| Das Patriarchat ist nicht in Quarantäne

Juni 2020  Druckansicht
Gespräch mit Francisca Fernández Droguett über feministische Politik in Zeiten der Pandemie

Ihr habt bereits im März mit dem Einsetzen der Ausgangssperre in Chile einen feministischen Notfallplan entwickelt. Inwiefern richten sich die Forderungen an den Staat und inwiefern geht es dabei um Selbstorganisierung?

Chile ist weiterhin das Wahrzeichen des Neoliberalismus in Lateinamerika. Und Neoliberalismus bedeutet nicht nur eine Politik der Privatisierung, sondern auch der radikalen Individualisierung von Verantwortung. So bestehen auch die staatlichen Reaktionen auf die Pandemie vor allem darin, an die Individuen und deren „rational choice“ zu appellieren. Ein Beispiel: Auch wenn unbestritten ist, dass es derzeit in Chile zu mehr sogenannter innerfamiliärer Gewalt kommt und zu einer enormen Überlastung der Arbeitskraft von Frauen, wird den Frauen nur gesagt: „Organisiert Euch doch einfach besser untereinander“. Und den Männern: „Zeigt mehr Verständnis für die Belastung der Frauen“. So einfach machen sie es sich. Geradezu grotesk ist auch das aktuelle Beschäftigungsschutzgesetz (Ley de Protección del Empleo), das die Regierung verabschiedet hat, um Arbeitsplätze zu sichern. Die Subventionen gehen aber nicht an die Beschäftigten, sondern an die Unternehmen. Diese haben zudem das Recht zugesprochen bekommen, Leute fristlos zu entlassen oder Arbeitsverträge ohne Entschädigung oder Lohnfortzahlung zu suspendieren, bis die Pandemie vorbei ist. Das ist der neoliberale Horror in all seinen Dimensionen.

Warum sprichst Du von einer „sogenannten“ innerfamiliärer Gewalt? Und für welche Politik gegen Gewaltverhältnisse in Zeiten der Ausgangssperre setzt Ihr Euch ein?

Kurz vorweg: Unser Notfallplan behandelt mehrere Problemlagen, nicht nur die Frage der Gewalt. Wir sehen es als großen Erfolg an, dass dieser Notfallplan nicht nur unter Feministinnen verbreitet wurde, sondern dass ihn etwa auch Gewerkschaftsorganisationen und Studierende übernommen und weiterverbreitet haben.

In der 8.-März-Koordination (CF8M) sprechen wir von patriarchaler, nicht von innerfamiliärer Gewalt, um die strukturelle Verankerung dieser Gewalt deutlich zu machen. Die Ausgangssperre reaktiviert und verschärft ja die historischen Bedingungen dieser Gewalt, nämlich die Situation, mit Deinem Aggressor zusammen eingesperrt zu sein. Außerdem fassen wir als patriarchale Gewalt nicht nur die Gewalt gegen Frauen, sondern auch die Gewalt von Erwachsenen gegen Kinder, die Gewalt gegen alte Menschen und auch gegen queere und Transpersonen. Für sie heißt die Ausgangssperre, in Familien eingesperrt zu sein, die ihnen eine dissidente sexuelle Orientierung oder Geschlechtsidentität immer schon verweigert haben.

Aber wir möchten über die körperlichen und psychischen Dimensionen hinaus auch auf die ökonomische Dimension der Gewalt aufmerksam machen. Sie betrifft alle, die nun zu wenig oder gar kein Einkommen mehr haben und von einem Familienernährer abhängig sind. Und sie bringt diejenigen in eine totale Isolation, die sich Handy- oder Internetgebühren nicht leisten können und keinen Zugang mehr zu Kommunikation haben. Um gegen diese Isolation vorzugehen, machen wir im Notfallplan zum einen auf die leider sehr prekäre und kaum vorhandene öffentliche Infrastruktur der Frauenhäuser und Notfalltelefone aufmerksam. Vor allem aber fordern wir alle dazu auf, sich im Stadtviertel oder in der Nachbarschaft zu organisieren. Tatsächlich setzen wir in diesen prekären Zeiten der Pandemie auf etwas ganz Grundlegendes, das wir territoriale Organisierung nennen: die gegenseitige nachbarschaftliche Unterstützung. So haben sich zum Beispiel in Lo Hermida, einem ärmeren Stadtviertel von Santiago die Nachbarinnen in den einzelnen Häuserblocks organisiert – und zwar mit Pfeifen. Wenn eine Person eine Situation der Gewalt erlebt oder beobachtet, pfeift sie, damit die andern das hören und sie unterstützen. Dort sind viele Häuser im Übrigen so schlecht gebaut, dass alle immer hören, was nebenan passiert. In anderen Stadtteilen haben Genossinnen ein System der regelmäßigen Hausbesuche organisiert – und wieder andere haben sich in Whatsapp-Gruppen organisiert, um sich in Gewaltsituationen schnell helfen zu können. Denn in Chile ist es so wie in vielen Ländern: Wenn Du zur Polizei gehst, um Anzeige zu erstatten, sagen Sie Dir meist nur: Lösen Sie das Problem doch unter sich. Abgesehen davon ist es derzeit bei der Polizei im Unterscheid zu anderen Behörden nicht möglich, online Anzeige zu erstatten. Eine Freundin von mir musste sich neulich der Gefahr der Ansteckung mit dem Virus aussetzen, weil sie für eine Anzeige zur Polizeistation musste.

Du setzt Dich in dem sozialökologischen Komitee der 8. März-Koordination, einem Bündnis verschiedener feministischer Gruppen in ganz Chile, für einen antikapitalistischen, anti-extraktivistischen und antirassistischen Feminismus ein. Was heißt das allgemein für Euren politischen Alltag, vor welchen Herausforderungen steht Ihr?

Sicherlich gibt es in Chile noch immer sehr unterschiedliche Vorstellungen von feministischer Politik. Gerade gab es eine erfolgreiche feministische Kampagne gegen unsere Frauenministerin, Macarena Santelices, die inzwischen zurückgetreten ist. Sie ist die Großnichte von Ex-Diktator Pinochet und bekannt für rassistische Aussprüche gegen die haitianische Community sowie für äußerst sexistisches und frauenverachtendes Musikfernsehen im Privatsender Megavisión. Der Slogan der Kampagne war: „Wir haben keine Ministerin!“ Wir von der Koordination haben das kritisiert, weil wir sagen: In einem Staat wie Chile wollen wir überhaupt keine Frauenministerin  haben. Ein weiteres Konfliktfeld ist, dass der konventionelle Feminismus in Chile rassistische Verhältnisse immer noch kaum sichtbar macht und eher wie ein unwichtigeres Spezialthema behandelt. Für mich, auch als sozioökologisch engagierte Feministin ist das aber ein grundsätzliches Merkmal unserer Gesellschaftsstruktur, nicht zuletzt wegen der zunehmend rassistischen Dimensionen der Arbeitsbedingungen im Agrobusiness. Viele der Saisonarbeiterinnen in der Landwirtschaft sind heute Migrantinnen und arbeiten unter absolut prekären Bedingungen. Für sie organisieren wir Unterstützungsnetzwerke. Meines Erachtens ist es heute die große feministische Herausforderung, dem Rassismus auch im Rahmen des Migrationsregimes entgegenzutreten und zu verstehen, wie der Extraktivismus [1]rassifiziert ist. Denn hier geht auch in Zeiten der Pandemie alles so weiter wie bisher. Eine haitianische Genossin sagte mir neulich: „Der Extraktivismus ist nicht in Quarantäne“ – er macht keine Pause. In meinem Komitee für einen sozialökologischen Feminismus beziehen wir uns stark auf den kommunitären Feminismus und auf die Forderung der Dekolonialisierung des Feminismus. Erfahrungen der Unterdrückung sind eben nicht für alle Frauen gleich, sondern treffen Mapuche, Migrantinnen, schwarze Frauen oder queere und Transpersonen ganz anders. Allgemein von einer Unterdrückung der Frau zu sprechen, macht genau diese Erfahrungen unsichtbar. Wir müssen uns deswegen auch mit der chilenischen Identität und dem chilenischen Nationalismus kritisch auseinandersetzen, da haben wir viel von den Kämpfen der Mapuche gelernt. Im Moment kämpfen gerade Afromigrantinnen zum Beispiel aus Haiti um Sichtbarkeit, deren Situation nochmal eine andere ist als die der Afrochileninnen. Diese Vielfalt der Kämpfe und der Feminismen hat sich auch in der Auswahl der Sprecherinnen gezeigt, die unsere Koordination für die letzte 8. März-Demonstration ausgewählt hat. Dort sprach eine Genossin, die als Hausangestellte arbeitet, eine Migrantin, eine Frau mit „anderen Fähigkeiten“, die als behindert diskriminiert wird –  und auch eine Sexarbeiterin. Letzteres wurde übrigens stark von den abolitionistischen Feministinnen kritisiert. Aber die Frauen in dem zuständigen „Komitee für Arbeit und Gewerkschaften“ haben gesagt: Egal wie Ihr darüber denkt –  auch die Sexarbeiterinnen müssen hier repräsentiert sein. Im Alltag ist es nicht einfach, alle Dimensionen des Feminismus sichtbar zu machen. Aber es ist für uns zentral, den Feminismus auszuweiten und im Austausch mit anderen sozialen Bewegungen voranzubringen.

Du sprichst davon, dass eine Hausarbeiterin Sprecherin auf dem 8 März war. Wie ist ihre aktuelle Lage in Zeiten der Pandemie?

Das ist ein wichtiges Thema. Das Netzwerk der Hausangestellten beteiligt sich auch an der 8.März-Koordination, auch wenn es anfangs gar nicht einfach war, ihre Teilnahme zu organisieren. Ihre Lebenssituation macht es sehr schwierig, sich in dieser Form zu engagieren. Die Nana, wie die Arbeiterinnen in Privathaushalten in Chile immer noch genannt werden, ist eine historische Figur, die für die Kontinuität eines absolut naturalisierten Systems der Sklaverei steht. Darauf greift nicht nur die Elite, sondern auch die sogenannte Mittelklasse weiter zurück. Am Anfang der Pandemie haben wir die schwierige Situation der Hausarbeiterinnen als 8.März-Koordination öffentlich thematisiert, und zwar als Frage einer feminisierten Gesundheitskrise. Schließlich ist es diese Gruppe, die –  neben den mehrheitlich weiblichen Beschäftigten im Gesundheitssystems –  am meisten von Ansteckung gefährdet war. Sie haben weiter in den Haushalten gearbeitet und öffentliche Verkehrsmittel benutzt, um zur Arbeit zu kommen. Zudem sind die Hausarbeiterinnen inzwischen in ihrer Mehrzahl Migrantinnen und viele von ihnen arbeiten „puertas cerradas“, wohnen also in den Haushalten, in denen sie arbeiten. Diese Frauen haben gar keinen Rückzugsort, um sich vor Ansteckung zu schützen. Die Hausarbeiterinnenorganisationen haben sich deswegen für die Einrichtung von Notunterkünften eingesetzt und sind dafür von der Secretaria de las Mujeres Inmigrantes unterstützt worden, eine neue Basisorganisation, mit der wir auch zusammenarbeiten.

Hier interpretieren es viele als enormen Rückschritt, dass gerade Frauen in Zeiten der Pandemie noch mehr als sonst mit Sorgearbeit überlastet werden. Wie diskutiert Ihr das in Chile?

In Prinzip verschärft die Situation der Pandemie ja Problemlagen, die es schon vorher gab. Mir persönlich geht es so, dass ich schon immer als alleinerziehende Mutter alles allein machen musste. Aber jetzt muss ich gleichzeitig zum Onlineunterreicht an der Uni auch noch meine Kinder zuhause unterrichten, und mich unter erschwerten digitalen Bedingungen als Umweltaktivistin dafür einsetzen, dass der Widerstand am Laufen bleibt. Und ich organisiere auch noch Nachbarschaftshilfe und setze mich angesichts der steigenden Lebensmittelpreise dafür ein, dass wir uns als Konsumkooperative organisieren und lokale, nachhaltig produzierte Lebensmittel zusammen einkaufen. Das Thema Homeoffice ist aber kein großes Diskussionsthema aktuell, denn Leute wie ich sind ja dennoch in einer privilegierten Position, schließlich verlieren gerade viele ganz ihre Existenzgrundlage. Dennoch zeigt sich im Homeoffice, wie einmal mehr Sorgearbeit naturalisiert wird. Es wird ganz selbstverständlich von uns erwartet, dass diese Arbeit funktioniert und wie selbstverständlich nebenherläuft. Wichtig ist in diesen Zeiten auf jeden Fall die Selbstsorge. In unseren Netzwerken achten wir darauf, dass wir nicht zu viel Online-Arbeit machen, sondern eine gute Arbeitsteilung etablieren. Und wir unterstützen uns finanziell in einem Freund*innen-Netzwerk: Diejenigen, die noch Arbeit haben so wie ich, geben einen Anteil ihres Lohns für die ab, die gerade ihre Arbeit verloren haben.

Es ist ein Dilemma, dass wir mit ehrenamtlicher Unterstützungsarbeit dem Staat auch soziale Verantwortung abnehmen und unter Umständen sogar zu einer Neoliberalisierung von Sozialpolitik beitragen. Du hast ja gerade eine enorme Arbeitsbelastung in der Selbstorganisierung angesprochen. Wie diskutiert Ihr das?

Das ist zwar eine globale politische Frage, aber in Chile gibt es dennoch eine Besonderheit: Wenn wir uns mit argentinischen oder brasilianischen Genossinnen treffen, sagen die oft: „Ihr aus Chile seid die anarchistischsten aller Anarchist*innen!“ Das hat aber weniger mit einer starken libertären Strömung in Chile zu tun – auch wenn ich mich dem persönlich durchaus zuordne. Ich denke, es sind eher unsere Erfahrungen mit einem strukturell zutiefst neoliberalen Staat in Chile, aufgrund derer wir viel weniger staatsorientiert sind als soziale Bewegungen in anderen Ländern. Unsere letzte Erinnerung an einen Wohlfahrtsstaat, dem der Unidad Popular unter Salvador Allende, ist nach über 40 Jahren verblasst. Seitdem haben wir erfahren, dass wir vom Staat keinerlei Lösungen erwarten können. Selbstverständlich ist es trotzdem notwendig, für eine öffentliche Politik zu kämpfen: Aber wir denken sie auf einer kommunitären Ebene, also auf der Ebene der kollektiven Selbstverwaltung. In der Bewegung gegen Wasserprivatisierung, in der ich aktiv bin, fordern wir zum Beispiel keine Nationalisierung des Wassers. So wie der chilenische Staat strukturiert ist, würde er auch nicht anders als ein Privatunternehmer agieren. Das heißt natürlich trotzdem, dass der Staat ein Kampffeld ist und dass wir bestimmte Gesetze und Behörden nutzen müssen, um bestimmte Ziele zu erreichen. Die Bewegung der „pobladores en lucha“, die sich für das Recht auf Stadt und würdige Wohnbedingungen einsetzt, hat das mal ganz schön zusammengefasst: „Wir kämpfen vom Staat aus, weil wir uns für eine bessere Wohnungspolitik einsetzen, mit dem Staat, weil wir staatliche Maßnahmen brauchen, um bestimmte Bauprojekte zu verhindern –  und gegen den Staat, weil wir Formen der Selbstverwaltung aufbauen wollen“.

Das Gespräch entstand während einer Online-Diskussion mit einer Seminargruppe der Goethe-Universität Frankfurt am 11.5.2020 und wurde protokolliert von Susanne Schultz.

Anmerkung

[1] Mit Extraktivismus ist ein wirtschaftliches und gesellschaftliches System gemeint, das wesentlich auf dem Export von Rohstoffen basiert – mit zerstörerischen sozialen und ökologischen Folgen: sei es im Bergbau, in der Agroindustrie oder in der Forst- und Fischwirtschaft.