Verstanden wir nicht.

Dann kam die Wende, denkwürdige Nacht: Mein Freund Earnie und ich erfuhren im Kölner Szene-Club Blue Shell davon – die Tresenbedienung erzählte uns, dass just in diesem Moment die Mauer gefallen wäre.

„Oh Gott! Dann kommen die ja alle hier rüber!“ entfuhr es uns unwillkürlich, was die Thekenfrau ziemlich ungnädig aufnahm, ab jetzt mochte sie uns nicht mehr. Wir waren jedoch fest davon überzeugt, die Ostler seien völlig anders als wir, konträr sozialisiert, das passe niemals zusammen. Mitte 1990, noch vor der Währungsunion schaute ich mir die Sache in Berlin selbst an. Wie frei das plötzlich war, dass man einfach so von West nach Ost und wieder zurück wechseln konnte, das war super. Mir schwante, dass der vormalige Status Quo, den ich (meine Eltern stammen aus Ost-Berlin) von kleinauf kannte und an den ich gewöhnt war von zahlreichen Reisen in die geteilte Stadt, auch zu Verwandtenbesuchen auf die andere Seite der Mauer, mir schwante, dass dies nicht wirklich der Normalzustand gewesen sein konnte, sondern eher jetzt das hier … Noch frappierender die Begegnung mit der halblegalen Clubszene in Ost-Berlin – die sahen genauso aus wie wir, die redeten genauso wie wir, denselben Szenejargon undsoweiter, mit schien nun, das passe vielleicht doch ganz gut (heute bin ich da wieder weniger sicher, zumindest was Ostdeutschland in der Fläche angeht …).

Wenig später riss mich ein Anruf aus meinen Träumen, früh morgens, also gegen 12 Uhr mittags, so war damals mein Rhythmus, am Telefon war – Bert Papenfuß. DER Bert Papenfuß. Der berühmte Prenzlauer-Berg-Dichter, über den ich schon so viel gelesen hatte, auch kannte und schätzte ich seine erste westdeutsche Veröffentlichung “harm“, die 1985 in Norbert Tefelskis Verlag KULTuhr erschienen war. Papenfuß meinte, er habe Trash-Stories von mir gelesen, und fragte, ob ich nicht so was hätte für eine Wochenzeitung namens „die andere“. Von der hatte ich noch nie gehört (es handelte sich um die erste freie überregionale Zeitung der DDR mit fünf-, teilweise sechsstelliger Auflage). Ich war geschmeichelt und sagte natürlich zu.

Meine Sachen wurden wohl auch gedruckt, ich bekam sie allerdings nie zu sehen. Persönlich traf ich Papenfuß dann im Kontext der Buchmesse, sie hatten eine Lesung im Hessischen Literaturbüro, wo ich auch Durs Grünbein und Sascha Anderson kennenlernte. Letzterer meinte, er habe noch Ausgaben „der anderen“ im Auto, erbat sich diese zu holen, doch die Nummer mit meinen Texten sei nicht dabei gewesen.

Später verstetigte sich der Kontakt mit den Protagonisten des Prenzlauer-Berg-Untergrunds: Man kann sagen, dass hier zusammenwuchs, was zusammengehörte. Papenfuß, der Kreis später um die Zeitschrift Sklaven, Annett Gröschner, und unabhängig davon Peter Wawerzinek. Der brachte mich einst, als wir eine Lesung von ihm in Köln-Ehrenfeld begossen, auf eine Sache, die mir auch aufgefallen war: Nach der Wende verschwand der Prenzlauer-Berg-Untergrund aus den westdeutschen Feuilletons, sie waren nicht mehr gefragt, die DDR war Geschichte, der Mohr hatte seine Schuldigkeit getan. Wawerzinek sprach davon, dass sie die Leute regelrecht fallen gelassen hätten, was manche in echten Depressionen gestürzt habe. Ich verstand, dass der ganze mediale Rückenwind letztlich politisch-motivierte Tünche gewesen war, um das System zu schwächen.

Komischer Weise begannen nun wir, der westdeutsche Untergrund, auf einmal für die Medien interessant zu werden. Immer mal wieder brachten Radio- und TV-Sender, auch überregionale Zeitungen bis hin zum „Spiegel“ Beiträge über uns (das Hochfeuilleton nicht, immer noch nicht). Was der Grund dafür war? Keine Ahnung, jedenfalls kein politischer, vermutlich mehr generelles Interesse an Spoken Word und Slam-Poetry (wir hatten 1993 im Kölner Rhenania den ersten Slam auf deutschem Boden ausgerichtet). Wie dem auch sei: Die frontenüberschreitenden Beziehungen blieben erhalten, mit manchen mehr, mit manchen weniger. Dafür kamen viele andere Ostdeutsche in unseren Radius, wurden Freunde – auch im Rheinland hegt man keine Vorbehalte mehr, wenn das Gegenüber aus Sachsen stammt oder Mecklenburg-Vorpommern, nicht gegen Einzelne, die man kennt oder kennenlernt. Die ostdeutschen Länder selbst mit ihren 25%-Anteilen von AfD-Wählern besucht man heute  wieder verstärkt mit einem mulmigen Gefühl, jedenfalls wenn es einen, außerhalb größerer Städte, in die Provinz verschlägt.

Rechte Gewalt tritt auch in Westdeutschland auf, aber nicht flächendeckend. Sogenannte „national-befreite Zonen“ gibt es in NRW eher nicht, wenn man von Dortmund-Dorstfeld absieht. Die bedrängende Atmosphäre, den Angstdruck, unter dem man in den ostdeutschen Ländern während der Endachtziger, Anfangneunziger Jahren aufwuchs, hat Manja Präkels ebenso eindringlich wie bedrängend in ihrem Buch „Als ich mit Hitler Schnapskirschen aß“ beschrieben. Von diesen Zeiten an hätte die Politik erkennen müssen, was sich im Osten zusammenbraut – 184 Menschen, die seitdem totgeschlagen wurden, was gab es daran zu übersehen? Ist es jetzt schon zu spät? Kann man da noch was machen? Ich hoffe es, ich hoffe es sehr.